Ist Populismus der neue Pop?


Eine Reise von der Skaterrampe im Osten in die Tiefen von TikTok.

Es ist ein schöner Julinachmittag, an dem das umgebaute Lastenrad am Rand des Skateparks der brandenburgischen Kreisstadt hält und mit wenigen Handgriffen zum mobilen Wahlkampfstand umgebaut wird. Nach der Europa- und Kommunalwahl ist vor der Landtagswahl, und hier hofft die bündnisgrüne Kandidatin genau jene Wählergruppe zu treffen, die ihrer Partei zuletzt die kalte Schulter gezeigt hat. Gläser werden mit Waldmeisterbrause gefüllt, und Flyer mit auf die potentiellen Jungwähler zugeschnittenen Informationen verteilt. Es sind tatsächlich nur Jungs, die mit BMX-Rädern, Scootern und Boards auf den Rampen und Rails unterwegs sind. Die allermeisten, die sich von der grünen Brause anlocken lassen und den Flyer dafür in Kauf nehmen, sind noch nicht im wahlberechtigten Alter. Einer sagt, er nimmt den Flyer für seine Mutter mit, dann zeigt er zu einer weiter entfernt stehenden Gruppe: „Die da hinten sind AfD.“ Da hinten hebt einer die linke Hand zum Stinkefinger-Gruß.

Die Info auf den Flyern, dass die populistische Konkurrenz als erste Amtshandlung in der neu gewählten Stadtverordnetenversammlung verkündet hat, den örtlichen Jugendclub schließen zu wollen, weil dort eine Regenbogenfahne im Schaufenster zu sehen ist, interessiert kaum einen von denen, die sich für die Brause interessieren. Eher schon, ob die Kandidatin denn den Zustand des Parks verbessern könne, vor allem die Sand-Half-Pipe sei in einem schlechten Zustand, und die zusehends aufgeraute Betonunterfläche führe zu Stürzen. Auf Instagram, sagt die Kandidatin, könnten die Jugendlichen ihr gern konkrete Vorschläge und Wünsche schicken. „Ich hab kein Insta“, kontert ein BMX-Fahrer, „ich hab nur TikTok“. Einen TikTok-Account, sagt die grüne Kandidatin, wolle man demnächst eröffnen.

Vor Ort kommt sie recht leise und unspektakulär daher, die dramatische Veränderung, die allerorten nach der Europawahl diagnostiziert wurde. Was machen die denn da, diese jungen Leute? Wählen plötzlich die AfD? Feiern lustig und singen rassistisches Zeugs? Ist Populismus jetzt plötzlich der neue Pop? Und: Ist vielleicht einfach dieses chinesische TikTok schuld?

Fragen über Fragen, die auch Soffie nicht beantworten kann. Aber eins weiß die 25-jährige Musikerin immerhin: Wie es sich anfühlt, was abzukriegen von diesem neuen Pop-Populismus.

Noch Anfang Januar kannte kaum jemand den Namen Soffie, dann lud sie eine 35-sekündige Kurzversion ihres Songs „Für immer Frühling“ bei TikTok hoch. Zwei Tage später erschienen die Correctiv-Recherchen zum Remigrations-Geheimtreffen in Potsdam, Wochen später gingen Millionen Menschen auf die Straße gegen die AfD, und der Song lief bei jeder Demo und wurde millionenfach gestreamt. „Der glückliche zeitliche Zufall“, so Soffie, verlieh „dem Song, der eigentlich ja gar nicht explizit politisch war, eine neue Dringlichkeit.“

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Dass in der naiven, aber vor allem konfliktfreien Utopie, die Soffie in dem Song entwirft, nicht nur „der Himmel nur noch Blau und Rosarot“ ist und „alle Waffenspeicher leer“ sind, sondern es auch „Kaviar und Hummer im Überfluss“ gibt, stieß zwar auch ein paar vereinzelten Veganer:innen auf, aber vor allem der Internet-Armee aus dem gegenüberliegenden Lager. Der Shitstorm, den sich Soffie einfing, hat zwar in den Monaten seitdem wieder nachgelassen, aber ist immer noch nicht vorbei. In immer neuen Wellen wird sie von Bots, Trollen und anonymen Profilen mit Häme und blauen Herzen bedacht, während ihre Fans mit roten Herzen und viel Liebe dagegen halten. „Es ist aktive Hetze“, sagt Soffie, „und ich habe vor allem gemerkt, wie gespalten die Gesellschaft ist. Es fühlt sich an, als würden wir auf einen Abgrund zusteuern.“

Soffie glaubt, dass sich „seit ungefähr zwei Jahren eine deutliche Politisierung in den Sozialen Medien bemerkbar macht.“ Eine Beobachtung, die zumindest zeitlich zusammen passt mit den verstärkten Anstrengungen der AfD, junge Menschen da abzuholen, wo sie sich am meisten aufhalten. Ihre Marketing-Strategen schicken flotte Filmchen ins Netz, in denen die Partei verspricht zu verhindern, dass künftig alle dazu gezwungen werden Insekten zu essen, und ausschließlich dunkle Gestalten junge Frauen belästigen. In denen aber zum Teil tatsächlich auch die drängenden Probleme adressiert werden, mit denen sich aktuell gerade junge Menschen von den regierenden Parteien allein gelassen fühlen: Kriegsangst und absurd gestiegene Mieten und Immobilienpreise. „Du lässt dich gern als Kartoffel beleidigen?“, fragt die Partei in den Sozialen Medien, aber eben auch: „Du willst dir nie ein Auto oder Haus leisten können? Nicht AfD wählen!“

Diese Strategie aus Lügen und Verkürzungen verfängt auch deshalb, weil ein Gegengewicht fehlt. Die anderen Parteien fremdeln immer noch mit dem nun auch nicht mehr gar so neuen Medium und haben es viel zu lange ignoriert, weil sie glaubten, in den Sozialen Medien komplexere Argumente nicht transportieren zu können. Das hat sich nach dem Europawahl-Schock geändert, nun wollen die Demokrat:innen mehr Geld in die Hand nehmen. Das ist auch bitter nötig, weil es absolut gar nichts bringt, wenn der 47-jährige Ortsverbandsvorsitzende eine Story aus der Sitzung des Haushaltsausschusses der Stadtverordnetenversammlung postet. Da müssen Profis ran.

Profis wie Julian Buning. Der ist Geschäftsführer von Wunderkidz, seiner, wie er sie nennt „Influencer-Marketing-Agentur“, die auf die Musik- und Entertainmentwirtschaft fokussiert ist, mit Plattenfirmen von den großen Majors bis zu renommierten Indies wie Grönland und Domino, Festivals und Veranstaltern zusammenarbeitet. Zuletzt hat Wunderkidz in Kooperation mit dem Europäischen Parlament auch eine politische Kampagne gestartet, die sich an Erstwähler:innen richtete und eine „Gegenstimme gegen den Rechtsruck“ sein sollte.

Auf der Website der Initiative „Creators for Democracy“ wurden Influencer:innen, und dazu zählt für Wunderkidz jede und jeder, der mehr als 15.000 Follower:innen besitzt, dazu aufgerufen, „aktiv an der Demokratie in der Europäischen Union teilzuhaben, sie zu stärken und für dich, deine Werte und deine Interessen einzustehen“. Die Content-Creators, die sich, so Buning im Gespräch, „sonst eher politikfern verhalten“, wurde in Gespräöchen Hintergrundwissen vermittelt und Content zur Verfügung gestellt, mit dem sie ihre Follower:innen an die Wahlurne bringen sollten. Mehr als 300 haben die Plattform genutzt, sagt Buning, die Kampagne erreichte eine Brutto-Reichweite von 80 Millionen und 35 Millionen Impressions.

Wunderkidz haben versucht, ihre Methoden aus dem Pop-Marketing dazu zu verwenden, Menschen zu politisieren. Und in gewisser Weise auch nichts anderes getan als die politisch rechte Seite, nur mit anderen Inhalten. „Die Kampagnen der AfD funktionieren zum Teil nach gleichen Dynamiken wie popkulturelle Phänomene“, erklärt Buning. Täglich werden tausende Songs und Videos hochgeladen, aber erst wenn sie einen Nerv treffen, ein paar Mal geliked und kommentiert werden, kann eine Eigendynamik entstehen, die man aber nicht vorab planen kann. „Gerade deswegen ist eine hohe Anzahl an Content-Veröffentlichungen so wichtig, um Wirkung zu erzielen“, so Buning. Anders gesagt: Man schmeißt möglichst viel an die Wand und irgendwas wird schon kleben bleiben. Der eine Song wird nicht plötzlich aus dem Nichts zum viralen Hit, weil eine bekannte Persönlichkeit mit viel Reichweite ihn promotet, sondern wenn sich die überschaubaren Reichweite möglichst vieler kleinerer Multiplikatoren jeweils gegenseitig multiplizieren. „Communities aufbauen“, nennt das Buning, und „wenn jemand erstmal in dem Strudel drin ist und überall blaue Herzchen und Deutschlandfahnen sieht, dann will er dazu gehören, will Teil der Gemeinschaft werden.“

Dieses Strudelprinzip funktioniert besonders gut auf TikTok, weil der Algorithmus anders gebaut ist als bei den anderen Sozialen Medien. Auf Facebook oder Instagram erreicht man mit einem Post vor allem die Menschen, die bereits mit einem befreundet sind oder einem folgen. Bei TikTok erreicht man ganz leicht auch Menschen, zu denen es solch eine Verbindung nicht gibt. Das macht es sehr viel einfacher, mit seinen Inhalten viral zu gehen. „Und das hat die AfD am frühesten gemerkt“, sagt Buning, „und setzt es organisatorisch und technisch geschickt um. Genau dagegen treten wir an, indem wir die Stimmen gegen Rechts stärken“

Denn dem entgegen zu treten, funktioniert womöglich am besten mit denselben Methoden. Seit März gibt es den Hashtag #ReclaimTikTok, den Fridays-Fort-Future-Aktivist:innen benutzt haben. Aber vielleicht geht ja auch noch was mit klassischeren popkulturellen Methoden. Denn auffällig ist schon, dass – nach einer Welle von AfD-Disses in Rap-Songs vor einigen Jahren – nun eine gewisse Politisierung bei jenen Künstler:innen zu beobachten ist, die heutzutage junge Menschen erreichen. Nina Chuba war der größte Name aus dem Pop, der bei der „Wir sind die Brandmauer“-Großdemo gegen Rechts vor dem Bundestag im Januar auftrat, Paula Hartmann sprach bei derselben Veranstaltung. Bei den Auftritten von Ski Aggu, der im Esquire-Interview die Spaltung der Gesellschaft beklagt, skandiert das Publikum „Fick die AfD“. Am deutlichsten sichtbar in den traditionellen Medien war der Protest von Bausa, der im Februar bei „Schlag den Star“ ein „FCK AFD“-T-Shirt enthüllte.

Ausdrücklich politisch äußern wollen sich allerdings nur die wenigsten. Interviewanfragen des Musikexpress verliefen fast alle im Sand, unter der Hand ist zu hören, man wolle lieber „Taten statt Worte sprechen“ lassen. Soffie kann die Zögerlichkeit der Kolleg:innen gut verstehen: „Ich bin auch vorsichtiger geworden.“

Es bleibt eher unbekanntere Künstler:innen überlassen, konkreter zu werden. Yu, der in seinen Songs schwerelos zwischen Gesellschaftskritik und Liebeskitsch changiert, droht „den Nazis“ in seinem Song „Moshpit“ schon mal an: „Wir trampeln auf den Schädeln dieser hasserfüllten Wesen.“ Die Ironie verstehen die Angesprochenen eher nicht, der Musiker aus dem Rhein-Sieg-Kreis hält seinen Wohnort aus Angst vor Übergriffen von Rechts geheim. Paula Carolina übersetzt das Akronym AfD in ihrem Song als „Angst frisst Demokratie“.

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Und der Berliner Pop-Chor A Song For You, der sich als Plattform „unterrepräsentierter Stimmen“ versteht, hat eine neue Version vom Sylt-Schlager „L‘amour toujours“ eingesungen, die den Love-For-all-Aspekt des Gigi-D’Agostino-Originals wiederbelebt.

Wie verschlungen die Wege zum popkulturellen Kommentar sowohl in der realen wie in der viralen Welt sein können, zeigte Soho Bani. Dessen Neuinterpretation von „Zeit, dass sich was dreht“, Herbert Grönemeyers Hit zur Fußball-WM 2006, war eigentlich gedacht als Klage gegen den Stillstand der alten Männer, wurde dann zu einem Soundtrack der EM 2014 und erreichte so sehr viele Menschen mehr mit seiner Botschaft. Die Frage ist nur, ob die Botschaft dann noch tatsächlich ankam. Es blieb also was kleben an der Wand, aber kann das die Lösung sein: dass alle immer mehr und mehr werfen, bis die Wand nicht mehr zu sehen ist? Und was ist, wenn diese Wand dann ausgerechnet die Brandmauer war?