Lieblingsalben: Mia Morgan über AMO von Bring Me The Horizon


Wir feiern den 55. Geburtstag des MUSIKEXPRESS mit unseren Lieblingsalben. Mia Morgan teilt ihres auch mit uns.

„There is no guilt in pleasure“, erinnert mich einer meiner besten Freunde immer wieder, und doch war er es, der mich jüngst hat wissen lassen, dass er, als der Streamingdienst seines Vertrauens ihm „Darkside“ der britischen Metalcore-Band Bring Me The Horizon in den Release-Radar gespült hatte, eingeseift aus der laufenden Dusche stieg, um den Song abzustellen, so schrecklich habe er ihn gefunden. „Darkside“ ist zugegen mein Lieblingssong der Band und ich mag voreingenommen sein, weil Bring Me The Horizon es auf meine Endzwanziger-Tage noch einmal geschafft haben, mich zu einem ekstatischen Fangirl zu machen, das jedes Mal, wenn die Band Snippets neuer Songs oder auch nur Mitschnitte ihrer Liveshows auf den sozialen Medien teilt, in ihre Faust beißt, und auf den Shows selbst jedwede Maßnahmen zur Stimmschonung vergisst, um beim Intro von „Kingslayer“ so laut wie möglich „DUH-DUH-DUH-DUHDUHDUH-DUH- DUHDUH-DUH-DUHDUH-DUHDUHDUH-DUHD-UH“ zu schreien, aber ich halte Bring Me The Horizon für die innovativste und inspirierendste Band, die seit fast zwei Jahrzehnten, und jetzt mehr denn je, im internationalen Alternative-Bereich aktiv ist.

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Sie polarisieren, sowohl mit dem an Animes wie „Ghost In The Shell“ erinnernden visuellen Kampagnen-Storytelling der postapokalyptischen NEX GEN, als auch mit ihrem Sound, der sich über die Jahre vom härteren, Stimmband-zerfetzenden Spektrum des Screamcores über poppige Indie-Rock-Eskapaden hin zu einer futuristischen Fusion aus dem ihnen vertrauten Metalcore und aus elektronischer Club-Musik, Pop-Punk und irgendetwas anderem, neuen, das sie zwischen abgehackten Synthesizern, massiven Breakdowns und kaum noch menschlich klingenden Vocals neu entdeckt zu haben scheinen, entwickelt hat. BMTH klingen nicht länger nach Moshpits im stickigen Industriekeller, sondern scharf, verchromt und artifziell. Überwältigende Schredder-Breakdowns folgen glitzernden Synthie-Melodien, über die Oli Sykes mal schreit, mal mit einem hörbaren Lächeln und unzähligen Effekten auf der Stimme nur säuselt. Das wird heiß geliebt oder verachtet.

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„Bist du ein richtiger BMTH-Fan oder ein AMO-Fan?“, wurde ich einmal von einem, ich würde ihn Gatekeeper nennen, gefragt. Mich an die Worte meines besten Freundes erinnernd gab ich zu, dass ich erst seit dem 2019 erschienenen Album AMO so richtig begeistert von BMTH bin. Zwar habe ich zwei Jahre meiner Jugend auf lokalen Hardcore-Gigs zugebracht und meinen Vater angefleht, mir bei Impericon ein Drop-Dead-Shirt zu bestellen (ein blaues mit einem Hai drauf, aus dessen Maul blutende Körperteile quellen), was ich dann jeden Freitag in der Alternative-Disko im Musiktheater Kassel trug, aber die antimelodischen Eskalationen, die sich auf den ersten drei Alben der Band finden, waren mir mit siebzehn schlichtweg zu doll, irgendwie einfach nicht geheuer. Heute kann ich den roten Faden in ihnen erhören und bin musikgeschmacklich wieder dort, wo ich damals kurz war oder sein wollte: auf Knocked Loose Shows, mit meiner Live-Crew, die fast allesamt aus der Hardcore-Szene stammen. Und doch falle ich schon immer am ehesten dem großen Chorus, dem schillernden Pad und den Gesängen über Liebeskummer, Selbstzweifeln und dem verachtenswert Göttlichen anheim.

So hat mich der wohl untypischste Bring-Me-The-Horizon-Song im Frühjahr 2019 zum Fangirl gemacht: „Nihilist Blues“ mit Grimes. Meine BMTH-Origin-Story beginnt in dem buttergelb gestrichenen Studioraum, den Max Rieger, Produzent meiner Releases GRUFTPOP und FLEISCH, in diesem Frühjahr neu angemietet hatte. Wir waren dort verabredet, um die Aufnahmen für GRUFTPOP zu beginnen, und als er seinen Computer hochfuhr, meinte er, er müsse mir erst mal etwas zeigen. Und dieses Etwas war „Nihilist Blues“. Grimes-Fan war ich, BMTH hatte ich in Erinnerung als auf tumblr beliebte, aber mir damals irgendwie zu arge Band. Die mit dem Regenschirm halt. Der Song gefiel mir nicht auf den ersten Hörer, es war keiner dieser Musik-Momente, bei denen man während der ersten Takte eines Liedes weiß, dass man es fortan ununterbrochen hören wird, ich hatte nämlich das Gefühl, ich verstehe nicht richtig, was da alles passierte. Deswegen hörte ich ihn am Abend nach der Studio-Session in der Bahn. Und dann im Hotelzimmer. Und dann morgens, beim Fertigmachen im Bad. Und dann wieder in der Bahn, auf dem Weg zur nächsten Session. Wenige Tage später hatte ich AMO Dutzende Male in voller Länge gehört und zu meinem neuen Lieblingsalbum erkoren.

Ich erinnere mich, in meiner roten Falschpelzjacke durch den S-Bahnhof Friedrichstraße zu laufen, mit „Sugar Honey Ice & Tea“ auf den Ohren. Daran, auf dem abendlichen Weg zur Haltestelle nahe des Industriegebiets, auf dem sich der Studiokomplex befand, mit „Mantra“ weniger Angst zu haben. Mein Favorit ist, neben „Mantra“, der ein beneidenswert kohärentes und doch unvorhersehbares Songwriting vorweist, „Heavy Metal“. Nicht nur wegen der grandiosen Hook, sondern auch, weil Oli Sykes sich im Text mit der vermeintlichen Enttäuschung der Langzeit-Fans auseinandersetzt und somit eine sarkastisch ausgedrückte und doch authentische Selbstreflexion vorweist, die für BMTH mittlerweile typisch, im Alternative-Bereich jedoch eine Seltenheit ist. Es ist ein Schulterzucken gegenüber all jenen, die sich an der musikalischen Entwicklung vom Instrumente-Verprügeln hin zum Über-Radiopop-Melodien-im-Chor-Singen stören. Gegenüber der oft männlichen Gatekepper, denen es nicht mehr „hart genug“ ist. So singt Sykes: „Some kid on the gram in a Black Dahlia tank said this ain’t heavy metal“. Es geht auch darum, von Plattenfirmen Managements und Kritiker:innen ein Label verpasst zu bekommen, mit dem man sich nicht identifizieren kann. Weil man sich schlichtweg mit keinem Label so richtig identifizieren kann. Ein Thema, das mich damals interessiert hat, heute selbst betrifft. Das BMTH-typische Ping-Pong-Spiel mit Genres, lyrische Zugeständnisse der eigenen Unzulänglichkeit und das Bestreben, Neues zu riskieren, ohne das Herz des Alten zu verlieren, immer im Vertrauen auf die Fans, die da waren und bleiben werden, inspiriert und motiviert mich als Künstlerin. Nach THAT’S THE SPIRIT, dem vielleicht direktesten und Mainstreamnächsten Album der Band, war AMO ein blinder Trustfall in die Arme ihrer Fans.

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Für mich gibt es keinen Skip auf AMO. Es sind nicht nur die Texte, die im richtigen Maß kitschig, tumblr-rebloggable und trotzdem schmerzlich ehrlich sind, oder die Chorgesänge über klebrige Melodien, es ist auch die aufwendige, an Perfektion grenzende, nach vorne preschende Produktion, die mich in Zusammenarbeit mit Lukas Korn, Produzent meiner jüngsten Veröffentlichungen, bei der Arbeit an eigener Musik immer wieder zu neuen Wagnissen mobilisiert. Der Musik, die momentan auf meiner Festplatte auf eine nächste größere Veröffentlichung wartet, hört man das nun auch an. Bevor ich damit hinaus kann, muss auch ich einen Trustfall wagen. Zu sehen, zu hören, auf Shows zu erleben, wie BMTH von hingebungsvollen, sie über alles und bedingungslos liebenden Fans immer und immer wieder gefangen werden, beflügelt mich. Im Sommer 2019 sah ich sie bei Rock im Park zum ersten Mal live. Direkt vor den Ärzten. Wer sich länger als drei Minuten mit mir als Person auseinandersetzt, ahnt, wie unerträglich ich angesichts dieses Line-ups gewesen sein muss. Meine Begleitung an diesem Abend, Sebastian „El Hotzo“ Hotz, hielt mich engelsgeduldig und sanftmütig aus.

Oli Sykes trug eine herzförmige, rote Kontaktlinse und spuckte von oben ins Publikum. Und obgleich ich Festivals lieber bespiele, als besuche, wusste ich inständig, ich würde für Oli Sykes im Schlamm campen. Ich würde wieder und wieder die Gesundheit meiner für meinen Beruf überlebenswichtigen Stimmbänder riskieren, um „Kingslayer“ mitzugrölen. Für dieses wunderbare Geben und Nehmen zwischen Fans und Artstis bin ich aus zweierlei Gründen dankbar. Einmal, weil AMO in mir eine noch innigere Liebe zur Musik und ein brennendes Interesse an ihrer Produktion entfacht hat, und dann, weil es mir aus Künstlerinnen-Perspektive Mut macht: Wenn ich mit solcher Leidenschaft Fan von jemandem sein kann, warum sollte dann nicht auch die ein oder andere Person genau so Fan von mir sein können? Und mich fangen, wenn ich mal daneben trete oder über neue Grenzen stolpere? Wenn Oli Sykes, wie er in „Mother Tongue“ singt, für seine Liebe eine neue Sprache lernt, so kann ich mir sicher sein, dass es immer jemanden geben wird, der meine neuen Texte auswendig lernt und sie mir mit „Kingslayer“-Inbrunst auf einer meiner Shows entgegenbrüllt. No guilt, no shame, pleasure only.

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