Kraftwerk – Das neue Modell


Als sie 1981 von der Bühne abtraten, war den Wegbereitern der vollsynthetischen Computerfreuden ein Platz im Pop-Olymp sicher. Zehn Jahre und unzählige Mega-Bytes später schicken sie ihre chipsfrischen Roboter nun noch mal ins Rennen. Über die menschlichen Beweggründe computerte ME/Sounds-Mitarbeiter Andreas Graf mit Kraftwerk-König Ralf Hütter.

Kraftwerk?

Wer im Sommer’91 den Namen hört, muß zunächst in seiner Erinnerung kramen. War das nicht, gab’s da nicht, hatten die nicht…? Jawohl — „Autobahn“. „Radioaktivität“. „Trans-Europa-Express“. „Die Rrroboterr“. Es sind paradoxerweise eher die wilden Siebziger, die beim Gedanken an die kühl-konstruierten Töne ins Bewußtsein rücken — und nicht, wie man vorschnell assoziieren könnte, die glatten Achtziger.

Begonnen hatte alles sogar schon Ende der Sechziger. Nur wenige Jahre nachdem ein Aufschrei durch die Musikwelt ging, weil ein Sänger namens Bob Dylan die Akustik-Klampfe mit der E-Gitarre vertauschte, produzierte Kraftwerk bereits rein synthetische Töne. Der größte Kraftwerk-Hit der Achtziger, „Das Modell“, war eine späte Auskopplung aus dem 78er Album MENSCH MASCHINE: die freilich kletterte in den englischen Charts des Jahres 1982 bis auf Platz 1 und löste dort eine wahre Kraftwerk-Euphorie aus. Vor diesem Hintergrund scheint es nur konsequent, wenn jetzt, im Sommer ’91. mit einer neuen Doppel-LP zunächst einmal altes Material präsentiert wird. Die Gruppe macht sich rar, arbeitet auf, werkelt gleichzeitig weiter an ihrem Nimbus des Exklusiven, den mit Tanzbarkeit und Pop zu paaren ein weiteres der Paradoxa ist, die die Medienexistenz von Kraftwerk ausmachen.

Zum Interview in der Kölner EMI-Niederlassung kommt Ralf Hütter, neben Florian Schneider einer der beiden Köpfe, eine Stunde zu spät. Mit Alfred Biolek müssen für den bevorstehenden TV-Auftritt erst noch Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt werden: Biolek ist nicht bereit, den Kraftwerk-Part — wie von der Gruppe ursprünglich geplant — allein von deren Robotern bestreiten zu lassen. Biolek will Menschen präsentieren. Dabei hätte er wissen können, daß das Projekt „Mensch-Maschine“ zum festen konzeptionellen Bestand der Kraftwerker gehört. Schon 1978 hatten die Musiker ihre aktuelle LP gleichzeitig in Paris und New York vorgestellt, sich selbst dabei unter die Premierengäste gemischt und ihre Rolle von Puppen übernehmen lassen.

Da Hütter sich Zeit läßt, ist reichlich Muße zum vorkostenden Kennenlernen der neuen Platte. EMI-Pressebetreuer Harald Engel führt mich ins Studio Tl, wirft den DAT-Rekorder an — „Es lohnt sich!“ — und läßt mich mit den Kraftwerk-Klängen allein. Das schallisolierte Kabuff verführt zum Ausbruch. Ich ertappe mich manchmal dabei, wie ich den Wolkenflug überm Backsteingebäude gegenüber gespannter verfolge als die Musik aus den Lautsprechern. Plötzlich fixiert mein Blick die Studiouhr — hergestellt aus einer BASF-Tonspule — und für kurze Zeit glaube ich tatsächlich den Kling-Klang-Toncomputer der Kraftwerks bei einer Ungenauigkeit erwischt zu haben: Beim Stück“Heimcomputer“ rückt der rote Sekundenzeiger für etwa 20 Sekunden genau im Rhythmus der Maschine vor. dann kommt es zu einer Phasenverschiebung — Zeiger und Maschine sind aus dem Takt. Nach genau einer Minute werden Takt und Zeiger wieder deckungsgleich, dann wieder verschoben usw. Auch das also war Kalkül.

Vergleiche drängen sich auf: das Paradox etwa, daß diese Düsseldorfer Truppe — Ideologen des Musikalisch-Synthetischen — ausgerechnet in Köln präsentiert wird, wo musikalisch und literarisch nur ein Bein auf die Erde kriegt, wer sich möglichst bodenständig präsentiert (BAP, Grönemeyer, Zeltinger, Black Fööss, Piano Has Been Drinking…); Rock-Romantik und Gefühl haben im „Heiligen“ Köln seit Menschengedenken ihren festen Platz. Aus Düsseldorf dagegen, der Metropole der Werbeagenturen, kommen Kraftwerk mit ihrer kalkulierten Eleganz und intellektuellen Genauigkeit. (Vergleiche hinken freilich: Die Toten Hosen aus der NRW-Landeshauptstadt sind schließlich lebendiger denn je.)

Auch Ralf Hütter läßt sich, als er dann doch noch eintrifft, auf derlei lokalambitionierten Separatismus erwartungsgemäß überhaupt nicht ein. „Wir sind Weltbürger“, sagt er, „unsere Heimat ist der Globus. “ Er wirkt anders, als ich erwartet habe. Statt eines stromlinienförmigen Medienprofis und wortgewandten Interpreten der eigenen Sache sitzt mir ein dünnhäutiger Mensch gegenüber, der seine offenbare Nervosität kaum verbergen kann. Sehr wortkarg, mit beiden Augen blinzelnd, antwortet er oft nur kurz, nickt, bestätigt, läßt mich meine Theorien vortragen, korrigiert gelegentlich, bleibt immer freundlich, verbindlich. Die schwarzen Klamotten bestätigen schon eher das vorher entworfene Bild. Was denn für ihn das Neue an dem jetzt vorgelegten Album sei, will ich wissen. Die vier Seiten der Doppel-LP sind ausschließlich mit altem Material bestückt, das allerdings auf den laufenden Stand der technischen Dinge gebracht wurde. Antwort: das digitale Aufnahmeverfahren. „Erst heute, nach 15, 20 Jahren, ist die technische Entwicklung so weit, daß die Aufnahmemöglichkeiten mit unseren Vorstellungen mithalten können, daß also Idee und Produkt weitgehend deckungsgleich sind. Erst jetzt ist die Hardware so weit, daß sie die Software in unseren Köpfen angemessen umsetzen kann. Du probierst nun, drückst auf den Knopf und das isses.“

Ich bringe andere Bands ins Gespräch. „,’YW/i, das interessiert uns nicht. Das ist Dichtung mit musikalischer Begleitung. An der Sprache ist für uns zunächst das Klangliche interessant, die Verknappung. “ Wo dann die Ideen herkämen? „Von überall, wir machen Umweltmusik. Wir sind nur das Medium, durch das hindurch unsere Musik entsteht. Das fliegt uns an“— er sagt es mehrfach — „wie zum Beispiel ‚Autobahn‘ oder ‚Radioaktivität‘.“

Auf Nachfrage präzisiert er. „Wir nehmen von den Umwelteinflüssen natürlich nur das, was uns interessiert, was wir also für wichtig halten. Zeitgeist, dieses in den letzten Jahren sehr abgenutzte Wort, ist sehr wichtig für uns. Wir spiegeln den Zeitgeist. Und natürlich sind wir eine urbane Band, wir machen urbane Musik. Unser Studio liegt zum Beispiel in der Nähe des Düsseldorfer Hauptbahnhofes, da kriegen wir schon mit, was so abläuft.“

Überhaupt, sagt Hütter, sei es falsch, Kraftwerk nur als Musikband zu sehen. „Wir wollen eher ein Gesamtkunstwerk sein, haben schon mit großen Bildschirmwänden und Videos gearbeitet, als noch kein Mensch davon gesprochen hat. Zu vielen Stücken werden vorher Zeichnungen angefertigt, in denen die Verläufe bildhaft skizziert sind. Kraftwerk ist weit eher ein Konzept als nur eine Kapelle.“

Wie sieht dieses Konzept inhaltlich aus? „Das Konzept heißt Mensch-Maschine, die Computerisierung und Mechanisierung der Welt. Wir lassen uns bei unserer Tournee teilweise von Robotern ersetzen. Das Ziel ist, einmal eine Welttournee an einem Tag veranstalten zu können, durch lauter geklonte Roboter.“ Als ich etwas mißtrauisch reagiere, setzt er noch hinterher: „Das ist doch blöd, so eine Tournee, auf der du ständig die gleichen Sachen runterspielen mußt, das ist stupide. Wenn Roboter diese Reproduktion übernehmen können, dann entsteht Freiheit, mehr Zeit für Kreativität.“

Wir kommen noch einmal auf den zentralen Aspekt des ganzen Unternehmens zu sprechen. Hütter erzählt, daß außer den alten Aufnahmen und der Version auf der aktuellen Platte bereits zwei weitere Versionen von „Roboter“ existieren. Die Musik wird ständig fortgeschrieben, ist nie wirklich fertig. In diesem Sinn sind die vorgelegten Schallplatten immer nur ein Zwischenschnitt, der einen Zustand dokumentiert, der fortlaufend überwunden wird.

Ob denn, frage ich, irgendwann, wenn die Reproduktions- und Veränderungsmöglichkeiten noch perfektionierter sind, das Konzept Kraftwerk nur noch so eine Art Copyright ist?

„Ja, so ungefähr könnte es sein.“