ME-Hot List 2011
Neue Bands, aktuelle Trends, lange erwartete Alben:Was man im neuen Jahr unbedingt hören muss.
Immer wenn eine neue EP von James Blake veröffentlicht wird, bekommen die Freunde vorwärtsgewandter elektronischer Musik feuchte Hände und sonstige vorfreudebedingte Ausfallerscheinungen. Wenn dann im Frühjahr 2011 das erste Album des 22-jährigen Londoners veröffentlicht wird, gibt es wahrscheinlich kein Halten mehr. James Blake spielt seit seinem sechsten Lebensjahr Klavier, hat am Goldsmiths College für bildende Kunst in London Populäre Musik studiert (was es nicht alles für Studiengänge gibt) und im Sommer 2009 seine erste 12-Inch „Air & Lack Thereof“ veröffentlicht. Sein Erweckungserlebnis für elektronische Musik datiert Blake auf einen Auftritt des Dubstep-Duos Digital Mystikz. Seine eigene Musik, diese clever designten Grooves, der gecuttete Gesang, die minimalistischen Klavierakkorde und mikrodubbigen Elemente, wird dem Dubstep zugerechnet, wogegen sich der Künstler freilich verwahrt. Manche sehen in James Blake das Bindeglied zwischen Burial und The XX. ko
Girl Talk
Wie bitte, es gibt keine Rebellen im Pop mehr? Man sollte gar nicht erst anfangen, dieses Märchen zu glauben. Nicht, wenn ein Gregg Gilles sein Unwesen treibt. Unter dem Namen Girl Talk produziert der 29-Jährige aus Pittsburgh seit 2002 Mixtapes, die er über die Webadresse Illegal Art verbreitet. CDs sind ihm schnurzpiepegal. Alles läuft über Gratis-Downloads, die völlig legal sind – im Gegensatz zu dem, was Gilles aus seinem Laptop zaubert. Ohne Gewissensbisse sampelt der Mash-Up-Künstler erst alles, was er in die Finger kriegt. Danach überlegt er sich, wie er die Beutestücke sinnvoll ineinandermischen kann. Vom Prinzip her ähnelt es der Arbeitsweise von 2 Many DJs. Aber Gregg Gilles geht noch viel weiter. Mit seinem jüngsten Mixtape „All Day“ stellt er einen inoffiziellen Mash-Up-Weltrekord auf: Das Ding enthält sage und schreibe 373 Samples. Selbstverständlich hat er davon nichts juristisch abgeklopft. Wo kommen wir denn da hin? Ein Mann, der um sein Recht auf Party kämpft, lässt sich durch nichts aufhalten. tw
Tanlines
Es war nur eine Frage der Zeit: Nach der Rehabilitierung von Buttons und Karottenjeans blieb fast nur noch eins der großen Tabuthemen der Achtziger, das auf seine Coolwerdung hoffte: das britische Produzententeam Stock-Aitken-Waterman. „Klar, die Songs sind ziemlich cheesy, aber ihre durchaus originelle Produktion wurde bislang verkannt“, sagt Jesse Cohen, eine Hälfte der Brooklyner Indiepopper Tanlines. Gottlob hat die Musik des Duos aber nichts mit Jason Donovan oder Rick Astley gemeinsam. Sie klingt eher wie eine Remixplatte von Vampire Weekend. Cohen: „Unsere Musik ist sehr rhythmusbasiert. Techno findet sich genauso wieder wie Worldbeat. Unserer Faszination für Synthesizer versuchen wir Live-Instrumente entgegenzusetzen – sodass sich die Musik immer menschlich anfühlt.“ Im Dezember 2010 erschien mit Volume On bereits eine Sammlung aller bislang veröffentlichter Songs und Remixe der Band, die bereits Konzerte für Julian Casablancas, Yeasayer und Health eröffnete. 2011 soll ihr erstes vollwertiges Album erscheinen. scr
Die kommen ganz groß raus
Ganz schön viele neue Namen auf diesen Seiten. 2011 wird aber auch von alten Hasen geprägt werden.
U2 haben Stoff für vier Alben: Mit Will.I.Am, David Guetta und Gaga-Produzent RedOne nahmen sie Songs für eine Dance-Platte auf, die Stücke für ihr „Spider-Man“-Musical genügen für ein weiteres und Songs Of Ascent, der lang angekündigte Appendix zu No Line On The Horizon, wartet auch noch auf Erscheinen. Das wird er wohl auch weiterhin, zunächst soll ein von Danger Mouse produziertes Rockalbum veröffentlicht werden. Auch die geistigen Früh-Erben von U2, Coldplay, wollen 2011 neues Material herausbringen: Ein laut Chris Martin „sehr gitarrenlastiges“ Album, das von der New Yorker Graffitiszene der Siebziger und NS-Widerstandsbewegungen wie der Weißen Rose beeinflusst sein soll. Chris Martin: „Die Platte handelt davon, wie du dich in negativen Umfeldern ausdrücken kannst.“
Die Themen des neuen Albums der Beastie Boys hätten nach Mike D „Furzen und Kacken“ sein sollen. Dann erkrankte MCA an Ohrspeicheldrüsenkrebs und nun soll Hot Sauce Committee, Part Two (Part One wurde noch nicht geschrieben) – zumindest etwas – ernsthafter ausfallen. Zu den Featurings zählen Nas und Santigold. Auch Dave Grohl begrüßt Gäste: Bob Mould (ex-Hüsker-Dü) und Nirvana-Kollege Krist Novoselic halfen ihm beim neuen Album der Foo Fighters. Der wichtigste externe Beitrag für das neue Album von R.E.M. stammt von Patti Smith: Die Punkikone duettierte nicht nur mit Michael Stipe auf dem Closer der Platte, „Blue“, sie benannte sie sogar: Das teils in den Berliner Hansa-Studios eingespielte Collapse Into Now soll am 5. März erscheinen. Zu diesem Zeitpunkt wird man wohl noch nichts vom dritten Album der Winehouse gehört haben, das nach Angabe der Künstlerin „stilistisch nahe an Back To Black“ sein wird. Das neue Werk von Lady Gaga, Born This Way, hingegen wird, „schocken, schocken, schocken“, wie RedOne voraussagt. Stephan Rehm
Die Frau des Jahres heißt Siouxsie Sioux
Auffällig viele weibliche Musiker orientieren sich an der Fürstin der Finsternis aus den Achtzigerjahren.
Die Frau des Jahres 2011 wird Siouxsie Sioux heißen. Endlich, möchte man anfügen. Bewunderer hatte die Fürstin der Finsternis ja immer genügend, männliche wie weibliche. Songs wurden gecovert, Bands nach Stücken ihrer Band benannt, Frisuren imitiert. Zu nahe wollte ihr aber niemand rücken, und das obwohl Punk, Post Punk, Achtziger und Düsteres in den letzten Jahren ständig Orientierungspunkte waren. Doch das ändert sich nun, wie gesagt. Erste Vorbotin war Nika Roza Danilova alias Zola Jesus. Die Amerikanerin mit russischen Wurzeln ist zwar blond, aber das ist auch schon der einzige Unterschied. Wenn sich Zola Jesus ans Piano setzt, den Drum-Beat scheppern lässt und dazu mit der Kraft einer Operndiva singt, weiß man Bescheid. Gerade der Gesang hat Frauen bisher ja zurückschrecken lassen. Nicht jede Person ist von Mutter Natur so wie Siouxsie konditioniert worden. Anna Calvi schon. Auch ihr hört man an, dass sie in der Welt der Oper bewandert ist. Auf Calvis Debütalbum entdeckt man zudem einen klaren Hinweis, wer sie inspiriert hat: Der Song „Suzanne And I“ heißt deshalb so, weil Siouxsies richtiger Vorname Susan ist. So einfach ist das manchmal. Bei Esben And The Witch muss man auch nicht lange raten, wer die Ideengeberin ist. Sängerin Rachel Davies sieht zwar unscheinbar und fast nett aus, aber sie hat diese Stimme. In Musik und Inhalten stößt man ständig auf Morbides, Krankhaftes und Martialisches. Die Band hat für ihr Tun sogar schon die passende Vokabel gefunden: Nightmare-Pop. Nur die unangenehmen Dinge des Lebens bieten Gewähr für intensive Kunst, so die Meinung des Trios. Esben And The Witch werden Gehör finden, gerade zu Hause in Großbritannien. Dort ist seit einigen Monaten eine konservativ-liberale Regierung an der Macht, die gleich mal ein strenges Sparpaket geschnürt hat, das alle erschüttert. Studentenproteste sind das erste sichere Zeichen für unruhige Zeiten. Siouxsie wird das alles bekannt vorkommen. In ihrer Jugend herrschten ähnlich grausige Bedingungen.
Thomas Weiland
Kanye West und Jay-Z
2003 beendete Jay-Z seine Karriere, auf dem Zenit seines Schaffens und der Bühne des Madison Square Gardens. Kaum war die letzte Zugabe verhallt, entbrannte ein langwieriger, erbitterter Kampf um die Thronfolge, aus dem schließlich ein klarer Sieger hervorging: Jay-Z. Ein standesgemäßer Statthalter mochte sich partout nicht auftun, seinen Rückzug hat der King längst revidiert. Den Thron darf die Konkurrenz also allenfalls noch aus der Ferne bewundern. Watch The Throne heißt daher auch sein angekündigtes Album mit Kanye West – jenem einstigen Zögling, der Jay seinen „Big Brother“ nennt, die Krone seit Jahren auf Zack hält und im Gegenzug unbegrenzt im Palast rumhängen darf. Dort haben die beiden revolutionäres Liedgut aufgenommen, „game-changing shit“ vom Kaliber des Genreklassikers The Blueprint. Von neuen Rhythmen aus alten Drums ist die Rede, den besten Reimen, den besten Beats, den besten Gästen: Edelpop eben, im Geiste der goldenen Ära des Hip-Hop. db
Miniature Tigers
Was haben die Miniature Tigers mit den bärtigen Ausdruckstänzern, den Seilchenhüpfern, Catweazle-Imitatoren, netten Bikinimädchen und zappelnden Limonadentrinkern aus dem Video von „Bullfighter Jacket“ gemeinsam? Die New Yorker schlüpfen für ihre Songs in immer neue Rollen, auf Platte geben sie die hemmungslosen Tänzer, Hüpfer und Zappler und verlassen die Ära Animal Collective mit einer ungebrochenen Feel-Good-Music. Herrliches Akustik-Geschrammel! Beinahe-Disco-Beats! Catchy Melodien! Die Tigers spielen Abba- und Stones-Cover, sind dem schönen Schalala zugetan, wollen aber auch nicht verhehlen, dass sie waschechte Nerds sind, die sich in der Geschichte der U-Musik umtun. Nur für tiefere Forschungsarbeiten fehlt die Muße. Die Miniature Tigers stehen auch nicht zum ersten Mal auf einer Hot List, mit ihren jüngsten Songs nähern sie sich endlich dem großen Ding an, das nur noch einen Namen sucht. Hier wartet eine Jackentaschen-Pop-Band darauf, dass wir uns für perfekten Jackentaschen-Pop interessieren. fsa
Jamie Woon
Warum nicht mal ein Woonderkind zur Abwechslung? Ähnlich wie der ungezügelt bevorschusslorbeerte James Blake verkörpert auch der 27-jährige Londoner Jamie Woon klassische Troubadour-Tugenden unter den Vorzeichen britischer Bass-Kultur. Das brachte ihm bereits im Jahr 2007 Lob und einen schaurig schönen Remix von Burial ein, dem geheimnisvollen Paten jener undefinierbaren Bewegung, die da in den vergangenen Jahren von Croydon nach Shoreditch waberte. Burial war nun auch an Jamie Woons neuer Single „Night Air“ beteiligt, einer gleißenden Ode an die kühle Klarheit der Nacht. Die sorgte vergangenen Herbst besonders im House-Remix von Ramadanman für Aufregung; nun steht das dazugehörige Debütalbum bei Polydor an und die Prominenz bereits zum Abklatschen Schlange. Mary Anne Hobbs, The XX, der „Guardian“ – alles Fans. Jamie Woons Weg also weist weiterhin gen Sonne: als warmherziger Wandersmann mit Waldschwert, Klampfe, toller Kopfstimme und dem Bleifuß auf dem Echopedal. db
Das Ende des Baller-Elektro
Der Elektro-Rock will wieder zum Elektro-Pop werden.
Es ist ja nicht schlimm, wenn man mal hysterisch wird. Aber dann muss auch wieder gut sein. So wie im Elektro. Da wurde ja vom Pariser Epizentrum aus eine Weile ziemlicher Rabatz gemacht. Nichts ging ohne Kompression, Hall und Höhenaussteuerung. Der Sound musste rocken. Jetzt aber begrüßen wir eine neue Schule des Elektro, die den Pop anvisiert und sich dabei keineswegs die massentaugliche Theatralik von Hurts zum Vorbild nimmt.
Da sind zum Beispiel Holy Ghost!, die bei DFA unter Vertrag sind, aber auf die dort sonst sehr beliebten überdrehten Mätzchen verzichten. Auf ihrem Album, das für das erste Halbjahr angekündigt ist, schielen Nicholas Millhiser und Alexander Frankel auf Oliver Cheathams Partyklassiker „Get Down Saturday Night“. Sie zitieren auch New Order zwischen „Perfect Kiss“ und „True Faith“ und beweisen, dass man mit 100 bpm noch gute Funk-Tracks hinkriegen kann. Ähnliches schwebt den beiden Finninnen von Les Corps Mince De Françoise vor. Die haben mit ihren Songs „Bitch Of The Bitches“ und „Ray Ban Glasses“ zwar schon kräftig ausgeteilt, doch nun wissen sie, dass es auch mit mehr Zurückhaltung geht. Multikultureller sind sie auch geworden. Emma und Mia Kemppainen leben seit gut einem Jahr in Berlin und flirten auf ihrem Debütalbum mit den Klangwelten Indiens, Afrikas und Japans. Nur: Warum haben sie sich so einen komplizierten Namen ausgesucht? Joel Ford (von Tigercity) und Daniel Lopatin (von Oneohtrix Point Never) dagegen treiben zusammen als Games ihre Spielchen und veranstalten eine „Planet Party“ auf Basis des Grooves aus Shannons „Let The Music Play“. Und dann ist da noch das nie zu unterschätzende Exemplar Indie-Rocker-entdeckt-Magie-der-Maschinen. Hier: John O’Regan alias Diamond Rings. Vielleicht findet sich für sein Album Special Affections auch ein deutsches Label. Verdient hätte er es, denn O’Regan zeigt, wie The Bravery mit Lo-Fi-Equipment klingen. Kräftig Schminke trägt er auch. Etwas Glamour ist im Elektro-Pop schließlich nie verkehrt. Thomas Weiland
Die Briten dürfen mitspielen
The Vaccines, Clare Maguire, Katy B, Nero, Fiction – Großbritannien ist wieder wer im Pop.
Für die Briten ist ein neues Pop-Ding so wichtig wie das tägliche Bier im Pub. Im Gegensatz zu früher ist die Trefferquote auf der Insel zurzeit ziemlich gut. Diverse Hypes der letzten Jahre haben zu etwas geführt, wenn man an Adele, La Roux und Hurts denkt. Für das nächste Jahr tippen viele auf die Indie-Band The Vaccines. Die hat schon mal den Vorteil, dass sie mit Sänger Justin Young (aka Jay Jay Pistolet) und dem jüngeren Bruder von Tom von The Horrors zwei bekannte Szene-Persönlichkeiten in ihren Reihen hat. „Wreckin‘ Bar (Ra Ra Ra)“, ein Song auf ihrer ersten Single, ist nicht mal anderthalb Minuten lang. In dieser kurzen Zeit gelingt es Young und seinem Anhang aber, das schüchterne Getue von The Drums mit Sturm- und-Drang-Haltung aufzupäppeln. Beachten muss man auch, was 2011 vom weiblichen Geschlecht kommt. Hier dürfte Clare Maguire gute Karten haben. Einmal, weil ihre Stimme ähnlich kräftig wie die von Florence Welch klingt, und zum anderen deshalb, weil die 22-Jährige aus Birmingham gut vorbereitet an den Start geht: Zwei Jahre lang hat sie an ihrem Debüt gearbeitet – absolut ungewöhnlich. Frauen spielen auch bei der Fortentwicklung des Dubstep eine große Rolle. Als Katy B mit ihrer ersten Single „Katy On A Mission“ groß auftrumpfte, schlich sich plötzlich eine angenehme Art von Pop-Appeal in diese introvertierte Jungsmusik. Auf ihrem Album wird Katy von Ms. Dynamite unterstützt. Ähnlich viel Beachtung dürfte das Produzentenduo Nero mit der Sängerin Alana finden. Hier wird der von Magnetic Man bekannte Techno-Anteil betont. Und gibt es auch was für Leute, die es mehr mit Art-Rock haben? Hier kommt die Londoner Band Fiction mit ihrem von XTC und Psychedelia beeinflussten Sound ins Spiel. Deren Bassist Daniel Djan ist übrigens Deutscher. Kommt im Pop-Königreich auch nicht alle Tage vor. Thomas Weiland
Depressed Buttons
Der Bandname ist ein Witz, sagt Todd Fink, es ist die leidige Geschichte mit den Knöpfchendrückern, dass sie live einfach nicht gut aussehen. Der Bandname ist wirklich ein Witz, wenn man sich den ersten Track auf der ersten EP der drei Musiker anhört, die mit The Faint Geschichte schrieben: „Ow!“ ist ein Dancefloor-Aufheller der superben Art, Electrobeat und stichelnde Synthies, mehr braucht’s nicht. Todd Fink, Clark Baechle und Jacob Thiele spielten als The Faint die Indie-Gemeinde auf dem Dancefloor schwindlig und haben sich seitdem im Bereich digitaler Unterhaltung fortgebildet. Sie arbeiten als DJ-Team mit experimentellen Klangkombinationen und gingen mit Remixen für Boys Noize und Of Montreal ins Trainingslager. Mit den eigenen Tracks geben die drei allen schwerfällig gewordenen Indie-Rockern eine quietschende Anleitung zum Glücklichsein. Blaupause des Jahres 2011. fsa
Wolfram
Der vermehrte Einsatz von Snaps „Rhythm Is A Dancer“ in den Sets an sich vertrauenswürdiger DJs war der erste Hinweis auf die Rückkehr des Eurodance. Seit einigen Spielzeiten stand das Revival aber lediglich als unheilvolle Drohung im Raum, die nicht zu einer Bedrohung wurde. Noch nicht. Jetzt aber wird es langsam ernst, Neunzigerjahre-Eurodance kommt mit aller Macht zurück. Und zwar in der Gestalt von Wolfram, einem 25-jährigen Österreicher mit Zweitwohnsitz Manhattan. Wolfram nahm früher unter dem Namen Diskokaine Platten für das Münchener Gomma-Label auf, hat auf seinem eigenen Label (heißt auch Diskokaine) das erste Album von Neo-Disco-Queen Sally Shapiro veröffentlicht, Moby remixed und zuletzt an Blue Songs, dem aktuellen Album von Hercules And Love Affair, mitgearbeitet. Sein Debüt unter dem Namen Wolfram wird im Frühjahr bei Permanent Vacation erscheinen. Gäste: u.a. Hercules And Love Affair, Holy Ghost! und – Halleluja! – Haddaway. ko
Com Truise
Man muss über den „lustigen“ Namen mit den vertauschten Anfangsbuchstaben – das ist so sehr 2009 – hinwegsehen. Com Truise, bisher ohne Plattenvertrag, gibt mit seiner Musik einen leicht überkandidelten Kommentar zum Thema Chillwave ab, jenem Fast-Genre, das die Hochzeit seiner Ausrufung zum Next Big Thing auch schon hinter sich hat. Com Truise heißt in Wirklichkeit Seth Haley und kommt aus Princeton, New Jersey. Viel mehr ist nicht über den Wohnzimmerproduzenten bekannt, was wahrscheinlich auch so gewollt ist. Auf seiner im Netz kostenlos und legal herunterzuladenden EP „Cyanide Sisters“ vermischt Com Truise schmierige Sequencersounds und eklige Achtzigerjahre-Drums, versieht sie mit einem Hauch Balearic-Pop, „Miami Vice“-Soundtrack und Giorgio Moroder. Das ist neu, das ist gut, oder wie Com Truise auf seiner MySpace-Seite schreibt: „Melting in the Jersey summer sun, I compute mid-fi synth-wave, slow-motion funk“. ko
Sizarr
Die schicken Kinder aus Landau: Sie nennen sich Deaf Sty, P-Money und Gora Sou, heißen eigentlich Fabian, Philipp und Marc, sehen aus wie Jugendliche aus Modestrecken in Musikmagazinen oder aus Berlin-Mitte, und kommen aber eben aus der pfälzischen Provinz, nächstgelegene Stadt: Heidelberg. Im dortigen Kulturhaus Karlstorbahnhof treffen sie nach Jahren der kulturellen Isolation auf Gleichgesinnte, auf Menschen, die sich wie sie für Indiepop, Hip-Hop und Baile Funk begeistern. Schnell werden sie dort Resident-DJs, entwickeln sich dabei gar zu einem Soundsystem, das Remixe für Bands wie Mit anfertigt. Nebenbei geben die Jungs Konzerte als Sizarr, überzeugen mit ihrem von allerlei tropischen Klängen beeinflussten Indietronic sogar Danger Mouse, der die Band ins Vorprogramm seiner Broken Bells holt. Nach einem umjubelten Auftritt bei der Geheimtippschau namens on3-Festival in München nimmt die Band im Jahr 2011 die nächste Stufe und spielt beim Melt!-Festival. Ein Album soll’s auch geben, zunächst wollen die gerade mal Volljährigen die Abiturprüfung bestehen. scr
Multikulti: doch nicht gescheitert
Ethno und Worldmusic sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Authentizität wird im Pop abwechselnd begraben und aus der Versenkung geholt. Sie ist das Elixier, aus dem Karrieren gebaut und das Todesurteil, mit dem archaische Rollen-Modelle abgestraft werden. Für das, was man in den Regalen durchschnittlich sortierter Plattenläden unter dem traditionell unscharfen Logo „World/Ethno“ so findet, gilt beides auf einmal. Der Strom wohlmeinender Re-Issues von todschicken Afro-, Brasil- und Asia-Veröffentlichungen aus den Sixties und Seventies zielt auf ein emanzipiertes Indie-Publikum, das sich, durch die aktuellen Alben von Bands wie Vampire Weekend, Yeasayer und Fool’s Gold angefixt, in die Welt der Originale zurückarbeitet. Und eines Tages mit offenem Mund den authentischen Luanda-Sounds auf der Analog-Africa-Compilation lauscht oder die quietschenden Leftfield-Luk-Thung-Jazz-Stücke aus Thailand entdeckt. Zur gleichen Zeit unterlaufen aktuelle Bands und Künstler aus Afrika und Südamerika das Modell der Authentizität mit herbeigesampelten Kreuzübermusiken, die nur noch marginal der Idee der Herkunft geschuldet sind. Wenn die Amis Soukous-Gitarren spielen, werfen die Afrikaner eben ganze Streichorchester an. Wie das für ein breiteres Publikum funktionieren kann, macht der ivorische Laptop-Künstler Koudlam vor, in seinen pathetischen Tracks treffen aztekische Schamanengesänge auf Sequenzer-Bässe, Elektro-Beats und folkloristische Flötentöne. Die Kapstädter Band Die Antwoord gehört auch zu den „Übersetzungsgewinnern“, sie transportiert Hip-Hop in einen prolligen Afrikaans-Kontext, das überraschte eine Spielzeit lang.
Ethno und Worldmusic werden im Jahr 2011 in solch unterschiedlichen Facetten weiter auf dem Vormarsch sein, ohne dabei gleich den ein oder anderen Welthit abzuwerfen. Das heillose Mit-, Unter- und Nebeneinander der Stile und Sounds ist in der Zwischenzeit hörbar in der Mitte der Gesellschaft angekommen, und es ist der klingende Appell an die Multikulti-Kritiker, den Jive des anderen mitzunehmen, anstatt sich wegzudrehen oder sich zu ducken. Frank Sawatzki
Florrie
Florrie verschenkt ihre Musik. Popsongs – zum Teil für den Dancefloor geschmeidig gemacht von French-Disco-Produzent Fred Falke -, aus denen sich jeder seinen eigenen Hit aussuchen darf. Die Songschreiberin, Sängerin und Multiinstrumentalistin hat zwar auch schon ein Stück auf dem Hipsterlabel Kitsuné veröffentlicht, und bei Downloadshops gibt es eine „Introducing“-EP zu kaufen. Aber wer nicht dafür bezahlen möchte, zahlt auch nicht. Die Leute sollen zu ihrer Musik nun erst einmal „singen, tanzen, sie herunterladen, lieben und spielen so viel sie wollen“. Florrie muss kein Popstar werden. Das Mädchen aus Bristol könnte Schlagzeugerin bleiben, mit ihren 22 Jahren hat sie bereits eine Hausdrummer-Karriere bei der Hitproduktionsfabrik Xenomenia (Pet Shop Boys, Kylie Minogue etc.) hinter sich. Oder sie baut ihre Model-Karriere aus. „Das Gesicht“ des französischen Modelabels Nina Ricci ist sie schon. So makellos schön, dass es uns wohl auch ohne Zwanzigzeiler von der jungen, talentierten Musikerin von sehr vielen Magazinseiten entgegenlächeln würde. Aber das ist natürlich klar: Florrie wird ein Popstar werden. ogö
Casper
Die heimliche Hoffnung der darbenden Deutschrap-Industrie ist Casper schon lange. Im Jahr 2011 soll er nun der erste echte Star der Generation iPop werden. Benjamin Griffey ist Bielefelder und er ist 28 Jahre alt. Das heißt, er ist aufgewachsen ohne die lokalen und geschichtlichen Komplexe, die die Altvorderen seit Jahren zwischen Heidelberg, Hamburg und Berlin hin- und herwälzen wie einen sisyphosischen Felsblock. Vielmehr ist Hip-Hop für ihn eine Selbstverständlichkeit, die alles sein kann, nur nicht scheiße. Er pumpt Kleinkriminellenrap von Haftbefehl und Waka Flocka Flame im losen Wechsel mit Emocore und Schwedenpop, trägt Röhrenjeans und Seitenscheitel, tauscht auf der Bühne das genretypische Gefuchtel gegen die ganz große Gesten, bei denen den Mädchen das Herz aufgeht und die Jungs sich trotzdem nicht schämen müssen. Und wie sein Kumpel Marteria schreibt auch er Texte aus dem Leben, nicht aus dem Lehrbuch. Album, Welttournee und Eichinger-Film dann in Zwoelf. Mindestens. db
The Soft Moon
Man nimmt den von Sufjan Stevens zum Gesamtkunstwerk verdonnerten BQE (Brooklyn Queens Expressway), fährt die Metropolitan Avenue ab, rechts auf die Bedford Avenue und links auf die North 6th Street. Bei Nummer 96 öffnen sich die Pforten des Academy Annex Record Shops in New York: Operationsbasis von Captured Tracks und Sacred Bones. Die Geschwister-Labels sind aktuell Heimstatt für jenen heißen Scheiß im immer noch heißen Brooklyn, der um Begriffe wie Garage, Postpunk und Lo-Fi kreist und Bands wie Thee Oh Sees und die Ganglians mitnimmt. Captured-Tracks-Label-Chef Mike Sniper (alias Blank Dogs) weiß, wie man den Mini-Hype kreiert, der sich im Netz freihändig zum großen Ding aufbläht, von Luis Vasquez‘ Ein-Mann-Projekt Soft Moon veröffentlichte er 7″ um 7″, bis die angefixte Gemeinde förmlich nach dem Album bettelte. Das Debüt von Soft Moon ist die Invasion der alliierten Gitarren und Bässe im Geiste der großen Joy Division. Nicht neu, aber auf den Punkt. Im Klartext: Die besseren Interpol. fsa
Cotton Jones
Dass Michael Nau wie ein fahrender Troubadour klingt, der das Beste schon hinter sich hat und eine Retrospektive der schönsten Momente hinlegt, die es von den Fünfzigern und Sechzigern noch nicht auf Platte gibt – geschenkt. Dass Cotton Jones (das Duo, das Nau mit Ehefrau Whitney McGraw betreibt) ein Fall für die Zeitmaschine sind – kein Problem. Dass sie als Side-Project in den Hype-Blogs im Netz auftauchten, verstand niemand bis zur Veröffentlichung des Albums Tall Hours In The Glowstream – ein Strom hochmelancholischer „Hits“, Musik-Bilder aus einem flackernden Traum, die Kamera auf dem Rücksitz im 59er Chevy. Was Nau und McGraw so stark macht: Sie spielen die Americana aus den Holzhütten und entlegenen Wald-Behausungen in die letzte Glamour-Bar am Highway, dort steht der Crooner mit Country-Schlips und verweinten Augen hinterm Mikro, er singt Lieder von unsäglicher Grandezza, er heult und barmt und die Keyboards schmelzen gleich mit dahin. Wenn Retro, dann nur Cotton Jones. fsa