Interview

Lie Ning im Interview: „Ich habe jetzt erst verstanden, was Musik für mich sein kann“


Er hat Style und das Charisma: Der Berliner Lie Ning macht queeren Soulpop für ein besseres Morgen.

Er ist verschnupft und hat gerade eine intensive Reise hinter sich, erzählt er, während er in das Zoomfenster blinzelt, ein Monat Senegal, Familie besuchen, sich mit der eigenen Identität auseinandersetzen, Field Recordings aufnehmen. Lie Ning ist der Mann der Stunde – und bleibt dabei trotzdem so humble und höflich, wie es anderen gehypten Aufsteigern der deutschen Popszene ebenfalls gut zu Gesicht stünde. Vielleicht liegt das am kreativen Umfeld, in dem Lie Ning – der bürgerlich ganz anders heißt – als Kind einer deutschen Mutter und eines togolesischen Vaters aufwuchs. Hausprojekt im Prenzlauer Berg, Mitbewohner:innen aus aller Welt, Kunst zu machen war einfach Teil des Lebensentwurfs und kein Distinktionsmerkmal.

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Zur Musik kam der Mittzwanziger aber trotzdem als Quereinsteiger. Mit all den Selbstzweifeln, die das auch mit sich bringt, wenn man eben nicht schon immer Gesangsunterricht erhielt oder schon als Teenie seine ersten Punkkonzerte spielte. Und wenn man noch dazu Teil nicht nur einer, sondern gleich zwei marginalisierter Bevölkerungsgruppen ist: „Schwarze und queere Personen finden einfach nicht statt im deutschen Raum“, findet Lie Ning. Repräsentation ist nicht alles – aber um sich selbst auch im Pop zu sehen, hilft es, in Gesichter zu blicken, die dem eigenen ähneln, Narrative zu hören, die dem eigenen Leben nahe kommen.

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Die erzählt Lie Ning jetzt eben selbst auf seinem Debütalbum UTOPIA: Geschichten vom Dazugehören, von queerer Liebe, von Akzeptanz, von Freundschaft, von der Nacht und vom Licht. „Ich habe jetzt erst verstanden, was Musik für mich sein kann“, lacht er. Seine EPs aus den letzten Jahren waren oft von Impostersyndrom und Panik im Studio geprägt. Und von der Frage: Wer will ich überhaupt sein? „Mit dem Album habe ich eine andere Ruhe entwickeln können“, erinnert er sich. Dazu gehörte es auch, den Produktionsprozess so zu gestalten, wie es für ihn Sinne ergab. Das fängt bei ästhetischen Entscheidungen an und hört beim Songwriting noch lange nicht auf.

Die 13 Songs von UTOPIA schillern nun sanft irgendwo zwischen Elektro, Pop und Soul, sie klingen nach Jazzvocals für die nächste Generation und nach Clubsound, überschreiten Genregrenzen und sie klingen so gar nicht nach Prenzlauer Berg, sondern nach großer weiter Welt. Nur um dann bei Songs wie „Pressure & Release“ oder „The Light“ doch wieder mit beiden Beinen in Berlin zu stehen. Zumindest in Lie Nings vielfältigem Berlin, dem Berlin der queeren Partys, der Freiheit. Das ist sein Zuhause.

Die kleinen Bühnen, die Lie Ning vor einigen Jahren noch spielte, konnten seinem übergroßen Popcharisma kaum genug Raum bieten. Jetzt werden die Bühnen größer und seinem Gestus angemessener. Trotzdem schafft er es, bei jeder Show eine intime, ja sogar familiäre Atmosphäre zu schaffen – ein Raum, in dem sich alle so entfalten können, wie es richtig für sie ist. Und zumindest für die Dauer eines Songs Teil der chosen family von Lie Ning werden.

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Und das nicht nur auf seinen eigenen Konzerten, sondern etwa auch auf Klimaprotesten oder Demonstrationen. Und zwar ganz ohne explizit politische Texte. „Ich muss nicht politisch sprechen, um politisch denkende Menschen zu erreichen“, meint Lie Ning dazu, „die finden die Songs ja trotzdem.“

Dieser Text erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 05/2023. Hier bestellen.