Keine Runde Mitleid
Mit all seinen Instrumenten, aber ohne die alte Band Granddady ist Jason Lytle in die Berge gezogen. Dort will er "den Flug des Vogels" vertonen und Musik machen, die nicht aus den falschen Gründen geliebt wird.
Inkompetenz, Feigheit, Mitläufertum – den Kritikern des MUSIKEXPRESS (und denen aller anderen ernst zu nehmenden Musikmagazine) ist über die Jahre schon viel vorgeworfen worden. Aber Mitleid? Mitleid ist neu. Vor allem, wenn es um die „Platte des Jahres“ geht. Und was hat es zu bedeuten, dass es dieses Mal kein Leser ist, der eine gute Bewertung nicht nachvollziehen kann, sondern der Künstler selbst? „Wir hatten von Anfang an sehr begrenzte Möglichkeiten“, sagt Jason Lytle über seine ehemalige Band Grandaddy. „Wir waren beileibe nicht die bestaussehenden Typen der Welt. Wir waren auch nicht unglaublich gute Musiker.“
Wie es unter diesen Voraussetzungen dazu kommen konnte, dass Grandaddy in den meisten großen Redaktionen der westlichen Welt mit überschwänglichen Kritiken bedacht wurden, will ihm einfach nicht einleuchten. THE SOPHTWARF, SI.IMP, Album des Jahres 2000 im MUSIKEXPRESS? Als er bei unserem Gespräch im Berliner Ramones-Museum daran erinnert wird, schüttelt er lächelnd den Kopf. „Mich macht das misstrauisch. Manchmal hab ich den Verdacht, dass -wir nur so erfolgreich geworden sind, weil -wir den Leuten leidgetan haben. So in der Art: ,Ooohhh, Grandaddy. Die Annen.“ Und weil ihm dann irgendwie doch bewusst wird, wie absurd sich das anhört, bricht er selbst in ein herzliches Lachen aus. Falls es noch irgendjemanden geben sollte, der daran zweifelt: Jason Lytle ist so liebenswert wie seine Platten. Als Gesprächspartner ist er ernsthaft, offen, sensibel und — was bei seinem Beruf vor allem in der Interview-Situation nicht unbedingt üblich ist – an seinem Gegenüber interessiert. Es dürfte ihm 2006 nicht leichtgefallen sein, seine langjährigen Grandaddy-Mitstreiter zu entlassen. „Ein paar von ihnen haben es wohl kommen sehen, andere aber wollten es nicht wahrhaben“, sagt er. Es war fürchterlich. Es gibt keine sanfte Art, so eine Trennung zu vollziehen, aber es musste trotzdem passieren.“ Es musste passieren, obwohl Jason Lytle mit seinem ersten Solo-Album YOl’RS TRU1.Y, THE C0MMUTER musikalisch keineswegs eine neue Richtung eingeschlagen hat. Es musste passieren, weil er sich fremdbestimmt fühlte, weil der Lärm der Maschine Grandaddy, die im Rhythmus Album-Tour-Album-Tour auf allen Zylindern lief, Lytles Ohren taub gemacht hat.
„Ich konnte oft nicht Nein sagen, ah Grandaddy in vollem Gang war. Das hat viel kaputt gemacht. Und irgendwann haben mir die anderen ein schlechtes Gewissen gemacht, weil ich kreativ arbeiten wollte: ,Ach du, du willst ja immer nur Songs aufnehmen und nicht auf Tour gehen …‘ Natürlich will ich nicht auf Tour gehen! Ich will den ganzen Tag im Studio sein. Da blühe ich auf!“
Auch wenn es ganz ohne Touren in Zukunft nicht gehen wird, Jason Lytle musste den Zug Grandaddy anhalten. Er fühlte sich wie ein Baum, sagt er, nachdem er eine Weile nach dem richtigen Bild gesucht hat. Ein Baum, dessen Früchte abfallen und verfaulen, weil er nicht mehr die Kraft aufbringen konnte, sie zu pflücken. Er verließ das kalifornische Modesto, in dem er Kind, Skateboard-Profi und fast 15 Jahre lang Grandaddy-Chef war, um am Rande des kleinen, abgelegenen Städtchens Bozeman in Montana einen neuen Anfang zu machen. Hier, umgeben von Wäldern, Seen und meist verschneiten Berggipfeln, lebt er das Leben, das er schon 2004 in dem Grandaddy-Song „Nature Anthem“ herbeigesehnt hat: „I wanna walk up the side of the mountain/I wanna walk down the otherside ofthe mountain/I wanna swim in the river and He in the sun, I wanna try to be nice to everyone. “ Nach dem Aufstehen, erzählt er, wandert er tatsächlich oft über Stunden durch die Bergwälder. Am Nachmittag radelt er entweder in die Stadt – fast nie, ohne zwei Runden auf der kleinen BMX-Bahn zu drehen, die auf dem Weg liegt -, oder er zieht sich in sein Studio und Atelier in seinem Haus zurück. Dort kann er in Frieden das tun, was er am besten kann: Musik aufnehmen, die abstrakt und doch direkt ist (auf die Art, wie eine Kinderzeichnung abstrakt und direkt ist), die ein bisschen psychedelisch und meistens auch ein wenig melancholisch ist. Musik jedenfalls, die in der Summe ihrer Teile so wunderschön und tröstlich ist, dass einem das Herz aufgeht. Jason Lytles Texte behandeln die kleinen und großen Probleme, die unsere Existenz auf diesem Planeten mit sich bringt, musikalisch aber ist seine Kunst fast immer ein Bekenntnis zur bedingungslosen Harmonie.
„Das entwickelt sich ganz von selbst so. Bevor ich Musik in meinem Kopf höre, kann ich sie sehen: ah gewundenen Pfad, als Flug eines Vogels. Das klingt jetzt fürchterlich kitschig, wenn ich hiervon Nymphen und Märchenwelten erzähle, aber…“, sagt er, ohne den Satz zu beenden. „Na ja, viele Melodien sind natürlich auch sehr einfach. Damit will ich kompensieren, dass ich kein guter Musiker bin. Deshalb suche ich nach Klängen und Melodien, die einen irgendwie anrühren, die einem vertraut vorkommen. Weil ich musikalisch ja nicht so komplex denken kann, das hab ich nie gelernt …“ Was soll man dazu sagen? „Ooohhh, Jason Lytle. Der Arme“7 Das tun wir ihm nicht an. Oder doch?
CD im ME S/2009 Albumkritik S. 97
www.jasonlytle.com