Jean-Michel Jarre, London. Docklands
Wenigstens einen Weltrekord hat Monsieur Jarre nach seinem schaukeligen Bühnenabenteuer in London sicher: den für die meisten Lungenentzündungen, eingefangen während eines einzigen Konzertes. Doch selbst dieser zweifelhafte Erfolg dürfte Jarre eitel erfreut haben, ist hier doch eines jener Kleinkinder-im-Manne am Werk, dessen Denken von der restlichen Welt kaum beeindruckbar ist, solange seine Spielzeuglok noch Dampf speit. Dampf wie die Mega-Ziffern, welche uns seit Wochen auf die schiere „Megaheit“ des Ereignisses vorbereitet hatten: Die mehrstöckige Mega-Bühne — architektonisch einem Schiff nachempfunden und auch tatsächlich auf der Themse schwimmend — werde glatte 300 Tonnen wiegen, wovon 70 den Generatoren und Verstärkern gehören würden, einige andere den 200 Technikern, Musikern, Chormitgliedern etc., die sich während der Show hier aufhalten würden. Klar, daß es sich hierbei um die größte schwimmende Bühne der Welt handelt! Drei Millionen Mark hatten allein schon die Lasevmaschmen gekostet, die zusammen mit sechs Suchscheinwerfern aus dem Weltkrieg, einem fulminanten Mega-Feuerwerk (weitere 3/4 Millionen Mark) und zwei Super-Mega-Dia-Projektionswänden (zwei zehnstöckige. 80m breite Lagerhäuser am anderen Flußufer) für ein Lichterblitzen und -Donnern sondergleichen sorgten. 15 Millionen Mark koste der Spaß insgesamt! Wirklich echt megamega (wobei der sich hier aufdrängende Gedanke, der Staatshaushalt eines Entwicklungslandes wie Burkino Fasso hätte sich mit diesem Betrag wohl bequem ein Jahr lang die Suppe finanzieren können, unter den Tisch gewischt sei). Kaum weniger mega sind die vollmundigen Presseankündigungen:“.Von allen modernen Musikern hat Jean-Michel Jarre über die letzten zwei Dekaden hinwe? die bedeutendsten Spuren hinterlassen.“
Dabei war alles nur halb so mega, wie es eigentlich hätte sein sollen. Ursprünglich war nämlich eine einzige Show geplant worden, die unter Verlust von 4,5 Millionen Pfund verschoben und in zwei kleinere Auftritte aufgeteilt werden mußte, weil die Behörden gewisse Details der Organisation bemängelten. Bloße menschlich-behördliche Opposition war für unsern Jean-Michel jedoch kein Problem. Erst der wahnwitzige Versuch, es auch noch mit den Wettergöttern
abzunehmen und eine Freilichtshow in den Londoner Oktober zu stellen, lief auf Eis. Heissa! Wie wir froren! Heissa. wie wir jubelten, als gleich nach Showende noch eine regnerische Brise über uns herpreschte, als wir Schlange für einen Platz auf den Booten standen, die uns nach London zurückfuhren.
Immerhin: Vor der Abfahrt durften wir uns an Champagner laben, in einem Lagerhaus, das von den Punkfuturisten „The Mutoid Waste Company“ dekoriert worden war. Die Mutoids machen aus Schrott kuriose Fabelwesen: Auto-saurierz.B., Androiden und Geier. Praktisch ohne Mittel bastelten sie einen Future-Zoo, der aufs eindrücklichste bewies, daß mit wenig Mitteln viel herausgeholt werden kann, wenn Phantasie am W’erke ist.
Jarres Show andererseits bewies, daß selbst der megaphantastischste Finanzeinsatz nichts retten kann, wenn das künstlerische Gerüst aus Balsaholz besteht. Und „Megaheit“ als Selbstzweck ist ein ganz besonders wackliges Gerüst für ein zweistündiges „Ereignis“.
Regelmäßig zwischen seinen zwei Komponier-Modi hin-und-her-pendelnd (die da wären: langsam/ bombastisch/atmosphärisch, sowie kuckucksuhrenartige Hi-Energy-Hymnen). schien der Zusammenhang der Musik mit den im Programmheft dargelegten „4 Akten“, in die der Abend aufgeteilt war, rein fiktiv. Akt 1 sollte die „industrielle Revolution“ beschreiben, Akt 2 die „Swingenden Sixties“ (hier wurde der swingende 60’s Gitarrist Hank Marvin zur swingenden Hilfe herbeigezogen), Akt 3 die „90er Jahre“ und 4 das „Finale“. Allem zu Grunde liegen solle Jarres Vision der Londoner Docks, die damals, als hier noch Schiffe anlegten. Zentrum der britischen Wirtschaft waren, dann in Ruinen zerfielen, heute in ein brandneues Wohnund Industrieviertel umgebaut werden: Jarre sehe hier ein Symbol für Fortschritt und Wandlung. Aha! Drum flimmern dann über die Lagerhausmauern immer wieder stämmige Arbeiter mit Mützen, oder Dschungellandschaften, oder Zahnräder, oder Alfred Hitchcock, oder Prince Charles. Der Tiefsinn ist erdrückend. Schade bloß, daß die Bühne so weit weg ist, daß wir nicht nachprüfen können, ob die Musikanten, die im Programm aufgelistet sind (vier Keyboarder. Drums, Baß, Perkussion) auch tatsächlich etwas tun. Und es schon gar nicht merken, wann genau die grünen Lichter im Himmel aus der vielpublizierten Laserharfe des Jean-Michel stammen und wann aus gewöhnlichen Scheinwerfern. Die altmodischen Feuerwerke sind hall immer noch am schönsten.