Kalkuliert Unberechenbar
Positively bonkers: Aus DIZZEE RASCAL, dem ehemaligen „Boy In Da Corner, ist ein Businessman und „Britains first black male Superstar“ geworden.
Ein sich aggressiv in die Ohren fräsender Sound aus Elektro und Nu Rave, zusammengehalten von einer quäkigen Rapstimme, die mit atemlos silbenversch luckendem Ost-Londoner Akzent selbstbewusst von den höheren Werten eines Lebens als frei drehender Künstler kündet. “ Manche Leute finden, ich bin durchgeknallt. Ich find mich einfach frei!“ Dizzee Rascals „Bonkers“ ist wohl einer der unkonventionellsten britischen Nr.-l-Hits der letzten Jahre. Produziert hat ihn der amerikanische House-DJ Armand Van Helden, der das Instrumental eines Tages ungefragt an Rascal mailte. Der Song ist nach dem von dem Schotten Calvin Harris produzierten „Dance Wiv Me“ der zweite UK-Spitzenplatz des 24-Jährigen in Folge – wobei beide Singles nicht bei einem Major erschienen sind, sondern bei seiner eigenen Labelklitsche „Dirtee Stank“. Dizzee Rascal ist sichtbar stolz darauf, als „Britain’s first black male Superstar“ (The Guardian) abgefeiert zu werden, der es sich leisten kann, (angebliche) Kollaborationsanfragen von Franz Ferdinand und den Ting Tings abzulehnen. All die Umarmungsversuche dürften ihn umso mehr freuen, als er noch vor Kurzem, nach Obamas Wahlsieg, von einem BBC-Nachrichtenmann gefragt wurde, ob er sich überhaupt „britisch fühle“. Über diesen Fernsehauftritt möchte Rascal nicht sprechen. Überhaupt: Interviews mit ihm sind lange nicht so kurzweilig wie seine Videos, in denen er sich als Drehorgelfigur und Zwangsjackenträger präsentiert. Zu seinem Selfmade-Ruhm hat er nur so viel zu sagen: “ Ich bin froh, dass der große Erfolg nicht früher kam, sondern erst jetzt, wo ich ein eigenes Label habe. Ich wollte mein Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Jetzt weiß ich, dass ich nicht nur ein guter Musiker, sondern auch ein guter Geschäftsmann bin.“
Lange galt Dizzee Rascal als eine Art Wunderkind, das nie über den Status des ewigen Talents hinauskam. Für sein Debüt, erschienen beim Vorzeige-Indie XL Recordings (White Stripes, M.I.A. etc.) heimste er 2003 gleich den Mercury Prize ein. BOY IN DA CORNER wurde mit schroffen Beats und wirren Computerspielsounds zur Blaupause für Gnme, den von 2-Step und Garage infizierten UK-Hip-Hop-Sound – aber kein Verkaufsschlager. Rascal war der Star der Piratenradios und Kritiker. Die Nachfolgealben SHOWTIME und MATHS & ENGL1SH klangen schon polierter und vergrößerten die Fanbase – auch dan k Tourneen im Vorprogramm von Justin Timberlake und den Red Hot Chili Peppers. Mittlerweile will vom dreckigen Grimekaumnoch wer etwas wissen. Auch Szenegrößen wie Wiley und Tinchy Stryder, die wie Dizzee Rascal aus dem rougheren Stadtteil Bow kommen, haben sich in bekömmlicheren Elektro-Sound-Regionen eingerichtet. Ihnen allen ist Rascal davongeeilt, auf einem weißen Partytruck, mit Neon-Kriegsbemalung auf den Backen und einem Album namens TONGUK IN CHEEK im Gepäck. Referenzen an die Vergangenheit finden sich noch in ironischen Textzeilen wie „all l care about is sex and violence“ (aus „Bonkers“). Genug hat Dizzee Rascal noch lange nicht. Seine nächste Single, „Holiday“, ein Ibiza-House-Track, produziert von Calvin Harris, ist nach Auskunft seines Schöpfers erneut ein todsicherer Chartbreaker, der Rascals wohl größtes Talent verrät: Dieser Mann schafft es, kalkuliert und unberechenbar gleichzeitig zu sein.