Kraftwerk: Auslauf-Modell?


Das erste Kraftwerk-Album mit neuen Stücken seit 1986 hat kaum Wellen geschlagen. Sind die Elektropop-Pioniere überhaupt noch vorne dran? Was interessiert sie noch?

Jahrelang waren sie praktisch unsichtbar. Doch seit im August ihr erstes Album mit neuen Stücken seit 1986, „Tour De France Soundtracks“ erschien, mehren sich die Lebenszeichen der Elektropop-Pioniere. Anfang November traten Kraftwerk bei den MTV-Europe-Awards auf, im Februar startet eine Art Welttournee mit ersten Konzerten in Skandinavien und Japan. Anlass für ein Gespräch mit Kraftwerk-Gründer Ralf Hütter (56).

Sie gelten als ambitiomerter Hobbyradler. Welche „Tour de France“-Etappen sind Sie selbst schon gefahren ?

Wir fahren alle seit Jahrzehnten Rad. Ich besonders. Wir sind alle Pässe, die im Büchlein zur CD verzeichnet sind, gefahren. Die klassischen Etappen über die Pässe Madleine, Galibier nach Alpe d’Huez in den Alpen, und von Luchon über den Tourmalet nach Luz Ardiden in den Pyrenäen.

Geht das so leichtfüßig, wie es Ihre „Soundtracks“ implizieren?

Wenn man in Form ist, fällt es leicht. Wenn’s gut läuft, dann geht’s fast geräuschlos. Kleinere Radgeräusche und menschlicher Atem; den haben wir für das Album aufgenommen. „Er hat keine Kette drauf“ nennt man diesen schwebenden Zustand. Das ist wie in einem Konzert, in dem die Musik wie von selbst läuft. Da gibt es gewisse Parallelen.

Verglichen mit dem Leiden der Radprofis bei der letzten Tour de France wirken Ihre „Soundtracks“ wie eine Sublimierung. Oder wie Fahrer, die viel Epo gespritzt haben.

Sublimiert sind unsere Klänge allemal. Gewiss. Die Tour de France hat uns übrigens eingeladen. Der frühere Spitzenfahrer Gilbert Duclos-Lasalle war unser Capitaine de route. In seinem Wagen fuhren wir in der Etappe nach Alpe d’Huez direkt hinter Tourdirektor Jean-Marie Leblanc.

Leiden gehört doch zum Radfahren ?

Man geht in gewissen Phasen bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit. Als Profi wie als Hobbyfahrer. Man fährt im Rahmen seiner Möglichkeiten, im Rhythmus seines Lebens. So haben wir als Musiker übrigens immer gearbeitet. In den sechziger Jahren arbeiteten wir mit Tonbändern, editierten mit Rasierklingen. Wir spielten elektroakustische Instrumente. In den frühen siebziger Jahren benutzten wir die ersten Synthesizer.

Dass jetzt ein neues Kraftwerk-Album erschienen ist, ist eigentlich unglaublich. Es wurde so oft angekündigt und erschien dann doch nicht. Wieso?

Wir hatten das Konzept für ein TOUR DE FRANCE-Album bereits 1983. Daraus wurde nur die „Tour de France“-Single, weil wir an dem Album TECHNOPOP zu arbeiten begannen. Aus diesem wurde schliesslich ELECTRIC CAFE. Danach haben wir alle Aufnahmen digitalisiert. Letzten Herbst traten wir in der Cite de la Musique in Paris erstmals mit Laptops auf. Wir sind mit unserem Studio jetzt mobil.

Ich dachte, das seien Sie schon lange.

Unser Klingklang-Studio war früher mehrere Tonnen schwer. 1998 sind wir damit um die Welt gereist. Jetzt haben wir es auf eine digitale Plattform reduziert. Wir können unser Studio praktisch im Handgepäck transportieren. Und es funktioniert bestens in verschiedenen Klimazonen. Wir sind damit in Japan in der Kälte und in Australien in der Hitze aufgetreten. Fantastisch.

„Tour De France Soundtracks“ ist Ihr erstes Album mit neuen Stücken seit 1986…

(energisch) Nein. 1999 haben wir „Expo 2000 gemacht, ein Mini-Album mit der Musik für die Weltausstellung in Hannover.

Trotzdem scheint Ihr Arbeitstempo sehr gemächlich zu sein.

Wir sind total autonom. Wir machen alles selbst, in Zusammenarbeit mit unserem Computeringenieur.

Das frühere Kraftwerk-Mitglied Wolfgang Flür sagte einmal, Ralf Hütter interessiere sich mittlerweile mehr fürs Radfahren als für die Musik. Das sei der Grund, weshalb alles so lang dauere.

Wer ist Flür?

Er war rund 15 Jahre bei Kraftwerk.

Flür war einer der Schlagzeuger, die wir für Tourneen oder Aufnahmen verpflichteten. Seine Behauptung ist falsch. Er kann das Radfahren gar nicht beurteilen; er ist nie Rad gefahren.

Woher kommt eigentlich Ihre Begeisterung fürs Radfahren?

Vermutlich aus einer Affinität zur Musik. Der Mensch und die Maschine, die zu einer Einheit werden. Der Mensch, der sich aus eigener Kraft bewegt, in Zusammenarbeit mit einer Maschine. Interessanterweise wurden während der Tour de France im Sommer in den Medien Ausdrücke gebraucht wie „Ullrich, die Menschmaschine“ oder „Ullrich, ein Kraftwerk auf Rädern“. Radfahren ist übrigens auch ein Gesundheitsprogramm. Viele Leute aus der Musikwelt sind ausgebrannt, haben sich kaputt machen lassen. Wir aber sind voller Energie.

Mit dem „Tour De France“-Album nehmen Sie ein altes Kraftwerk-Thema auf. Ist Ihr Werk womöglich bereits abgeschlossen ?

Nein, das ist keineswegs so. Aber wir haben keinen Vierjahresplan, wir haben überhaupt keinen Plan. Unsere Arbeit wird sich wieder lebendiger entwickeln.

Wenn man die Popmusik so stark beeinflusst hat wie Kraftwerk, scheint jede neue Äußerung schwierig zu werden, denn sie könnte den Mythos von den genialen Technopionieren gefährden.

Solche Überlegungen sind uns fremd. Das sind Denkmodelle, die Musikkritiker wälzen. Uns interessieren solche Fragen nicht.

Kraftwerk waren mit ihrer elektronischen Klangerzeugung Avantgarde. Es war unausweichlich, dass sie diesen Vorsprung einbüßten. Beschäftigt sie das nicht?

Wir haben immer gemacht, was wir wollten. Wir sind immer mit Vorurteilen konfrontiert worden. Als wir TRANS EUROPA EXPRESS herausbrachten, hieß es, „was beschäftigt Ihr Euch mit so altem Zeugs wie dem TEE, das ist doch Vergangenheit?“ Als „Computerwelt“ erschien, nannte man uns „Knöpfchendreher“. Als wir jenes Album machten, dachten wir, wir seien vielleicht schon zu spät mit dieser Thematik. Im Nachhinein sieht das natürlich anders aus. Der Personal Computer kam erst zwei Jahre später auf den Markt.

Ihre Videos zum „Tour De France“-Stück von 1983 wie auch jenes zu „Das Model“ waren mit Bildern aus der Vergangenheit illustriert. Warum eigentlich ?

In Frankreich hat das mal jemand als „Retrofuturismus“ beschrieben. Manchmal muss man zurück schauen, um nach vorne zu sehen. Dieser permanente Zwang zum Neuen, der in unserer Gesellschaft herrscht, passt uns nicht. Uns kommt es auf die Essenz an.

In einem früheren Interview sagten Sie „wenn man davon ausgeht, dass jeder seine eigene Musik macht, braucht es uns nicht mehr“. Diesen Zustand haben wir heute, im DJ-Zeitalter.

Das ist richtig. Die Elektromusik, die wir sozusagen geistig mitentwickelt haben, hat dies ermöglicht. Für uns ist es allerdings kein Grund aufzuhören. Wir werden uns da nochmals voll einklinken.

Die „Menschmaschine“ ist Ihr Lieblingsthema. Auf diesem Gebiet ist in den letzten Jahren durch die Verbindung Mensch-Computer enorm viel passiert. Verfolgen Sie das?

Ja, sehr. Wir versuchen das auch auf unsere Arbeit anzuwenden. Wir stellen uns vor, dass unsere Roboter in Tokio ein Konzert geben, während wir in Paris sind. Das Größte ist, wenn die Musik sich selbst spielt.

Das ist ein altes Kraftwerk-Projekt.

Das stimmt. Die Geräte waren allerdings lange nicht zugänglich. Doch wir sind voll dabei.

Als vor ein paar Jahren die TV- und CD-Serie „Pop 2000“ zusammengestellt wurde, die die Geschichte der deutschen Popmusik aufrollte, fehlten ausgerechnet Kraftwerk, Deutschlands wichtigster Beitrag zur Popgeschichte. Weshalb?

Wir waren immer eine Art Außenseiter. Wir wurden auch angefragt für „Pop 2000“. ‚2000 Jahre Popmusik? Ne, da sind wir nicht dabei‘ lautete unsere Antwort. Sind die anderen deutschen Popmusiker nicht gut genug für Kraftwerk ?

Nein. Wir machen einfach unser Ding. In Freiheit. Dieses Kompilieren, dieses Verpacken, Verwursten, Verwursteln hat uns immer widerstrebt.