Popkolumne, Folge 51

„Frauen sind nicht für jede Festivalbühne geeignet“: Die Popwoche im Überblick


In unserer Popkolumne präsentiert Linus Volkmann im Wechsel mit Julia Lorenz die High- und Lowlights der Woche. Welche Künstler, welche Serien, welches Kaugummi-Merch von kurz nach dem Krieg lohnt sich (nicht) – und was war sonst noch so los? In der neuen Folge zur KW 05/2020 geht es darum, dass Frauen einfach „eine andere Energie“ als Männer haben – genetisch beziehungsweise astrologisch bedingt. Was will man machen? Außerdem: Pisse, Hubba Bubba, Pfusch und der Tod. Die neue Popwoche ist draußen – come in and find out! 

LOGBUCH: KALENDERWOCHE 05/2020

Bin anwesend bei der Bundeskonferenz für Popförderung in Köln, Name: Popsummit. Grußwort: Bürgermeisterin Henriette Reker von Köln über Großbildschirm, ihre Augen lesen sichtbar den Teleprompter ab. Kenne ich von eigenen Videokolumnen tbh, aber sieht das da etwa auch so aus?! Grundgütiger!

Egal, bin ja nicht nur hier wegen des Public-Bürgermeisterin-Viewings oder der Gratis-Brezeln, ich moderiere vornehmlich ein Panel zum Thema Queerness und Diversität. Und fuck, die Vorbereitungen dauern ewig – wegen Englisch auf der Bühne. Vor Ort stellt sich dann allerdings raus, dass sowohl der kanadische Musiker Sam Vance-Law als auch die norwegische Techno-DJ Grinderteeth vom No Shade Kollektiv fließend deutsch sprechen. Wer hätte das denn bitte ahnen können? Not me obviously!

von links nach rechts: Grinderteeth, Ace Of Diamonds, DJ Ipek, euer Erzähler, Ingrid Adjoa Yeboah, Sam Vance-Law, Stefan Bohne

ZITAT DER WOCHE: LA ROUX … NANU

„Frauen werden [beim Booking für Open-Airs] nicht berücksichtigt, weil sich weibliche Musik für manche Festivals nicht eignet.“ 

Das diktierte La Roux im Rahmen ihres neuerlichen Comebacks den Kolleginnen von laut.de in die Aufnahmegeräte – das komplette Zitat findet Ihr hier. Für jemanden, die selbst als androgyne Figur immer wieder unter den Stereotypen, wie man als Frau zu sein habe und wie nicht, leiden muss, eine ziemlich, sagen wir es mal vorsichtig, konservative Einschätzung. Statt Sexismus in der Branche macht La Roux in dem Interview tatsächlich eher einen Unterschied zwischen weiblicher und männlicher Energie als Anlass für herrschende Ungleichheit aus. Was soll man da noch sagen? (Außer vielleicht: Oh je.)

VERSTORBEN: GUZ

Vergangene Woche verbreitet sich die Nachricht vom Tode Oliver Maurmanns, dem Sänger der Schweizer Band Aeronauten – solo unter dem Namen Guz unterwegs. Er starb an einer angeborenen Herzerkrankung und wurde nur 52 Jahre alt.

Den mit Abstand schönsten, ausführlichsten und vor allem intensivsten Nachruf hat der Schweizer Musikmanager (Entdecker unter anderem von der Band Navel) Chrigel Fisch verfasst. Wer wirklich etwas erfahren möchte über Guz, sollte sich darin mal verlieren.

ALBUM DER WOCHE: PISSE

„Ich brech das Thermometer auf / Ich trinke das Quecksilber aus / Im Hals ein Trichter / In der Hand Unkrautvernichter“ („Die Kündigung“)

Stimmt Pisse, die gab’s ja auch noch!

Will man eine deutsche Band heranziehen, die eine vergleichbare Verbreitung besitzt und die sich dabei ähnlich konsequent aller Vereinnahmung entzieht, bliebe da nur EA80 – alle anderen sind Kommerz-Ottos gegen die haarigen Thereminpunk-Typen von Pisse. Dieses Prinzip findet sich natürlich auch in ihren Veröffentlichungen wieder. Ohne PR und Tatütata wird einfach auf Nischen-Labels Vinyl veröffentlicht, der Rest steht gratis bei Bandcamp, fertig.

So auch das jetzt erschienene selbstbetitelte Album. Zehn Songs auf knapp 19 Minuten – dagegen ist Bad Religions „No Control“ mit 26 Minuten und 25 Sekunden ein echter Longplayer. Soundmäßig geben sich die neuen Stücke spröder als früher. Der Pop-Appeal, mit dem das süßliche Theremin das Rest-Geballer immer wieder ornamentiert, wirkt gedimmt beziehungsweise wird übertönt an manchen Stellen. Ich gebe dafür dem weit nach vorn gemischten Schlagzeug die Schuld. Dieser heftige Garagensound steht Pisse dennoch nicht schlecht. Roh, verwegen und überraschend – die Platte passt einfach gut zum Markenkern der Band. Einer Band, die einen zurecht zusammenschlagen ließe, wenn man das Wort „Markenkern“ im Zusammenhang mit ihnen nutzen würde. Na, zum Glück lesen die Jungs das hier nicht, sondern nur handkopierte Fanzines…

FANZINE DER WOCHE: PFUSCH

Apropos Fanzines: Die Berliner Graphikerin Alex Wurst hat dahingehend etwas sehr bemerkenswertes gebastelt. Ein Ego-Zine über luzide Träume. Also Träume, in denen man sich des Traums bewusst ist und damit selbst handelnd eingreifen kann. So fügt Wurst ihrem Fanzine „Pfusch“ dann auch sowohl noch eine Anleitung zum Traumsteuern bei („Lucid Dreamer’s Little Guide“) sowie ein Dream Journal. Alles auf Englisch, also bis auf dieses Traumtagebuch, das ist natürlich leer und gehört neben’s Bett. Ein nerdig niedliches, ein hochästhetisches DIY-Projekt. Ich gebe es nicht mehr her. See you in my dreams.

Mehr unter: www.alexandraruppert.com

SERIE DER WOCHE: „YOU“ (STAFFEL 2)

Die Serie über den Stalker Joseph Goldberg, erzählt aus dessen Innensicht, ist ein gutes Beispiel für das Netflix-Fastfood dieser Dekade. Ähnlich einem dieser erfolgreichen Taschenbuchkrimis, die im Bahnhofsbuchhandel vorne im Aufsteller stehen, ist auch „You“ nicht zufällig ein sogenannter Pageturner. Das heißt: Andauernd passiert was, nichts baut sich episch über mehrere Folgen auf, eine größere Dramaturgie schenkt sich zugunsten von kleineren Kicks immer wieder weg. Aber was soll ich sagen? Ich bin ja nicht der Filmkritiker Georg Seeßlen – also um mich zu unterhalten hat es nicht nur gereicht, nein, die neuesten Folgen habe ich begeistert im Binge-Modus und in kürzester Zeit aufgebraucht.

„You – Du wirst mich lieben“ (Staffel 2) auf Netflix: Ein Stalker und Serienkiller will erwachsen werden

Staffel 2 von „You“ führt den sympathischen Irren Joseph von New York nach Los Angeles, wieder pflastern Leichen seinen Weg und wieder soll sich der Zuschauer die Frage nach der Moral stellen. „Böse Menschen bestrafen, ist es wirklich falsch – wenn es sich doch aber in dieser Erzählung gerade so richtig anfühlt?“ Ja, ja, mit solch ethischer Thematik beschäftige ich mich beim Jüngsten Gericht. Vorher genieße ich aber einfach den geilen Trash, den „You“ einem mit der Season 2 beschert.

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„You – Du wirst mich lieben“: Netflix hat eine 3. Staffel bestätigt

RETRO-ITEM DER WOCHE: „HUBBA + BUBBA“-HÖRSPIEL

Auf Discogs gab es nur noch zwei Exemplare dieses Albums. Eines für zehn Euro mit dem Zusatz „zerbrochen“ und eines für 20, offenbar ganz. Als Vinyl-Nerd (#AlbertKoch) habe ich mich nicht lumpen gelassen. Schließlich stellt „Hubba + Bubba – das Geheimnis der Dondra“ eine der Europa-Hörspiel-Preziosen überhaupt dar. Ein One-Off zur Kinderkaugummimarke aus den Achtziger Jahren – aus der Produktion von „Hörspielkönigin“ Heikedine Körting, die bis heute in ihrer Hamburger Villa alle neuen TKKG-, Drei-Fragezeichen- oder auch Hanni-und-Nanni-Folgen aufstellt. Story wirkt überraschend auch nicht nach billigem Wrigley’s Franchise, sondern ganz „pfiffig“, wie wir Ü60-Journos sagen, und ist hochkarätig besetzt in den Stimmen. Horst Frank ist dabei, auch Hans Hessling (Synchronsprecher u.a. von „Catweazle“) und Karl Ulrich Meves (deutsche Stimme von Grobi, #Sesamstraße). Schmeckt lange super saftig, friends!

MEME DER WOCHE

DER VERHASSTE KLASSIKER: „MOON SAFARI“ von Air

Air
„Moon Safari“
(VÖ 16.01.1998)

Nichts gegen die Croissants, nichts gegen Phoenix, nichts gegen die Guillotine. Frankreich hat auch mir einiges zu geben – und als Helmut Kohl mit Francois Mitterand Händchen hielt am Gedenkmal zu Verdun, muss ich gestehen, das hat mich schon bisschen angemacht seinerzeit. Man ist ja auch nur ein Mensch!

Doch dann diese aufgesetzte Sexyness der Platte „Moon Safari“, die wirklich alle Emotionen ertränkt in ihrem blubbernd verhaltensauffälligen Orgelflashmob. Das wäre ja nicht schlimm, man kann mangelhafte Tonträger ja immer noch für den Straßenbau verwenden, Einschmelzen – und es gibt eine Prachtallee einmal um die ganze Welt.

Aber was ist los Ende der Neunziger? Air entwickeln sich in dieser verkorksten Zeit tatsächlich zu einem veritablen Hit. Beim ersten Hören damals – ich schwöre auf die Gebeine von Macron – bin ich irritiert aufgestanden und habe in der Anlage noch mal nachgeguckt, ob überhaupt die richtige CD drinnen ist. Ich dachte original ob des lächerlichen Pornosoundtrack-Zirkus, dass ich vielleicht eine falsche verkauft bekommen hatte, die nur versehentlich in der richtigen Hülle. Aber nein.

Dieses satanische Fahrstuhl-Gedudel sollte also wirklich der Hype der Stunde sein? Abartig. Könnte ich die Branche noch wechseln? Statt Musikjourno doch lieber was mit Holz, Tieren oder Crystal Meth machen? Aber Umschulung war schwer damals zu kriegen – Schröder setzte ja gerade zur Agenda 2010 an. Also schwor ich mir, dieses fürchterliche French-Pop-Duo einfach auszusitzen.

Lange, allzu lange hat es gedauert. Jetzt ist es geschafft, Air sind weg vom Fenster (Nicolas Godin aber nicht). Aber psst, ich will mit diesem Text natürlich keine schlafenden Hunde wecken…

– Linus Volkmann („Musikjournalist“)

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