Kraftwerk: Kling Klang Intim


17 Jahre lang war Wolfgang Flür Schlagzeuger bei Deutschlands wichtigster Elektronik-Band. In seinem Buch Ich war ein Roboter erzählt Flür seine ganz persönliche Geschichte Kraftwerks. Erste Einblicke ins Kling Klang-Universum gibt's exklusiv in ME/Sounds.

DÜSSELDORF, 19. JULI 1972 Im heißesten Sommer der frühen Siebziger Jahre suchten mich Ralf Hütter und Florian Schneider-Esleben in dem Architekturbüro auf, wo ich mein Praktikum für Ladenbau absolvierte. Nun also standen diese beiden Herren plötzlich in meinem Büro und drucksten ein bißchen herum. Sie fingen an, mir Komplimente zu machen. Hätten mich früher mit meiner Band in einem Club in Mönchengladbach gesehen und gehört, wie ich Schlagzeug spielte. Ralf und Florian meinten, daß ich „so’n juter Drummer“ wäre. Mein Timing sei klasse, und ich würde schön wenig spielen. Tatsächlich fragten mich die beiden, ob ich nicht Lust hätte, einmal mit ihnen in ihren Proberaum zu kommen, um eine Session zu machen. Das überraschte mich nun wirklich, da ich mir überhaupt nicht vorstellen konnte, wo mein Platz in ihrer Musik hätte sein können. Doch die Verlockung, wieder Musik machen zu können, und das angenehme Gefühl ihrer Schmeichelei ließen mir keine andere Wahl, als den beiden eine vorsichtige Zusage zu machen. Wir verabredeten uns also für den nächsten Abend im „Mata Hari“, einem modernen Passagenbistro in der Altstadt, das für sein halbseidenes Publikum bekannt war.

Als ich zum verabredeten Zeitpunkt im „Mata Hari“ eintraf, saßen Ralf und Florian dort schon auf einer gepolsterten Eckbank an einem kleinen Tischchen, von wo aus sie einen guten Überblick über das Kommen und Gehen hatten. Eine knallige Beleuchtung aus vielen bunten Neons und Werbeschildern tauchte das gesamte Etablissement in eine kitschige Atmosphäre. Ralf saß mit eng überkreuzten Beinen auf der Bank. Er wirkte sehr puppenhaft mit seinem weißen Teint. Schüchtern grinste er, aber offensichtlich genoß er die Situation. Mit seiner altmodischen Kassengestellbrille aus den fünfziger Jahren und seinen schulterlangen Haaren ähnelte er eher einer Figur aus einem klassischen Psycho-Film. Er wirkte ganz schön feminin auf mich, und das gefiel mirgut, weil ich Männer mit femininen Attitüden mochte. Florian dagegen hatte eine Vorliebe für deutsche Folkloremode: Lodenjankerl, Baumwollhemd mit Pepitamuster, Flanellhose und ein elegantes Flalstuch. Er hätte in einem deutschen Heimatfilm mitspielen können. Mir kamen die beiden sehr abgehoben vor.

Unsere Unterhaltung war mehr eine Übersprungshandlung, und unser Meeting war irgendwie peinlich und verklemmt. Ralf schlug vor, daß wir einfach mal rüber in ihren Übungsraum fahren sollten. „Mal sehen, was wir da so machen können, hmhm-hm …“ Er hatte eine sonderbare Art, sich zu räuspern, wenn er unsicher oder wenn ihm etwas peinlich war.

Wir fuhren zu einem gelb gekachelten Haus mit einem großen Rolltor, ein häßliches Gebäude aus den fünfziger Jahren mit vielen gleich großen Fenstern. Florian schloß mit einem BKS-Schlüssel das Elektroschloß seitlich des Tores auf. Dieses setzte sich mit einem lauten, metallischen Knacken in Bewegung. Das Geräusch habe ich so oft gehört, daß es heute noch in meinem Kopf gespeichert ist. Wir gingen über die Rampe durch eine offenstehende Gebäudetür aus Stahl und standen vor einer einfachen Holztür billiger Qualität. Nachdem einer der beiden Jungs sie aufgeschlossen hatte, gingen wir durch einen kleinen Vorraum, der voller Gerumpel lag, und dann durch eine weitere, ebenso amateurhaft wirkende Türe. Diese war nicht verschlossen, da wir uns schon im Studio selbst befanden: ein Saal mit ungefähr zehn mal sechs Metern Ausdehnung und ungefähr viereinhalb Meter hoch. Es gab zwei auf dem Boden stehende Neonkästen in hellblauer Leuchtschrift mit den Vornamen der beiden Musiker. Dazu schaltete Florian noch einige farbige Neonröhren ein, die in den Ecken auf dem Boden lagen und die Wände in kaltes buntes Licht tauchten. Florian bemerkte meine befremdliche Stimmung und versuchte, mit netten Worten und charmanten Witzchen ein wenig Verbindlichkeit zu schaffen. Ich hatte das Gefühl, daß er mich sehr mochte, während mir Ralf gefühlsmäßig distanziert vorkam. Zögernd gingen die beiden an ihre Instrumente, knipsten diverse Schalter an und ließen viele Lämpchen aufleuchten. Die ersten Tasten, die sie drückten, ließen für meine Ohren nie gehörte Sounds erklingen. Ich wußte ja nicht, daß sie einen Synthesizer benutzten. Der Synthie klang samtartig satt oder gnadenlos hart. Und ich war einigermaßen überrascht. Ralf zeigte mir jetzt voller Stolz seinen Synthesizer. Ein Minimoog war es, so teuer wie ein neuer VW. Aber was sollte ich nun hier? Es gab ja gar kein richtiges Schlagzeug. Nur ein kleines Miniaturset für Kinder oder ganz kleine Menschen stand hinten links in der fensterlosen Ecke. Trotzdem bemühte ich mich, eine Sitzposition dahinter auf dem immerhin professionellen Drummer-Sitz einzunehmen. Dann trommelte ich drauflos und versuchte, auf meine Weise zu den Klängen der beiden einen stützenden Rhythmus zu spielen. Ralf und Florian zeigten keinerlei Reaktion. Nach gut zwei Stunden brachen wir dann den Abend ab, und Ralf fuhr mich mit seinem VW zu meiner Bude zurück. Später, wieder im Architekturbüro meines Chefs, dachte ich bald nicht mehr an die Begegnung mit den beiden Merkwürden.

Eines Nachmittags klopfte es an die Tür des Büros, wo ich gerade an einer großen Grundrißzeichnung saß. Erneut besuchten mich Ralf und Florian und fragten: „Hallo Wolfgang, wir fanden das damals ganz gut mit dir im Probenraum. Hättest du nicht Lust, daß wir uns noch einmal treffen?“ Ich war total überrascht und hatte mit einem weiteren Treffen nicht mehr gerechnet, da unser letztes bestimmt zwei Monate zurücklag, und ich mich bei ihnen nicht wieder gemeldet hatte und sie sich auch nicht bei mir. So dachte ich, die Sache sei wohl erledigt. Ralf eröffnete mir dann: „Wir haben übernächste Woche im ZDF einen Fernsehauftritt im Kulturmagazin ,Aspekte‘. Wir fänden es toll, wenn du mitmachst. Wir hatten nämlich ein gutes Gefühl, mit dir zu spielen. Es gibt auch Kohle dafür, und wir fliegen zusammen übers Wochenende nach Berlin, haben ein Hotel und gehen abends aus.“ Ich konnte gar nicht verstehen, was sie so toll gefunden hatten an unserer Session, hatte ich doch noch gar nicht richtig gespielt. Ralfs Angebot wirkte so, als stünden sie unter Zeitdruck. Ich konnte den Gedanken auch nicht abschütteln, daß sie vielleicht keinen anderen Drummer finden konnten. Jedenfalls war ich ziemlich unsicher, was ich machen sollte. Trotzdem verwarf ich meine Zweifel. Hinaus, hinaus auf die Bühne! Das war es, was midi reizte. Unterwegs sein! Musik machen! Man wird sich schon noch arrangieren und gewöhnen. Ich sah eine Chance und griff zu.

DÜSSELDORF, 11. JULI 1975 Florian rief uns in der Berger Allee an. Er wollte mit uns zum Kaffeetrinken fahren. Er verspätete sich jedoch, und Emil klopfte irgendwann an meine Zimmertür, um mich an sein Fenster zu rufen, das zur Straße hin lag. „Schau doch mal raus, wer da gerade vorgefahren ist, Wolfgang“, sagte er. Draußen stand ein riesiges dunkelblaues Auto. Es war tatsächlich unglaublich groß und hatte einen bierdeckelgroßen Mercedes-Stern auf der Motorhaube. Ich dachte, unser Bundespräsident fährt da vor und staunte nicht schlecht. Im gleichen Moment klingelte es, Florian war da. Er grinste geheimnisvoll und lud uns zu einer Spritztour ein. Es war nicht zu glauben, welch ein Luxus in seiner neuen Limousine herrschte. Florian erklärte uns, er habe den Wagen sehr günstig beim Gebrauchtwagenhändler Becker erstanden. Florian liebte großvolumige Autos, und außerdem glaube ich, daß er seinem Vater damit etwas demonstrieren wollte. Daß er aber damals schon so viel Geld verdient hatte, stimmte mich nachdenklich. Natürlich genoß ich es, von ihm herumgefahren zu werden und mit seinem Luxusschlitten unseren Starkult zu demonstrieren. Aber plötzlich war da ein unübersehbares Hindernis zwischen uns: Ich muß gestehen, daß ich Neid verspürte, und Florians protzige Demonstration schien sich außerdem vor allem an mich und Karl zu wenden. Er erzählte weiter: „Ich muß meinem Vater den Kessel einfach mal vor die Garagentür stellen, wenn er morgens mit seinem 280 SL ins Büro fährt, damit er endlich kapiert, daß man mit Popmusik auch Geld verdienen kann.“

DÜSSELDORF UND UMGEBUNG 1976 BIS 1981 Zwischen unseren Studioaufnahmen und Bastelaktionen machten wir die Discotheken der gesamten Umgebung von Düsseldorf zu unserem Nachtasyl. Ich trank kaum Alkohol. Nur Sekt mochte ich mittlerweile gern, weil er so schön anregte. Mit Sekt ging es schon leichter mit dem Flirten. Unsere Lieblingsdiscothek „Mora“ lag mitten in der Düsseldorfer AltStadt in der Schneider-Wibbel-Gasse. Hier arbeitete ein Kellner, der jeden neuen Gast mit denselben Suggestivworten begrüßte „Hallöchen! Sekt? Korrrrrrrekt! Man hatte keine Chance zu Wider worten, da sich der Kellner die Antwort schon selbst gegeben hatte. Er verkaufte den Gästen so gern Schaumwein, weil er daran ganz einfach die meisten Prozente verdiente. Den Vergnügungssuchenden drängte er den Luxussaft regelrecht auf.

Für Aufnahmen unseres Songs „Das Model“ luden wir ihn in unser Studio ein. Er sollte seinen süffisanten Spruch einmal direkt in unser Mikrofon sagen, weil wir ihn so oft gehört hatten, und weil er auch die Düsseldorfer Schickimicki-Welt so gut auf den Punkt brachte. So kam er mit dem geschäftstüchtigen „Sekt? Korrrrrrrrekt!“ in unseren berühmtesten Song. „Das Model“ hat übrigens eine wahre Vorgeschichte: Ein anderes Bistro, das „Bagel“, lag am Rand der Düsseldorfer Altstadt; es war ein schicker In-Treff für Models, Werber, Fotografen, Playboys und solche, die es gern gewesen wären. Christa Becker und ihre Schwester waren begehrte Models, und ihre Fashion-Fotografen hingen ebenfalls, ständig nach Frischfleisch lechzend, in dieser lasziven Szene herum. Ralf und Emil waren total auf Christa Becker fixiert. Sie muß wie eine Sphinx auf die beiden gewirkt haben, denn ich hörte sie immer wieder über das schöne Mädchen reden und von ihr schwärmen. Obwohl das Fotomodell keinen Blick für die beiden übrig hatte, liefen Ralf und Emil immer wieder ins „Bagel“, um Christa zu bestaunen. Sie waren wie besessen von ihr und dichteten einen Text über sie: „Sie ist ein Model, und sie sieht gut aus. Ich nahm‘ sie heut‘ gerne mit zu mir nach Haus‘ …“

DÜSSELDORF,5. DEZEMBER 1981 Unsere Deutschlandreise war von gemischten Erfolgen und traurigen Gefühlen begleitet. Unser Zusammenhalt begann zu bröckeln. Der gute Emil hatte sich völlig unerwartet von uns verabschiedet und war auf die Bahamas ausgewandert. Er hatte sich als erster verändert; er war nicht mehr so glücklich mit der Kraftwerk-Themenwelt und unserem Umgang untereinander.

Die Musikwelt hatte begriffen, daß wir ein völlig neues Musikgenre erfunden hatten, den Technopop. Früher hatte ich mit meinen Amateurbands die englischen Gitarrengruppen imitiert und ihren Beat auf altmodische Trommelfelle geklopft, letzt waren wir die Väter des Elektropop oder „Robo-Pop“, wie Ralf es gern nannte. Unsere Stimmung war bei den winterlichen Deutschlandkonzerten allerdings auf einem Tiefpunkt angelangt. Wir waren entkräftet vom monatelangen Reisen und den vielen Auftritten.

DÜSSELDORF, MAI 1982 Florian und Ralf hatten sich teuerste Rennräder zugelegt und waren immer öfter mit Radsportfreunden in der Umgebung Düsseldorfs und in der üppigen Natur des Bergischen Landes zu sehen. Ein Wettbewerb, der Erste sein zu wollen, entwickelte sich bei ihnen, den sie in meinen Augen fast schon genauso fanatisch austrugen, wie sie früher unsere Musik entwickelt hatten. Das führte dazu, daß sie lieber die Fahrradprospekte von „Campagnolo“, „Shimano“ und anderen Zubehörfirmen studierten, anstatt Ideen für neue Musiktitel auszuhecken, wenn wir uns im Kling Klang-Studio trafen. Speziell für Ralf schien das Rad eine heftige Alternative zum Synthesizer geworden zu sein. Er lief fast nur noch in enganliegender, schwarzer Rennradkleidung herum und hatte sich die Beine rasiert und eingeölt, wie es die Profis tun. Die ganze Begeisterung gipfelte darin, daß er 1983 einen Song komponierte, der die klassische Tour de France beschrieb und am 5. Juli 1999 wiederveröffentlicht wurde. „Tour de France“ wurde manchmal als Trailer vor Etappenübertragungen der Fernsehanstalten gespielt.

Manchmal sah ich die Kollegen wochenlang gar nicht, und wir begegneten uns eher in den Discotheken Kölns anstatt im Kling Klang. Ich fühlte mich mehr und mehr überflüssig. Überhaupt fiel mir immer öfter auf, daß ich mich selbst in einer Phase der starken Veränderung befand. Mein emotionales Wesen wollte nicht mehr so recht zu meinen rationalen Freunden passen. Ich vermißte Herzlichkeit und menschliche Wärme. Bei Kraftwerk wuchsen mir unterdessen künstlerische Komplexe. Je länger ich dabei war, um so mehr fühlte ich mich unzufrieden und mit meinen Ideen und Fähigkeiten gar nicht mehr wahrgenommen. Es machte mir keinen Spaß mehr, weil meine Freunde an etwas anderem ihren Spaß gefunden hatten, das nicht meine Sache war. Ich merkte es doch ganz genau: Das Radfahren war ihre neue Leidenschaft. Dabei wollte ich aber nicht mitmachen. Das Musizieren und Erfinden war für mich nicht mehr möglich. Ich spürte instinktiv: Für Kraftwerk war ich nicht mehr zu retten.

DÜSSELDORF 1987 Nach den letzten gemeinsamen Arbeiten für „Electric Cafe“ ging ich kaum noch ins Studio. Es gab nichts Musikalisches mehr für mich zu tun, und nach der Veröffentlichung war auch keine Tournee angesagt, weil kein Song auch nur in die Nähe der Top Ten gewandert war. In der folgenden Zeit beschäftigte ich mich mit Möbeldesign im Atelier von Freunden. Von Ralf und Florian gab es aber keine Rückrufversuche, keine Anstalten eines Kontakts überhaupt. Sie antworteten nicht einmal auf Briefe von mir. Was war geschehen? Was hatte sie so stumm gemacht? 1989 erreichte ich tatsächlich ein letztes mal Ralf in seiner Wohnung am Telefon. Ich sagte: „Hallo Ralf, hier ist Wolfgang. Können wir uns nicht mal treffen und aussprechen?“ Ralf antwortete: „Welcher Wolfgang? Ich kenne keinen Wolfgang!“ Und damit legte er auf. Das traf mich hart.

Trotzdem trafen wir uns noch einmal im Spätsommer 1996 bei Kaffee und Pflaumenkuchen an der Rheinfähre in Düsseldorf-Kaiserswerth. Eine Mutation hatte in Ralf stattgefunden. Der Künstler war nirgendwo mehr zu entdecken für mich, dafür sah ich in ein äußerst waches und dynamisches Sportlergesicht. Ralf sprach nur in Begriffen wie „größer“, „höher“, „perfekter“ und „noch mehr“ über ihr Studio und ihre Roboter, und er redete darüber, als spreche er über eine neue, noch ruckfreiere Campagnolo-Gangschaltung. Er merkte gar nicht, wie sehr mich das alles mittlerweile langweilte. Ich hätte mir statt dessen viel mehr gewünscht, Neues über menschliche Themen zu hören oder über seine musikalischen Ideen. Es hätte mich brennend interessiert, ob er eine musikalische Zukunft für sich sieht. Und dann sagte Ralf tatsächlich zu mir: „Ich kann mir durchaus vorstellen, wieder mit dir auf der Bühne zu stehen.“ Das haute mich nun wirklich um, und ich fühlte aufkeimende Wut. „Warum dies jetzt, nach so vielen wortlosen lahren?“ fragte ich mich innerlich. Nun kam Ralf allerdings ein paar Jahre zu spät. Leidenschaftlich hatte ich Yamo für mich entwickelt und war mittendrin in Aufnahmen für das „Time-Pie“-Album, wovon ich ihm aber nichts erzählte.