Kuschel Rock


Nicht mal mehr auf die harten Männer ist Verlaß: Seit sich Bryan Adams, Extreme und die Scorpions unter der butterweichen Balladen-Decke kuscheln, möchte jeder ein Stück vom Kuschelkuchen. Bis er allen bitter aufstößt ...

Es gibt Worte, die machen Geschichte. Mary Poppins phänomenaler Zungenbrecher „Supercalifragilisticexpialidotious“ zum Beispiel. Oder Uwe Barschels „Ehrenwort“. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Das alte Abstauberphänomen sozusagen. Gerd Müllers legendäre Strafraumqualitäten in ein paar Buchstaben gebannt.

Das Popbusiness lebt davon, Musik mit Worten festzunageln. Ein knackiger Name — und schon ist ein neues Genre geboren. Lautmalerisch wie Tekkno oder ultimativ wie Death-Metal.

So dachte sich Thomas Koschwitz, Redakteur beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt, auch nichts Böses dabei, als er eines Nachts seine erste Sendung unter dem Namen „Kuschelrock“ moderierte. Paradox zwar, aber irgendwie schön: Kuschelrock. Thomas Koschwitz ahnte nicht, daß seine Sendung und ihr Titel Popgeschichte schreiben würden. Sony Music, Frankfurter Medien-Gigant, erkannte jedoch den Geniestreich, ließ ihn flugs patentieren und verdient sich seitdem mit Platten der kuscheligen Sorte und dem neuen, cleveren Namen dumm und dusselig.

Soweit klingt die Geschichte des Kuschelrock wie aus dem Lehrbuch für Pop-Marketing. Doch es blieb nicht bei ein paar Erfolgs-Soundtracks für verschmuste Studienräte und anschmiegsame Friseusen. Bald schon kuschelte es allüberall. Die Weichspülerei machte Schule, wurde zur Masche und schließlich zur Methode. Manager und Musiker erkannten, daß mal wieder auf die sanfte Tour das dicke Geld zu verdienen ist. Es reichte nicht mehr, bloß Phil Collins, Chris Rea und Kumpane säuselnderweise unters Volk zu schleudern auch Artfremdes mußte kusche(l)n. Bislang stolze Symphonieorchster stiegen geschwind von ihrem Kultur-Thron herab und erniedrigten sich mit seelenloser Breitwand-Kuschelei.

Selbst gestandene Rocker konnten der kuschelweichen Versuchung nicht widerstehen: Ob es Extreme sind, die erst mit ihrer akustischen Simon & Garfunkel-Nummer „More Than Words“ die Karriere in Gang kriegten, oder Metallica, die mit „The Unforgiven“ den Popmarkt knackten, ob Guns N“ Roses und ihr „Sweet Child O‘ Mine“ oder Mötley Crüe mit „Home, Sweet Home“, ob Bryan Adams mit seiner Robin-Hood-Ballade oder die Scorpions mit „Wind Of Change“ — die Jungs mit den kantigen Zügen und den Leder-Lenden haben ihr Herz entdeckt. Auch wenn Rudi Schenker von den Scorpions betont, daß sie in ihrem Herzen schon immer ein Plätzchen für die Ballade gehabt hätten: „Wer die Scorpions kennt, weiß auch, daß wir auf jedem Album seil 1972 immer eine oder zwei Balladen hatten. Sicher, wir verstehen uns in erster Linie als Rock-Band, doch wer deshalb meint, wir wollten uns mit Balladen beim Publikum unkuscheln, hat nichts kapiert. Ich bin als Musiker stets bestrebt, das Spektrum unserer Musik zu erweitern, um all meine Geßhle ausdrücken zu können. Der Vorwurf, wir würden mit Balladen die Rock-Musik verraten, geht nach hinten los, denn man denke nur an Led Zeppelin, die Heavy Rock-Band der 70er Jahre, die nach dem Kracher .Whole Lotta Love‘ mit ,Stairway To Heaven‘ den größten Erfolg ihrer Karriere feiern konnte. Ohne daß sie jemand Verräter geschimpft hätte. „

In der Tat: Die Hardrock-Ballade ist nichts Neues im harten Geschäft um Musik und Moneten. Schon den Rolling Stones, in ihrer Frühzeit eine der härteren Bands im Business, gelang mit „Angie“ und „Ruby Tuesday“ der kommerziell so bedeutsame Crossover: Plötzlich waren sie nicht bloß bei ein paar langhaarigen Freaks, sondern auch bei braven Kids und besorgten Eltern angesagt. Motto: Wer eine solche Ballade singt, kann kein schlechter Mensch sein.

Das erkannten auch die Kollegen.

Und so zieht sich durch die Geschichte des harten Rock ein steter Strom an Balladen — von Deep Purples „Child In Time“ bis Led Zeppelins „Stairway To Heaven“, von Whitesnakes „Here I Go Again“ bis zu Van Halens „Why Can’t This Be Love“. Trotzdem: Der Kuschel-Rock in dieser Massierung ist eindeutig ein Phänomen der späten 80er und beginnenden 90er Jahre.

Sucht man nach den Gründen, so ist ein Kuschel-Faktor schnell ausgemacht: das Radio. Seit das (progressive) FM-Radio in den USA gleichgeschaltet wurde und nur noch Top 40 spielt, seit auch europäische Radiostationen immer mehr das „formatierte“ Hit-Radio übernehmen, bläst den harten Jungs mehr denn je der Medienwind ins Gesicht. Billy Idol etwa ging mit dem Album WHIP-LASH SMILE völlig baden, bis man in letzter Minute die Ballade „Sweet Sixteen“ auskoppelte — und dadurch doch noch halbwegs zufriedenstellende Verkäufe erzielte. Guns N“ Roses mußten mitansehen, wie ihr Single-Kracher „You Could Be Mine“ vom US-Radio total boykottiert wurde — während man sich bei der soften Nachfolge-Single „Don’t Cry“ erheblich gnädiger zeigte.

„Hardrock hatte seil jeher ein Problem: die Vermarktung“, erklärt Bernd Rathjen, Product-Manager „Hard & Heavy“ bei der Hamburger WEA. „Alles, was hart ist und rockt, fällt aus dem Medien-Rahmen. Das heißt, man kann solche Musik nur sehr schwer promoten. Denn außer all den ,Metal-Hammers‘ dieser Welt gibt es kaum eine Zeitschrift, die auch nur ein paar Zeilen in Sachen Hardrock absondert. Von Radio und Fernsehen ganz zu schweigen.

Sobald es sich aber um Balladen handelt, gibt es keine Probleme mehr. Die Radio-Einsätze schnellen in die Höhe — und selbst,Bravo‘ steigt ein.“

Die Folge: Will eine junge Hardrock-Band den schnellen Erfolg, probiert sie es am besten auf die sanfte Tour. Eine Ballade muß her. Das aktuelle Beispiel ist Extreme. Die Band aus Boston, Massachusetts, hatte bereits mit „Extreme I“ ein mäßig erfolgreiches Debüt-Album veröffentlicht. Vor einem Jahr erschien dann der ambitionierte Nachfolger „Pornograffiti“. Doch auch hier schleppten sich die Verkäufe dahin. Bis die Band um Gitarrist Nuno Bettencourt die Single „More Than Words“ veröffentlichte. Die sparsam instrumentierte Nummer war der große Durchbruch; seither gilt das Quartett als erfolgreichster Newcomer des Genres.

„Wir hatten niemals einen Gefallen von MTV oder vom Radio in den Staaten bekommen“, bemerkt Nuno Bettencourt. „Mit,More Than Words‘ änderte sich das schlagartig. Das Publikum verlangte danach, die Radiostationen spielten den Song — und dann waren wir schließlich die Nummer Eins mit einer Ballade. Wir halten gesehen, wie Guus N‘ Roses mit ,Sweet Child 0′ Mine‘ ernorm erfolgreich gewesen waren. Und wir hatten gehofft, mit ,More Than Words‘ ähnlich landen zu können. „

Wobei die Entscheidung, statt eines rüden Rockers lieber eine pflegeleichte Ballade zu veröffentlichen, selten auf die Kappe der betreffenden Gruppe geht. In diesem Punkt redet die Plattenfirma schon mal gern ein gewichtiges Wörtchen mit. .Im Prinzip“, meint denn auch Rudi Schenker, „lassen wir in punkto Veröjfentlichungspolitik unserer Plattenfirma freie Hand. Unser vornehmliches Interesse gilt dem Album. Das muß von den Songs her rund und stimmig sein. Was dann später damit geschieht, überlassen wir anderen.“

Aber auch nicht immer. Wohl wissend, daß man mit „Wind Of Change“ das angestammte Rock-Publikum irritieren würde, legten die Scorpions in diesem Fall ihr Veto ein: „Unsere Plattenfirma plädierte damals für, Wind Of Change 1 als erste Single-Auskopplung. Wir hingegen bestanden darauf, den Rocker, Tease Me Please Me‘ als erste Single weltweit zu veröffentlichen. Schließlich hatten wir neun Rock-Songs und nur zwei Balladen auf dem Album.“

Langfristig sicher die richtige Entscheidung, kommerziell aber — zunächst — ein Fehltritt: Das Album verkaufte sich nur zäh und kam erst ins Laufen, als mit sechsmonatiger Verzögerung „Wind Of Change 1 “ ausgekoppelt wurde.

Tony Ioannou, Manager bei der Scorpions-Firma Phonogram, versucht kommerzielle wie kreative Aspekte unter einen Hut zu bringen:

„Selbst wenn das Heavy-Image anderes glauben macht: Auch Hardrocker haben Gefiihle. Das mit einer Ballade zu zeigen, ist nicht nur legitim, sondern gleichzeitig geschäftsfördernd. Auf der einen Seile nämlich ist das Hardrock-Publikum froh, auch mal was anderes ab cool sein zu können; auf der anderen Seite sagt das Pop-Publikum:,Mensch, die haben zwar lange Haare, sind aber trotzdem ganz süß.‘ Und beide Seiten kaufen die Platte.“

Trotz enormer Erfolge haben viele Hardrocker Probleme mit ihrer Balladenlastigkeit. Sie haben Angst, die Identität und damit den bodennahen Kontakt zu ihren eingeschworenen Fans zu verlieren. Immerhin stellt der gesamte Bereich Hardrock eine äußerst homogene Szene dar. Wer sich beim Pop-Publikum zu sehr anbiedert, fällt schnell aus dem engen Zirkel und wird vom angestammten Publikum wie von den Kollegen als „Poser“ abgetan.

„Letztlich ist das Hardrock-Publikum stockkonsen’ativ“, weiß Tony Ioannou. „Die Fans setzen sich zwar äußerlich von der Normalität ab, doch innerhalb ihrer Gruppe vertragen sie keine Veränderungen.“

Das stellt die Bands vor Probleme: Wollen sie den Crossover-Erfolg und die zahlungskräftige Teen-Klientel erobern und gleichzeitig die Gefahr eingehen, ihr altes, zuverlässiges Publikum zu vergraulen, oder wollen sie lieber auf den finanziell attraktiven Segen der Pickelpresse verzichten und dafür saubere Heavy-Helden sein? Das alte Dilemma: Reich werden oder integer bleiben.

Noch vor einem Jahr stand für Nuno Bettencourt und Kollegen von Extreme fest: „Wir könnten eine Million Platten verkaufen, aber wenn es nur zwölfjährige Mädels sind, die denken, einer von uns sei hübsch, scheißen wir auf dieses Publikum. Natürlich willst du reich sein, doch wie weit kann man gehen ?“ Und Sänger Gary Cherone fügte hinzu: „Wir sind fertig mit Bands wie Poison oder Warram. Wir sind keine Poser und wir sind auch nicht hübsch.“

Letzteres jedoch ist erwiesenermaßen unwahr: Gitarrist und Songschreiber Nuno Bettencourt gilt als momentan attraktivster Mann im Rockzirkus. Mit seinem überaus ästhetischen Tattoo und einem geschmackvollen schwarz-weiß Video zu „More Than Words“ erfüllen Bettencourt und Extreme sämtliche Anforderungen an eine moderne Popband. Auch wenn sie sich weigern, das einzusehen.

Die geringsten Probleme mit dem Kuschel-Erfolg haben alte Hasen wie die Scorpions. Schon 1984 gelang ihnen eine breitenwirksame Ballade mit ,,Still Loving You“. Auch damals steckten die Hannoveraner Bösartigkeiten und Sticheleien locker weg und zählten lieber die Schecks. Und wenn der pfeifende Klaus Meine heute als „Ilse Werner des Hardrock“ verulkt wird, kratzt ihn das wenig. Haben doch die Scorpions mit „Wind Of Change'“ die Ballade des Jahres komponiert: Zehn Millionen mal verkauften sich Single und Album weltweit.

Auch Bryan Adams, der mit „(Everything I Do) I Do It For You“ den Hit zu Kevin Costners Robin-Hood-Erfolg schrieb, steckte die zusätzliche Kohle dankend ein und ging zur Tagesordnung über. Das tun inzwischen auch immer mehr Radiostationen, Fernsehsender, Zeitschriften und Plattenfirmen. Denn das Überangebot an Kuschelei ermüdet doch allmählich. Die Balladenwelle ebbt schon wieder ab. „Die große Kuschelwelle im Hardrock hat sich bald totgelaufen“, meint Sven Sturm, für Heavy-Rock zuständiger Product-Manager bei der Hamburger Polydor. „Trotz der hohen Qualität vieler Balladen sind die Stücke oft doch zu identisch. Da jetzt eine Menge Bands und Firmen nochmal schnell eine softe Single auf den Markt werfen und abkassieren wollen, erledigt sich der Trend von selbst.“

Die alte Business-Weisheit gilt auch hier: Drei Balladen sind schön, sechs gehen auch noch, aber 60 verträgt kein Mensch mehr.