Kurz & Klein
Die Ära „physischer“ Tonträger (bzw. Datenträger, was etwas komplett anderes ist, womit wir uns jetzt aber nicht den Tag vermüffeln wollen) geht zu Ende, habe ich mir sagen lassen. Na gut, 150.000 Jahre lang ist der Mensch ohne konservierte Geräusche ausgekommen, da wird er ein paar Jahre mit wirr herumschwirrendem MP3-Zeug überstehen und irgendwann einfach wieder selber singen, notfalls nach dem Liederbuch. Weil die Dokumentationstechniken – von Steininschrift über Papyrus und Hanfpapier bis zu CD und virtuellem Impuls – immer kurzlebiger werden, stehen wahrscheinlich schon die Kindeskinder unserer Kindeskinder ratlos da, wenn sie beim Löchergraben zufällig mal nicht auf ein Atommülldepot, sondern auf Millionenhalden blinkender Scheiben stoßen, die offenbar irgendwann jemand hergestellt hat – aber wozu? Um sich anzuhören, wie Menschen versuchen, mit Tönen Geld zu verdienen, könnten wir ihnen testamentarisch zurufen, aber es glaubt doch kein Mensch, dass das jemals jemand wollte.
Zumal sich beispielsweise mit dem kalifornischen Tralala-Sonnenpop der Little Ones kaum Nasen vergolden lassen. morning tide (Heavenly/Universal) hat ein paar nette Songs, ist aber so durchschnittlich und gesichtslos, dass man sich zehn Minuten danach nur noch deswegen daran erinnert, weil der aufdringlich süße Nachgeschmack im Ohr bleibt. Ebenso vergeblich müht sich Yoav um Aufmerksamkeit: charmed and strange (Island/Universal) ist keins von beiden, nur nett und harmlos und bald langweilig, trotz der interessanten Idee, jeden Ton (außer dem Gesang) auf einer Art Wundergitarre zu spielen.
Seltsam andererseits, wie sympathisch Mittelmaß manchmal sein kann. Die Old Crow Medicine Show zum Beispiel: Jeden ihrer Songs, jede ihrer Textzeilen hat man hier und da schon mal gehört, meist dutzendweise, und dass Don Was tennessee pusher (Nettwerk – man beachte den angemessenen Labelnamen!) produziert hat, spielt auch keine distinguierende Rolle. In der Kneipe oder im Bierzelt haut diese Americana-by-numbers-Straßenkapelle bestimmt recht pfundig rein, aber man nimmt ja auch nicht jede lustige Wochentagsparty auf DVD auf (oder macht man das heute?), und wenn hier draufstünde „recorded at the Faschingsfeier of the Freiwillige Feuerwehr Dustytown“, dann täten wir das auch glauben. Trotzdem findet man die fünf Burschen irgendwie nett und hört ihnen mit gemächlich schmelzendem Hartherzen und langsam ins Verträumte schwindender Aufmerksamkeit zu. Was man bei Vincents lucky thirteen (Little Stereo/Sony BMG) gerne unterlässt, wenn man nicht muss. Der „Glückspilz“ mit „vorzüglichem Klamottengeschmack“, ein „blonder Schwede‘ 1 aus dem „quirligen Stockholm“ mit „Sonne im Blut und Musik im Herzen“ (alle Zitate aus dem beiliegenden Luxusprospekt) tut etwas eigentlich sehr Schwedisches: Er äfft nach. Knödelt über indifferentes, hochkompetent erstelltes Song-Material (!) die gängigsten Reime und banalsten Melodien und missversteht, wie das heute im R’n’B üblich ist, stimmliche Gequältheit als Soul oder Blues oder sonstige Ekstase. Gegen Ende werden Songwriting und Arrangements ein bisschen einfallsreicher, aber das Ganze klingt wie von Friedrich Merz im Auftrag der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ fürs Supermarkt-Impulskaufprogramm produziert, erinnert funktionell an die sinnigen Sprays, mit denen man alten Autos den Plastikkotzegeruch neuer Autos einsprühen kann, eignet sich auch am ehesten für die Autobahn, weil die Hochglanzbeschallung einen wenigstens davon ablenkt, dass man in permanenter Lebensgefahr schwebt, und hinterlässt einen Nachgeschmack wie ein Besuch im Fastfoodschuppen, wenn man dort ausschließlich Verpackungen verzehrt.
Den Vorlagen, die er imitiert, kommt James Hunter wesentlich näher, nicht nur stimmlich: the hard way (Universal) könnte auch 1958 entstanden sein und stellt mal wieder die Urfrage nach der Authentizität. Denn freilich ist das bei aller Beliebigkeit von Songwriting und Betextung saumäßig gut gespielt und gesungen und klingt absolut original wie damals – ist es aber nun mal nicht, und alles Staunen über den gelungenen Trick entlädt sich letztlich in der Frustration, hereingefallen zu sein. Das gilt bei ähnlicher Ausgangslage nicht so sehr für The Rancors, weil der hochenergetische Knüppelpunk auf weg (S&S/New Music) zwar ziemlich haargenau so klingt wie Slime 1980 – und weitaus besser und haargenauer als die meisten Slime-Epigonen nach 1980, bis hin zu dem fast noch unenglischeren Englisch in den „englischen“ Texten. Aber hinter den Lawinen von Gitarren und Grölchorälen brennt eine echte Wut und Frustration, die entladend auf den Hörer überspringen oder doch zumindest die Bezeichnung „authentisch“ plausibler machen. Ohne Vorbilder kommen auch Matt Boroff &The Mirrors nicht aus: Elevator ride (Low End/Sony BMG) ist ein schmerzhaft schönes Bad in Scherben und Splittern von Tom Waits, Nick Cave und den Pixies, das dann am besten tut, wenn die Stimmung blaugrau wird; die heftigeren Attacken hingegen wirken etwas aufgesetzt böse und kaputt.
Dass man dem alten Bastard Rockmusik noch ein paar neue Blutstropfen abwringen kann, wissen wir, aber dass es so geht, wie es Attack In Black auf marriage (Hazzle/PIAS/ Rough Trade) machen, hätte ich nicht gedacht: ohne Sperenzchen und Verarbeitung von „Elementen“, mit ganz unspektakulärer, aber ungeheuer druckvoller Produktion – und 12 derart guten, originellen Songs, dass einen nichts daran an irgendwas erinnert. Zwischen Gitarrenwände und hymnische Melodien schieben sich atmosphärisch-nüchterne Leisepassagen, jeder Song geht sofort ins Ohr, und wenn er das mal nicht tut, geht er spätestens im C-Teil derart in die Luft, dass man sich kaum noch halten mag. Die vier Kanadier kommen eindeutig vom modernen Punk, meinetwegen mit Emo-Einschlag, aber was sie spielen, hätte man vor 30 Jahren ins Regal „Power-Pop“ gestellt – Fans von Bands wie Keys, Yachts und Barracudas könnte es passieren, dass ihnen bei aller Gegenwärtigkeit dieser Musik die Haare zu Berge stehen vor nostalgischer Euphorie.
Wenig Glück in Sachen Sympathie haben Kolkhorst. Die brettern auf wir bleiben alle (Tapete/Indigo) nervtötend zickigen Monoton-Elektrorock zu den dümmsten Texten, die ich seit Langem gehört habe; erst die letzte Nummer ist erträglich, beim zweiten Hören sogar ganz schön. Und Dear John Letter haben sich zwar große Mühe bei der Gestaltung von betweek leaves/forestal (Popup/Cargo) gegeben, aber das, was in dem hübsch genähten Cover drinsteckt, ist mehr Anspruch als Umsetzung: schwer walzender, epischer Breitwand-Rock, steilenweise imaginativ, aber größtenteils öde, unprogressiv und leider auch nicht sonderlich gut und einfühlsam gespielt. Emirsian spielt auf yelq (Noisolution) viel weniger, aber mit sparsamer Instrumentierung gelingt es ihm viel besser, einen verregneten Tag mit melancholisch schwebender Nebelstimmung und Anklängen seiner armenischen Heimat zu erfüllen. Leider hat er vergessen, einen Song zu schreiben, der im Gedächtnis bleibt, aber das tut der angenehmen Atmosphäre keinen Abbruch.
Ganz bestimmt nicht lösen lässt sich das Produkt-Produktions-Rätsel mit David Gilmours Doppel- bis Quintupel-CD/D VD live in gdansk (EMI): Wenn es auf Erden noch einen Menschen gibt, der keine Version von „Shine On You Crazy Diamond“, „Fat Old Sun“ und „Comfortably Numb“ zu Hause hat, dann wird dieser Mensch seine Gründe haben. Der braucht auch Gilmours letztes Soloalbum in (mit einer Ausnahme) originalgetreuer Abfolge nicht noch mal, Orchesterbegleitung hin oder her, und wenn er „Wish You Were Here“ singen möchte, dann kann er das selbst, auch ohne Liederbuch und „physische“ Vorlage.