Laut aber schüchtern


Von der gehänselten Dicken zur Muse von Karl Lagerfeld, von der gottesfürchtigen Lesbe zu einer Wortführerin der Gay-Community. Beth Ditto erzählt exklusiv im ME, wie aus einem Mädchen aus Arkansas eine Schwulenikone des 21. Jahrhunderts wurde.

Ich wusste schon als kleines Kind, dass ich lesbisch bin. Natürlich kannte ich dieses Wort noch nicht, aber ich fühlte mich immer mehr zu Mädchen als zu Jungs hingezogen. Dennoch hatte ich mein Coming-out erst sehr spät. Weil ich Angst hatte. Weil ich echt Schiss vor Jesus hatte. Weil ich fest daran glaubte, eines Tages für meine Orientierung in die Hölle zu müssen. Heute glaube ich nicht mehr an die Existenz Jesu. Aber ich bin in Searcy, einem stockkonservativen 20.000-Seelen-Kaff in Arkansas groß geworden, und meine Eltern sind wahnsinnig religiös und sehr gottesfürchtig. Das war kein Umfeld, um offen und selbstbewusst mit deiner Sexualität umzugehen. Dort war ich sowieso schon immer eine Außenseiterin – im wortwörtlichen Sinn, da wir in einer white-trash-Wohnwagensiedlung am Stadtrand lebten. Außerdem war ich immer superschüchtern, aber auch superlaut. Und da ich schon als Kind großen Spaß an Essen hatte, war ich immer auch fett – ich mag dieses Wort: fett. Wenn du bedenkst, dass die Mehrheit aller Menschen breite Ärsche hat, ist es zwar ziemlich merkwürdig, als Dicke quasi von einer Minderheit diskriminiert zu werden, aber das hilft dir als junges Ding natürlich nicht. Ich konnte ja nicht ahnen, dass ich eines Tages mit Kate Moss befreundet sein, dass mich Karl Lagerfeld mal als „Muse“ bezeichnen würde.

Für kein Geld der Welt würde ich wieder in Searcy leben, um Gottes Willen! Dann müsste ich dort ja auch meine Kinder – sollte ich jemals welche haben – erziehen und die müssten dann dasselbe Elend erleben. No fucking way! Solange ich dort wohnte, dachte ich, ich müsste mich verändern, ich dürfte nicht ich selbst sein. Ich war total verwirrt, machte jeden Quatsch mit. Mein Cousin und ich fingen beispielsweise mit 13 zu kiffen an. Wenn wir stoned waren, knallten wir Eichhörnchen ab, häuteten sie, warfen sie auf den Grill und verspeisten sie zum Abendessen. Danach spielten wir noch mit ihren Schwänzen.

Ich musste erst 18 werden, ehe ich mich meinen Eltern anvertrauen und ihnen sagen konnte, dass ich auf Frauen stehe. 18 ist echt ziemlich alt dafür, wenn man bedenkt, dass Jugendliche heutzutage bereits in der Mittelstufe mit ihrer Sexualität an die Öffentlichkeit gehen. Aber meine Familie hat wunderbar reagiert. Meine Eltern sind sowieso großartig. Je älter ich werde, desto mehr begreife ich, wie großartig sie wirklich sind. Sie akzeptieren mich, weil sie mich lieben. Und weil ich sie auch liebe, zensiere ich mich bei religiösen Themen, um sie nicht zu verletzen. Meine Freunde hat meine Orientierung nie gekümmert. Natürlich gab es Mitschüler, die mich deswegen mieden, aber für die war ich auch davor schon das Opfer. Es ist unfassbar, mit wie viel Scheiße du dich als Mädchen teilweise herumschlagen musst.

Viele Menschen glauben übrigens, dass ein Coming-out unabdingbar ist. Das ist es aber nicht. Nicht für jeden. Es darf keinen Zwang geben. Für mich war mein Coming-out wichtig – auch für meine Entwicklung als Künstlerin. Aber ich habe mich aus freien Stücken dazu entschieden. Ich hoffe, ein Vorbild für Menschen sein zu können, die gern offen mit ihrer Sexualität umgehen möchten, sich aber nicht trauen. Ich möchte das weitergeben, genau so wie es Menschen wie Divine, Leigh Bowery und John Waters für meine Persönlichkeitsbildung getan haben.

Auch heute gibt es viele Künstler, die mit gutem Vorbild vorangehen und Mut machen, zum Beispiel JD Samson von Le Tigre. Ich verehre sie. Alles, was sie macht, lässt ihre Persönlichkeit durchscheinen. Alles von ihr ist so authentisch, so couragiert. Außerdem ist sie so irre hübsch! Dann natürlich Antony And The Johnsons – wobei ich nicht weiß, ob alle Johnsons wirklich schwul sind. Aber das ganze Konzept der Band ist natürlich sehr queer. Und Morrissey – ob er sich zu seiner Sexualität bekennt oder nicht, ist egal. Es genügt, wenn man sich seine Texte anhört. Man muss nicht homosexuell sein, um Teil der Gay-Community zu sein. Sicherlich gibt es Leute, die sagen, im Jahr 2010 habe es keine große Bedeutung mehr, ob jemand homosexuell ist oder nicht. Klar, ich wünschte, wir lebten einer Welt, in der dem so wäre, aber so weit sind wir noch nicht. Schließlich werden wir nach wie vor diskriminiert, auch von anderen Künstlern, beispielsweise von Beenie Man. Dazu möchte ich allerdings sagen, dass gute Kunst oft auch beleidigend ist. Hip-Hop war immer schon mein zweites Lieblingsgenre – und Hip-Hop ist nicht gerade bekannt dafür, schwulenfreundlich zu sein. Und trotzdem höre ich gerne Lil‘ Wayne.

Mein erstes Lieblingsgenre bleibt natürlich Punk. Als ich in den Neunzigern nach Olympia im Staat Washington zog, schloss ich mich der Queercore-Szene an. Ich finde Begriffe wie Queercore gut. Natürlich kann man immer kritisieren, dass Genrenamen unterschiedliche Künstler in ein und dieselbe Schublade stecken, aber andererseits haben Queercorebands viele Gemeinsamkeiten: Sound, Auftreten, Klamotten, viele inhaltliche Bezüge zur Homo- und Bisexualität. Queercore war und ist eine Bewegung. Genauso wie Crusty Punk, Hardcore und Indie Bewegungen sind. Und Bewegungen wollen etwas erreichen. Deswegen ist es wichtig, dass Queercore das „queer“ stolz im Namen trägt, dass es als schwule Musik wahrgenommen wird. Denn hey, in dem Land, in dem ich geboren wurde, darf ich als Lesbe nicht heiraten! Unsere Regierung, also die Leute, die sich für uns einsetzen sollten, unterscheiden zwischen homo- und heterosexuellen Wählern. Für die sind wir keine gleichwertigen Bürger. Letztendlich sind Medien und Künstler aber stärker als Regierungen. Deswegen müssen wir etwas tun – und zwar gemeinsam.

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