Gedanken zum Gegenwärtig*innen

„Blastin on that ass“: Was Lizzo, Beyoncé & Taylor Swift gemeinsam haben


Unsere Gegenwart scheint später nun tatsächlich Geschichte zu werden. Zeit also, sich in dieser Kolumne die popkulturelle Gegenwart genau anzugucken. Was passiert? Und wie und warum hängt das alles zusammen? Hier Folge 20, „Eine aktualisierte Version liegt vor“, in der Julia Friese erklärt, warum der größtmöglich Flex dieser Tage nicht mehr ist, dass man alles allein kann.

Drei Beobachtungen:

1. es ist 2022. mach es besser.

Die CD könnte wieder Sammelobjekt werden. Denn Musik, wie sie auf CD gebannt ist, kann nicht mehr geändert werden. Auf den Streamingdiensten aber kann Musik wie eine Website aktualisiert werden. Ye West ändert seit THE LIFE OF PABLO (2016) regelmäßig seine Alben nach Veröffentlichung. Beyoncé und Lizzo änderten ihre Alben nun auf Wunsch des Publikums. Denn sowohl Beyoncé als auch Lizzo verwendeten in ihren Songs das als ableistisch – also als Menschen mit Behinderung herabsetzend – lesbare Wort „spaz“. Als Verb meint es abdrehen oder durchdrehen, aber etymologisch eben offensichtlich entlehnt von spastics, also Spastiken, unkontrollierbaren Muskelzuckungen. Spaz als Nomen meint: Idiot.

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„Es ist 2022. Mach es besser“, wurde Lizzo angetwittert, und das Wort verschwand aus „Grrrls“. Beyoncé ersetzte es in „Heated“ durch „blast“ – also: sprengen. „Blastin on that ass“, singt sie nun, während auch das „La la la“ von Kelis‚ „Milkshake“ aus dem gestreamten „Energy“ verschwand, da das Sample nicht bezahlt wurde. Der gekaufte RENAISSANCE-Tonträger ist jetzt Relikt. Etwas gleichzeitig noch Ganzes wie auch Kaputtes. Eine Scherbe, an der man sich verletzen kann.

2. be real

Auf Twitter deutet sich an, dass auch Wörter wie „freak“ und „crazy“ bald anders bewertet werden könnten. Sprache und ihre Wahrnehmung verändern sich. Im Internet aktualisieren sich die einen schnell, und korrigieren die Langsameren, die dann oft mit Widerstand reagieren, weil ihrer Wahrnehmung nach nicht die Intention, sondern „nur“ der Ausdruck korrigiert wird. „Maybe You’re The Problem“ heißt der sehr gegenwärtige Radiohit von Ava Max, in dem – wie auch in Kendrick Lamars „The Heart Part 5“ – von Perspektive gesungen wird: „Your point of view, got it all backwards / You should take your little finger and just point it in the mirror“.

„And I just quit my job“: Wie Beyoncé mit nur einer Zeile ganz TikTok gegen sich aufbringt

Auch auf TikTok trendet der Point Of View. POV meint die Ego-Perspektive. Oft wird sie falsch verstanden. Ein TikTok des Titels „POV: Du bist Bademeisterin“ etwa sollte keine Bademeisterin zeigen, sondern einen erhabenen Blick auf das Schwimmbecken. Nun gibt es dort auch das durchgestrichene POV, um doch die Bademeisterin zu posten, deren Perspektive man nun mal nicht so einfach einnehmen kann. Auf „BeReal“, der App der Stunde, postet man immer zwei Bilder: sich selbst und den eigenen POV. Ohne Filter, und nur dann, wenn die App einen dazu auffordert. Eine Randomisierung, um weniger Inszenierung, „mehr Realness“ in den sozialen Medien zu erleben.

3. birds view

PR-Manager*innen raten ihren Kund*innen aus dem öffentlichen Leben währenddessen zunehmend von Realness ab. Denn wer seinen POV nicht ausreichend reflektiert, kann kritisiert werden: für seine Perspektive. Kann von der Öffentlichkeit auf Ignoranz und blinde Flecken aufmerksam gemacht werden. Die Songwriterin Diane Warren – die einst „I Don’t Want To Miss A Thing“ für Aerosmith schrieb – geriet jüngst in einen Twitter-Disput, als sie, begleitet von einem Augenroll-Emoji, twitterte: „Wie kann es 24 an einem Song beteiligte Song-Writer*innen geben?“, und damit auf Beyoncés „Alien Superstar“ anspielte. Beyoncés Produzent The Dream klärte Warren auf, dass Sampling im HipHop einst deswegen entstand, weil man sich keine Studiomusiker*innen leisten konnte. Aus der Not wurde Tugend. Sampling ist bekanntermaßen längst eine eigene Kunstform.

Taylor Swift: So verteidigt ihr Team die Nutzung des Privatjets

Der größtmögliche Flex dieser Tage ist also nicht, dass man „alles allein kann“, wie zum Beispiel auch fliegen im eigenen Jet, wie etwa Kim Kardashian vor Wochen noch stolz in ihrer Hulu-Show präsentierte, sondern, dass man den eigenen POV so weit verlassen kann, als dass man umsichtig sprechen und handeln vermag. Manche haben das verstanden, andere nicht: Nachdem eine Liste der größten Privatjet-Umweltsünder*innen veröffentlicht wurde, wurde die Kardashian-Schwester Kourtney in einem Linienflugzeug gesehen. Taylor Swift aber – der Platz 1 der Jet-Sünder*innen-Liste – versteckte sich unter einem Schirm, als sie – schon wieder – den eigenen Privatjet verließ.

Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 10/2022.