Jule statt Plastik
Kann denn Jugend Sünde sein? Jule Neigel, 23, ist die perfekte Sünderin: zu schlau für Schlager, zu schnuckelig für Rock'n'Roll. Auch bei WILDE WELT, der zweiten LP, mimt sie die moderne Frau - selbstbewußt und schön, die Verführung mit Verstand. Im Can-Studio reichte sie ME/Sounds-Redakteur Peter Wagner den Apfel.
Schwer hängen die Wolken über den beiden Männern, die den frischen Sarg Marke „Eiche, einfach“ in ihre Firma schleppen. Zwei Bestattungsinstitute gibt es in dem Eifel-Nest, zwei Apotheken, die Bäckerei hat mittags zu. In Weilerswist bei Köln kann man prima krank sein oder sterben. Oder eine ganz andere Platte aufnehmen.
„In den Wänden stecken die feuchten Träume von 20 Wehrpflicht-Generationen“ ulkt Rene Tinner, Produzent und Mitbesitzer des „Inner Space Studio“, 30 Autominuten vor Köln. Ausrangierte Kasernen-Matratzen dämmen den Hall der hohen Wände in der Can-Soundfabrik und bescheren einen satten Raumklang für den Gesang jener Frau, die seit zwei Jahren großen Teilen der männlichen Bevölkerung via TV-Schirm feuchte Träume beschert. „Schatten an der Wand“ gibt es hier auch: Holger Czukays vielgesampelter Weltempfänger im Eck. an der Kasse des vor 20 Jahren zum Studio umgebauten Klein-Kinos steht noch „Sperrsitz 1,20 Mark“.
Die Produktion von WILDE WELT, dem zweiten Album der Jute Neigel Band, wird etwas mehr Geld kosten. Kurz nachdem Rene Tinner die Tonköpfe von dem Bandabrieb seines vorherigen Kunden (Marius Westernhagen) gesäubert halte, stand schon der schwerbeladene Passat von Neigel-Gitarrist und -Lebenspartner Andreas Schmid vor der Tür. Mittlerweile ist die ganze Neigel-Bande von der relaxten Atmosphäre des Studios angesteckt. Alle Instrumente sind aufgenommen, und doch sitzt die komplette Band auf dem alten Velour-Sofa, während Jule vor dem goldenen Mikrofon ihren Job erledigt. Trotz des Hippie-Ambientes will kein rechtes Kiffer-WG-Gefühl aufkommen – man trinkt coffeinfreien Schonkaffee, alle vier sind überzeugte Nichtraucher.
Jule, mit knapp 24 das Kücken der Band, weiß aus Tinners Erzählungen:
„Die Can waren immer total drauf.“
Kann denn Jugend Sünde sein? Wäre Jule immer nur die Sängerin, nur die Front-Maus gewesen, hätte sie sich nicht dauernd den altersbedingten Musik-Horizont vorhalten lassen müssen. „Aber ich hob halt die ganze Kifferzeit nicht miterlebt. Ich war immer fünf, sechs Jahre jünger als meine Kollegen. Da kannst du jahrelang die schwere Hammond deines Keyboarders mitschleppen, aber als Musikerin anerkannt zu werden, ist sauschwer. Ich bin in den Achtzigern groß geworden und hab nach zehn Jahren Klassik als erstes BoneyM und Amanda Lear wahrgenommen, wie soll ich da von Led Zeppelin eine Ahnung haben?
Jule hat von ganz anderen Dingen eine Ahnung. Und – nach zwei Jahren Kometen-Karriere zwischen Hitparade und Samstagabend-TV-Show – auch ganz andere Probleme mit diesen Dingen. Mit „Schatten an der Wand“‚ fast über Nacht als Sängerin einer regionalen Party-Band in das nervenlressende Licht- und Schatten-Leben eines Popstars geworfen, das hat schon ganz andere Widder als die muskulös auftretende Ex-Handball-Bundesligaspielerin Juliane Natascha Neigel die Hörner eingeschliffen.“ Wir sind da vollkommen unvorbereitet reingefallen. Auch von der wirtschaftlichen Seite her – wir arbeiten bis heute ohne Management, wir machen das alles selbst. Und wenn du dann nach fünf Interviews, drei Foto-Sessions und einer Fernsehshow total fertig nach Hause kommst und nur in aller Ruhe in deiner Kneipe ein Bier trinken willst, laben dich von hinten einer voll: ‚Na Jule, gehörst du jetzt auch zur obersten Zehntausender-Schicht ?'“
Gehört sie ja auch, zumindest für die Menschen in ihrer Heimatstadt, zumeist Arbeiter im kilometerlangen BASF-Moloch: „Ich kann nirgendwo mehr unbehelligt rumlaufen – dafür war ich einfach zu oft im Fernsehen. Vor allem in Ludwigshafen, in der Innenstadt, da schauen sie dumm: ‚Sind sie nicht die …, ist ja nicht zu glauben. Sie – hier, so ganz normal zum Einkaufen mit Butter, Brot und Eiern in der Tüte.‘ Ja soll ich denn keine Eier essen?“
Unfreiwillig gibt sie damit das Stichwort für jenen rundlichen Inhalt männlicher Unterwäsche, der nach wie vor in nicht unerheblichem Ausmaß über die Karriere von jungen Sängerinnen wie Jule Neigel mitentscheidet – Musik hin. Stimme her. Ruckzuck: „Das ist alles viel zu intensiv – ich hab‘ mein Abitur gemacht und schon ging ’s ab. Ich hätte mir nie vorstellen können, daß man in so kurzer Zeit so extreme Höhen und Tiefen durchfühlen kann. Auf einmal stehst du da und weißt nicht, was mit dir passiert ist. Menschlich nicht und körperlich auch nicht. Alles hat sich verändert. Nur deine Bedürfnisse sind noch da: Hunger, Trinken, Schlafen, Zuneigung. Und dann sind um dich rum lauter Leute, denen du nicht vertrauen kannst, weil sie dich halt nur schnuckelig finden, mit deinen gerade mal 21 Jahren.“
Immerhin – für Päderasten viel zu alt. „Päderasten?“ Rene Tinner, bekannt für knappe aber sehr effiziente Kommentare, klärt Jule auf: „Kinderficker“. Eine blasse Röte zieht auf ihre verlegen kichernden Wangen, an die sie noch immer nur Andreas Schmidt und ihr leckeres Make Up heranläßt. Auch nicht die vielen netten Onkels bei Medien und Plattenfirma, die – das darf man ihnen in diesem Zusammenhang ausnahmsweise mal glauben – doch nur „ihr Bestes“ wollen? „Komisch – genau damit hatte ich als Frau nie Probleme. Zumindest waren es nicht meine Probleme. Es wäre doch meine Schuld, wenn ich diese Idioten an mich ranlasse. Ich komm mit denen prächtig klar. Mit den Leuten, mit denen ich keinen trinken gehen will, arbeite ich nur. Und in jedem Büro müssen Menschen miteinander arbeiten, die sich nicht mögen. Warum also sollte ich es besser haben ? Dafür habe ich ja meine Jungs in der Band, da passiert mir nichts. „
Die können, bei aller Ritterlichkeit, auch nicht immer den Wachhund spielen. Während Jule in diesen Tagen alleine auf Promotion-Reise geht, proben die Jungs in Mannheim schon für die Tournee. Doch Jule. bewehrt mit ihrem selbstbewußten graublauen Blick über den in slawischer Härte hervorlugenden Backenknochen, kann von Freund Andreas auch in diesen Situationen getrost ohne Keuschheitsgürtel aus dem Haus gelassen werden: „Ich bin ja auch nicht blond. Es gibt so Attribute, die Männer denken lassen: Diese Frau kannst du leicht rumkriegen. Dafür ist zum Beispiel meine Stimme viel zu tief und ich bin auch nicht die Zierlichste. Ich bin Sportlerin, habe einen aufrechten Gang und gehe ziemlich direkt auf die Menschen zu. Das alles verschreckt wohl die Männer, die auf die schnelle Anmache aus sind.“
Die wohl härteste Schule für Frauen, die jenseits aller Rollen-Vorgaben ihren Weg suchen, die sinnlich, stark, schlau und schlagfertig sein wollen, stand am Anfang ihres Sängerinnen-Daseins: drei Mal die Woche vor besoffenen GIs in den Ami-Clubs rund um den Rhein auf der Bühne zu stehen. Mittlerweile entspricht sie fast dem aktuellen „Cosmopolitan“-Frauen-Design, doch dafür fehlen ihr wiederum die notwendigen Luxus-Allüren. Das soll nicht heißen, daß sie zwischen allen Stühlen nicht einigermaßen gemütlich sitzen kann, wenn auch mit erhöhtem Kraftaufwand:
„Wenn du in dieser Branche als Frau Cosmopolitan-mäßig selbstbewußt auftrittst und trotzdem ganz normale Gefühle zeigst, paßt das einfach nicht in das Minimal-Schema, in dem die meisten Leute denken. Die einen wollen eine hübsche Frau, die darf so richtig super aussehen, muß sich dann aber auch entsprechend dieser Rolle verhalten.
Die andere, die Jeans tragen und ziemlich unweiblich aussehen darf, kann dann ruhig auch was im Kopf haben. Dabei gibl es doch so viele Frauen, die schön und klug sind.“ Eine Frau also, zumeist dunkelhaarige Kreativ-Beruflerin. die verdammt viele Männer gerne hätten, im Ernstfall aber dann doch den Schwanz einziehen.
Gerade, weil sie auch den eindeutigen Blicken nicht ausweicht. „Das stimmt. Nicht, daß sie der Auseinandersetzung nicht gewachsen wären, denn so stark bin ich auch wieder nicht“ Scheißegal, wie du bist, wenn mann nur glaubt, was du bist – der feste Blick, der sichere Gang, die buschigen Augenbrauen. „Diese Distanz kann aber auch ein Nachteil sein. Schau – ich war immer nur der Kumpel, die Typen haben mir einfach alles erzählt. Aber mit der Sache ‚Frau‘ waren sie immer sehr vorsichtig.“
Ist natürlich auch ein ganz praktisches Sieb. Übrig bleiben Männer, die diese Schwelle überwinden können, weil sie eben mehr als nur ein hübsches Püppchen sehen. Doch das kann dauern. „Ich habe lange gebraucht, um in meiner verletzten Naivität zu verstehen, daß es blöd wäre, sich diesen Dingen nicht zu stellen, anstatt weiterhin allen Leuten blind zu vertrauen. Und was haben sie mich verarscht – vor allem das Gerede hinter deinem Rücken. Was denkst du, was ich schon alles verbrochen habe: tausend Männer verführt, 40 Frauen ihre Männer weggenommen …“ Oder 40 Männern ihre Frauen?
„Mhhmm … das nicht, dafür wirke ich wohl zu weiblich. Trotzdem kommen außergewöhnlich viele Frauen auch mit ihrem Freund zu unseren Konzerten. Oft gehen Frauen ja nicht so gerne in Konzerte, wo eine Sängerin auf der Bühne steht – die guckt dich an, und dann denkst du irgendwas…‘ Aber zu uns kamen eine Menge Frauen, die mich vom Typ her sehr angesprochen haben, Frauen mit viel Power.“
Genau die Kraft und das Selbstbewußtsein, die Jule und ihre drei Jungs jetzt für sich selber brauchen. Als im März 1988 „Schatten an der Wand“ explodierte und Jule Neigel den ME/Sounds-Titel zierte, wußte keiner, wohin der Weg für die Band gehen würde. Ein paar ohrbohrende Melodien, eine attraktive Sängerin mit einer außergewöhnlich souligen Stimme, deutsche Texte, über die kaum einer ins Grübeln kommt, die aber auch nicht besonders weh tun. Unter vergleichbaren Bedingungen in Frankreich oder Amerika an den Start gegangen, hätte sich daraus ein ganz normaler Pop-Act entwickeln können: Zwei Hit-Singles, ein einigermaßen gut verkauftes Album-Debüt, eine musikalisch anspruchsvollere zweite LP. Jules Startbedingungen in Deutschland waren die gleichen: „Schatten an der Wand“ und „Der Rebell“ fegten durch die Charts, die erste LP zog mit. Jetzt produziert Rene Tinner das Nachfolge-Album mit sicherem Geschmack, besseren Songs, offeneren Arrangements und einem noch intensiveren Gesang. Und trotzdem hegt das Produkt Jule Neigel Band“ im Medien-Wust von „ZDF Hitparade“ bis „Neue Revue“ ausschließlich in der Schlager-Schublade, Jule versteht sich und ihre Band als Rock-Act, der „kommerziell genug ist, daß er sich popmäßig verkauft. Und wir haben uns entschieden, mit den Medien tolerant umzugehen, weil wir ja auch nicht die knallharten Rock ’n‘ Roller sind.“
Mit der Folge, daß in keiner Zeitschrift, in keiner Fernsehsendung andere Fragen an Jule gestellt wurden, als die, die man einer jungen, vielleicht selbstbewußten, aber eben doch Schlager-Sängerin stellt.
„Es macht sich ja bei den Medienleuten auch keiner die Mühe, mir zuzuhören. Die denken sich: ‚Die ist 23, die singt schöne Pop-Songs und nicht von Tschernobyl und Saurem Regen – was soll ich die solche Sachen fragen?‘ Ich sage ihnen schon, was ich meine, aber ich will doch niemanden belehren. Ich gebe ja zu, daß ich mit den Texten Probleme habe. Als Sängerin will ich meine Persönlichkeit darstellen. Die ist noch lange nicht perfekt, also können es meine Texte auch nicht sein. Und was ist denn so Schlimmes an dem, was wir machen ? Wir hatten nie den Anspruch, als Band die große Message zu bringen oder großartige Kunstwerke zu schaffen. Lieber tanzbar mit Lust und Spaß, aber nicht ohne musikalischen Anspruch.“
Vielleicht ist es doch eine Sünde, so jung zu sein, denn musikalisch ist Jule von Kollegen wie Westernhagen oder Grönemeyer sooo weit nun auch wieder nicht entfernt. Und ist es wirklich ein Verrat an der Rockmusik, eben nicht mit Schlabberjeans und T-Shirt auf die Bühne zu gehen? „Bei den Amis, den Engländern, den Franzosen ist das alles kein Problem. Da darf jemand, der Rockmusik spielt, auch gepflegt aussehen. Nur bei uns hier gibt es dieses blöde Schlager-Klischee, in das du automatisch reinfällst, wenn du dich nicht zwischen Stock/Aitken/Waterman und Guns ’n‘ Roses entscheiden willst.“
Vor allem die Optik – ein gefundenes Fressen für die Regenbogenblätter und Frauen-Magazine: jung, peppig und akzeptabel für alle, die die alte Schlagerszene satt hatten. Ansehnlich und schlagfertig, die moderne Frau, Jule statt Plastik, die Traumfrau mit Bodenhaftung: „Ich kann ja froh sein, daß überhaupt ein Klischee ein wenig zu uns paßt. Wenn wir nicht auf der Pop-Schiene vermarktbar wären, könnten wir wahrscheinlich bis heute noch nicht von unserer Musik leben. Und wer weiß, wie verschlissen ich mit 33 bin. “ Naja, die Dunkelhaarigen bleiben doch angeblich länger knackig? „Neenee, ich nicht, mir fallen ja schon jetzt die Haare aus. Irgendwann komme ich vielleicht als ehemaliger Popstar in eine Welt, in der ich mich kaum zurechtfinde. Wenigstens habe ich die ganze Zeit wesentlich mehr gemacht als nur zu singen. Ich kümmere mich um die Organisation und ich kenne inzwischen Vertrags-Tricks, die doppelt so alte Kollegen noch nicht kennen – das sind doch ganz schön wichtige Dinge fürs Leben.“