Lou Reed – Berlin


Als Lou Reed „Berlin“ auf seinen ersten großen Solo-Erfolg „Transformer“ folgen ließ, hätte die Enttäuschung bei Publikum und Kritik nicht größer sein können. Nach dem gefälligen, poppigen „Walk On The Wild Side“, mit allen modischen Glam-Rock-Implikationen, mußte das düstere, beklemmende, psychotische Album „Berlin“ wie ein Schock wirken. Nicht allein, daß Lou Reed mit Bob Ezrin einen Produzenten wählte, dem sich von Alice Cooper bis Kiss alles an den Hals warf, was um kommerziellen Massenerfolg buhlte. Nein, dieser Ezrin erdreistete sich auch noch, „Berlin“ so unspektakulär wie eindringlich zu gestalten und damit alle Pop-Erwartungen zu zerstören. Traurige Gitarren, kaum verzerrt, ultrapräsente Vocals und spartanische

Rhythm-Tracks ließen „Berlin‘- klingen, als kämen die Aufnahmen direkt aus einem Kreuzberger Abbruch-Haus, das man in Manhattan Stein für Stein nachgebaut hatte. Bis hin zu quälend direkt und authentisch inszeniertem Kinderheulen in „Caroline Says“ geht die Seelen-tour-de-force. die Lou Reed seinem frisch eroberten Charts-Publikum zumutete. Jenes wandte sich angewidert ab. seine Fans aus den alten Tagen zuckten dagegen irritiert mit den Schultern. Das Ergebnis war bei beiden Gruppen gleich – sie ließen die Finger von Reeds suiziden Geschichten über das Liebesleid zwischen verschimmelten Schlafsäkken und verdreckten Heroin-Sprizen. Reeds Versuch der Verweigerung war zu Zeiten von Bowies „Ziggy Stardust“ nicht angesagt. Zumal Lou damit Wasser auf die Mühlen all seiner Kritiker goß. die sich schon immer an seiner Art. mit monotoner Sprech-Stimme jeden Anflug von Sangeskunst sofort im Keim zu ersticken, gestoßen hatten. Heute gehört, klingt „Berlin“ wie eine visionäre Vorausdeutung, eine zugegeben anstrengende, aber in sich brillante Vorstudie zu epochalen Reed-Werken wie „Blue Mask“ und „New York“. Hier kehrte jemand sein Innerstes nach außen. Und das ist kein Rock’n‘ Roll.