Jurassic Punk


Sie hängen an der Sicherheitsnadel, tragen schwere Stiefel und lichtes Bunt-Haar - die Vorboten des unvermeidlichen Punk-Revivals. Doch wie bei allen Revivals gilt auch hier: Es droht nicht die Wiederkehr auferstandener Punkosaurier. 1994 geht wieder der Punk ab, nur ist er jetzt viel sauberer.

Auf dem Hollywood Boulevard gibt’s ein Geschäft mit allen möglichen Sachen, die die erogenen Zonen des menschlichen Körpers verstekken — oder sie zur Schau stellen. Die Schaufensterpuppe links im Fenster trägt Pants aus schwarzem Plastik, geschlitzt mit Reißverschlüssen, dazu nietenbeschlagene Strapse, ein schwarzes Kondom-Shirt, ultraspitze Nazi-Boots (mit denen du einem ein Auge ausstechen kannst), und zuguterletzt ein mit schimmernden Nieten besetztes Hundehalsband. Sex-Pistol Sid Vicous würde sich im Grabe herumdrehen: Ein gutes Dutzend Sids und Nancys in genau solcher Ausstaffierung spazierte letztes Wochenende auf der modischen Melrose Avenrue quer durch eine Gruppe Kids in Schlapphüten aus Samt. Flanellhemden und Flower-Power-Tand. Als ob die beiden Enden der 70er bei einem schlimmen Autounfall ineinandergerast wären und die Überlebenden unter Schock aus den Trümmern herausstolpern würden …

Die Revivals kommen momentan so dick und schnell hintereinander, daß sie sich mittlerweile überlappen —- Plaleausohlen-Clogs und Abba und die Kiss, die Jimi Hendrix die Eier polieren wollen. Im letzten Jahr sprach man dann von einem 80er Revival — womit man vom großen Reverskragen gleich zum toupierten Haar, vom Armenhaus-Chic zum

Power-Dressing und von den Village Boys zu Duran Duran gesprungen wäre, ohne die späten 70er und den Punk auch nur anzugucken. Aber soweit sollte es dann doch nicht kommen.

Plötzlich ging es Schlag auf Schlag: Es gab Gerüchte über eine Sex Pistols-Wiedervereinigung („Weiß nicht“, meinte Steve Jones, als sie haufenweise Exemplare ihres „Best of“-Albums verscherbelten, „könnte ja ganz spaßig werden…“). Billy Idol, mit Bon Jovi auf Tournee, schlich sich von der Bühne des „Marquee“ und reformierte — sichtlich desillusioniert von dem bescheidenen Erfolg seines Design-Orientierten „Cyberpunk“-Konzeptes — heimlich seine 70er-Jahre Punk-Band Generation X. Bislang allerdings ohne erkennbaren Output. Aber dann — angeregi durch Bankrott und die Drohungen der britischen Steuerfahnder — gründeten sich The Damned neu, und Elvis Costello rief seine Attractions wieder zusammen. Echo kehrte mit den Bunnymen zurück, Joe Strammer bekam seine Zähne repariert (die er sich in den 70ern mit Speed kaputtgemacht hatte), und während jeder über eine drohende Clash-Reunion redete, schrieb Johnny Rotten seine Autobiographie und plazierte (zusammen mit Leftfield) einen Song in den Charts.

Weiter? Bitteschön: In den USA gibt’s ein neues Guns N‘ Roses-Album („The Spaghetti Incident?“ -— nicht gerade punkig), ein neues Buch von Greil Marcus („Pöbler und Massengünstlinge“ -— auch nicht gerade punkig), den Reunion-Gig der Talking Heads im CBGB’s und einen Produzent namens Steve Albini, der wieder „lieber einfache Punk-Platten“ macht, nachdem ihn seine Produktion des neuen Nirvana-Albums zurück ins Gespräch gebracht hat. Patti Smith erwartet ihr Comeback-Album. Und „Aggro Chic“ (Besondere Kennzeichen: Irokesen-Frisur. 37 Sicherheitsnadeln, implantierter Reißverschluß in der linken Wange) ist plötzlich auf beiden Seiten des Atlantiks hip —- der Wohltätigkeits-Shop-Hippie, der dachte, er wäre mit den C&A-Schlabberklamotten auf der Höhe der Zeit, bestaunt die neuen Menschen im feinen, aber ultraharten S&M-Look, die nun nebe ihm in der Szene-Kneipe am Tresen stehen. Auf den Laufstegen sieht man in dieser Saison PVC-Pants, Ketten-Hemden, Zwangsjak ken, viel Gummi und sogar —Punks mit nostalgischer Veranlagung werden jetzt einen Freuden-Salto schlagen —- Sicherheitsnadeln.

Einer, der heute immer noch gut von seiner nostalgischen Veranlagung lebt, Deutschlands Ober-Punk Campino, hält die späte Ehrerbietung auch von Mega-Rockern wie Guns N‘ Roses nur für gerechtfertigt: „Was kann schlecht daran sein, wenn die kommerziell erfolgreichste Rock ’n‘ Roll-Band der Welt allen ins Gesicht schreit, daß sie vom Punk inspiriert wurde.“

„Jedes verdammte Ding, das in der Pop-Musik seit 1945 passiert ist, hat man wieder und wieder und wiedererfunden, und Punk ist jetzt nur eine weitere Von-der-Stange-Möglichkeit in der großen Jugendkultur-Kollektion“, meint Rockjournalist Charles Shaar Murray. Das hat er 1986 gesagt -— da gab’s das erste kleine Punk-Revival. Sham 69 und die Buzzcocks reformierten sich, das Magazin „The Face“ brachte ein Punk-Sonderheft heraus —- und schon war die ganze Sache wieder verpufft. Jetzt ist die Zeit reif für einen neuen Durchgang. Vielleicht dauert der ebenso lange wie der erste Versuch. Wenn nicht, bekommen wir für eine Weile wenigstens ein paar interessante Haarschnitte zu sehen.

Dieses 70er Jahre-Revival, sinniert Slash von Guns N’Roses, das habe wirklich voll eingeschlagen -— selbst wenn man alles nur Menschenmögliche unternommen habe, um es zu ignorieren. Aber wenn es jetzt ein Punk-Revival gebe, dann habe das mit der Sache von früher mit Ausnahme der Symbole und Klamotten nicht mehr viel zu tun: „Punk war eine Einstellung. Aus Sicht des Musik-Business rebellierte der Punk gegen den abgefuckten, faulen Rockstar-Status. Aber als ein soziales Phänomen hat Punk doch viel mehr bewirkt, da hat er viel mehr weggeblasen als bloß die langweiligen Fürze. Ich finde, die Leute sollten endlich mal lernen, etwas mit sich selbst anzufangen, anstatt ständig über so einen Scheiß wie die Wiederbelebung des Punks nachzudenken!“

Dabei ist die Frage doch: Was will man da eigentlich wiederbeleben? Die Musik? Wohl kaum. John Lydon macht heute in Dance-Musik. Dance-Produzenten sind den Original-Punk-Bands immerhin ähnlich: Die machen auch billige Platten, die die Kids lieben und die Schallplattenindustrie nicht versteht. Aber der Himmel weiß, was für eine Art „Schlangestehen-vorm-Arbeitsamt“-Märtyrerwut The Clash herbeitrommeln können, wenn Joe Strammer auf die 40 zugeht und ein nettes Häuschen in West London hat? Also — um die Musik kann’s nicht gehen. Vielleicht um die alte Anti-Rockstar-Haltung von damals? Wohl kaum. Auch wenn viele der momentan aktuellen „Alternative“-Bands eher müde vor sich hin schrubben — alt kann man sie nicht nennen. Drogen? Unwahrscheinlich. Wer um alles in der Sucht-Welt würde Ecstasy und Designer-Drugs gegen billiges Speed, billigen Fusel und Klebstoff eintauschen? Und Politik? Auch nicht —- die Queen sitzt so tief im Schlamassel, daß sie da niemand mehr noch zusätzlich belästigen würde. Also bleibt nur eins: Beim aktuellen Punk-Revival geht’s um —- Mode.

Jede Kultur, jede Gegenkultur wird irgendwann immer auf Mode und Maschen eingeschränkt (oder erweitert — je nachdem, auf welcher Seite man steht), und dabei ist es egal, ob es sich nun um Hippie, Gangsta, Acid oder Punk handelt (nebenbei bemerkt: erinnert sich noch jemand an den Aufschrei, als die ersten gerippten und mit Sicherheitsnadeln zusammengehaltenen Designer-T-Shirts in Beverly Hills verkauft wurden?). Es geht darum, die richtigen Klamotten zur richtigen Zeit zu den richtigen Schallplatten zu tragen und sich so zum Club der Roten Lichter zugehöng zu fühlen — darum ist es schon immer gegangen. Rockjournalisten mögen darüber meckern, aber die Presse schlachtet diese sich abwechselnden Gegenkulturen ebenso aus wie jedes andere Unternehmen, das etwas und jemandem verkaufen will. „Ich bin weit davon entfernt, mich über die Geiselnahme des Punks durch die Haute Couture aufzuregen“, regt sich die britische Trend-Autorin Julie Birchill auf, „aber ich kann mir nicht helfen: Verdienen diese doofe Bewegung und dieser doofe Geschäftszweig sich nicht sogar gegenseitig?“ Vivienne Westwood (der zusammen mit Malcolm Laren SEX gehörte) nennt’s „verzweifelt“, die Birchill findet’s „sexy“ —- und wenn man alte Fotos aus Julies Punk-Zeit mit Aufnahmen von heute vergleicht, weiß man genau, auf welcher Seite man in dieser Auseinandersetzung zu stehen hat. Enge schwarze PVC-Pants sind nun mal sexier als schlabbrige Grunge-Hosen, und seitdem im Zeitalter von AIDS Sex immer mehr zu einem Zuschauersport mit viel Show und wenig Action verkommt, sind Pose und Hose — eben wichtiger als alles andere.

„Alternative“ Rock verhält sich zu Sex wie MTV „unplugged“ zu Metal: Er ist empfindsam. Politisch korrekt. Er folgt dem aktuellen US-College-Trend und fragt den Partner in jedem Stadium des Anbandeins um Erlaubnis: Dürfen wir Händchenhalten? Uns küssen? Kitzelt Dich mein Goatie-Bärtchen? Darf ich penetneren? Das britische Musikmagazin „Melody Maker“ bringt jede Woche eine Kolumne mit Evan Dando und Juliana Hatfield. in der Evan verschämt und wie auf Zehenspitzen um das Thema Sex herumtänzelt. Am nächsten von allen kommen einem Sex-Paar da immer noch Kurt Cobain und Courtney. aber sie sind eher wie John und Yoko als wie Sid und Nancy („Rock against Rape“ und „Pro Abtreibung“-Benefiz-Konzerte sowie ein Hausmann Kurt, der zusammen mit dem politisch korrekten, männlichen (!) Kindermädchen die Windeln wechselt, während Courtney auf Platten quietscht) — selbst wenn sie auf Heroin waren und sich zuhause geprügelt haben, bevor sie das „Erste Baby des Gninges“ gezeugt haben. Der „Melody Maker“ hat über das neue Nirvana-Album geschrieben, „Heart Shaped Box“ sei „die größte Hymne auf die männliche Furcht vor dem sexuell-emotionalen Verschlungenwerden seit ,Sub Mission‘ von den Sex Pistols“. Was uns zu einer anderen Theorie bringt: Die Rückkehr des Punks — das ist die Rückkehr des unsensiblen, geilen, aggressiven jungen Mannes.

Da stimmt sogar Julie Birchill mit mir überein. Punk war Pop für Jungs. Heavy-Metal war Pop für Jungs. Grunge, der ja aus Punk und Metal entstand, hätte Pop für Jungs sein sollen —- aber von REM über die Lemonheads bis zu Pearl Jam ist die ganze „Altemative“‚-Kiste Mädchen-Pop geworden. Michael Slipe ist so sensibel, daß er sich in seinen Videos selbst umarmt. Eddie Vedder ist so verschreckt, daß er sich in die Ecke verkriecht und vor einer Welt versteckt, die ihn mit Ruhm und Ehr und Geld und Frauen zu foltern versucht. Aber jetzt schlagen die Jungs zurück! Sie wollen dumpf und gleichgültig sein, und sie wollen das Recht, sich zu langweilen. Und ihren ganzen Ärger Tauskotzen. Und sie wollen das, was im Grunde jeder mann will: Poppen, ohne vorher lange zu diskutieren. Sie wollen die Scheiße aus jemandem heraustreten -— und das geht nicht in Sneakers und nicht in Clogs, sondern bloß in Springerstiefeln, und Springerstiefel passen nun mal nicht zu windzerzausten, langen Grunge-Haaren —- und schon wären wir wieder bei der Mode.

Wie sagt der frühere „Sex Pistols“-Presse-Mensch Alan Edwards doch gleich? „Punk schrie nach einer totalen Revision der Musikauffassung -— und gab einem das Gefühl, daß Musik vielleicht doch eine bedeutende Rolle im Leben hatte.“

Aber selbst die reformierten Clash werden die Welt nicht ändern: „Da wird’s um Stadien und Merchandising gehen“, weiß Ex-Manager Bernie Rhodes jetzt schon. Und die wiedervereinten The Damned werden genausowenig ausrichten — die schlagen gerade kühn Tantiemen-Kapital aus der „New Rose“-Coverversion von Guns N‘ Roses. „Dasnentl“, meint Rat Scabies von The Damned. (Brian James wird bei der Reunion-Tour übrigens nicht dabeisein — der alleinige „New Rose“-Autor ist in Erwartung desTantiemen-Schecks schon mal nach Südfrankreich gezogen …) Vielleicht ändert das Punk-Revival am Ende ja wenigstens Großbritanniens momentan erbärmlichen Status in der globalen Jugendkultur. Mit dem Punk war London damals nämlich weltweit tonangebend in Musik und Mode — sogar der Union Jack wurde weltweit auf Unterhosen getragen!

Vielleicht ist das ganze ja nur eine anti-amerikanische Reaktion. Oder „Fin de Siecle“-Dekadenz. Oder vielleicht auch nur etwas Neues, Glitzerndes, das man aufregend im Spiegel findet. „Die Pointe“, meint Charles Shaar Murray (der Rock-Journalist), „ist doch die: Die meisten Leute wollen die Dinge überhaupt nicht fundamental verändert haben. Aber hin und wieder ein bißchen Abwechslung — das möchten sie schon…“