Island / Chris Blackwell
Vor 20 Jahren belächelte man ihn, als er mit jamaikanischer Musik die westlichen Pop-Charts erobern wollte. Inzwischen ist der smarte Chris Blackwell Chef der größten unabhängigen Plattenfirma der Welt. So unterschiedliche Musiker wie die Spencer Davis Group, Cat Stevens, Bob Marley, Robert Palmer und Grace Jones begaben sich unter seine Fittiche. Gründe genug für uns, anstelle einer Band diesen unkonventionellen Macher einmal näher zu beleuchten.
Als uns das Benzin ausgeht, sind es noch gut 30 Kilometer bis zur nächsten Stadt. Zwei Männer stehen am Straßenrand, eine Frau hat sich zum Pinkeln seitwärts in die Büsche geschlagen. , Unerhört‘, meint der eine. .Abgebrüht“, sagt der andere.
.Was steht ihr hier rum,“ schimpft die Frau. .Ist mir doch schnurz, ob mich jemand sieht. Wenn du mußt, dann mußt du eben.“
Die Frau ist die französische Schauspielerin Nathalie Delon. Den amerikanischen Slang beherrscht sie zwar perfekt, doch schwingt in ihrem Englisch noch ein feiner französischer Unterton. Es klingt wie der Gesang der Sirenen.
Einer der beiden Männer ist Chris Blackwell. Er und Millie Delon sind seit vier Jahren liiert. Blackwell, groß, halblanges rotblondes Haar, steckt in Sandalen und verwaschenen Jeans. Dazu trägt er ein Black-Uhuru-T-Shirt und einen Button: „Everything is great“. Er strahlt das weltmännische Flair eines Mannes aus, der daran vermutlich auch glaubt Der andere Typ – der Autor dieser Geschichte – übt den Beruf eines Reisenden und Schreibers aus. Er hat keine Ahnung, ob wirklich kein Benzin mehr im Wagen ist – oder ob es sich um einen von Blackwells Streichen handelt. Die Ungewißheit verunsichert ihn. .Was für ein Interview“, sagt er. „Das Band läuft seit zehn Minuten – und alles, was ich drauf habe, ist das Pinkeln und Autolärm.“
.Ich habe keine Ahnung, warum ich mich überhaupt zu diesem Interview habe breitschlagen lassen,“ meint Blackwell. „Von mir hat doch noch niemand etwas gehört!“
.Fangen wir doch vorne an,“ schlägt der Autor vor.“ Willst du ihm wirklich alles erzählen?“
fragt Millie Delon.
.Nein, ich sage ihm die Wahrheit – und er denkt sich die adäquaten Lügen aus.“
“ Verstehe ich nicht“, sagt sie.
Blackwell kam am 22. Juni 1937 in London zur Welt. Sein Vater war Ire, seine Mutter, Blanche Lindo, entstammt einer alten jamaikanischen Familie, deren Vorfahren sich auf der Flucht vor der Inquisition 1743 aus Portugal absetzten. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts machten sie auf Jamaika ein Vermögen mit Rum, Zucker, Kokosnüssen und Viehhandel. Als Blackwell geboren wurde, besaßen die Lindos noch immer den Ruf einer einflußreichen Kaufmanns-Sippe.
Blackwell war sechs Monate, als er nach Jamaika kam, wo er die ersten zehn Jahre seiner Kindheit verbringen sollte – einsam und ohne Freunde in einem geräumigen Haus, Terra Nova genannt, das in einem von Kingstons feineren Außenbezirken stand Als er Zehn war, wurde er nach Harrow geschickt, einem renommierten, aber reichlich rückständigen englischen Internat. 1955 verließ er unter mysteriösen Umständen die Schule vor dem regulären Abschluß. Er ging zurück nach Jamaika.
Aber was sollte er nun mit sich anfangen? Und – wieso sollte er überhaupt etwas tun? Immerhin konnte er es sich leisten, auf einen Broterwerb völlig zu verzichten. Trotzdem ging er wieder nach London, um sich bei einer angesehenen Firma in die Geheimnisse der Buchhaltung einweihen zu lassen. Aber da diese Profession damals schon genauso öde war wie heute, steckte er bald wieder auf.
In den folgenden Jahren wandte er sich einer eher romantischen Form von Bilanzen zu – er wurde Spieler. Blackwell lernte Bridge, Poker, Blackjack. Er wettete auf Pferde in Newbury, Ascot und Kempton Park. Montags und freitags war er beim Hunderennen in Wembley, die Donnerstage und Samstage waren für White City reserviert. Und das war, wie er heute glaubt, eine geradezu exzellente Form der Ausbildung.
Wenn man bereits im zarten Alter Erfahrungen als Spieler sammelt, dann entwickelt man auch einen hervorragenden Instinkt für den Wert des Geldes. Man lernt die notwendigen Schachzüge, die man kennen muß, wenn man sich eines Tages auf das glatte Parkett des Kommerzes zu wagen gedenkt. Aber soweit war es noch nicht.
1958 ging Blackwell nach Jamaika zurück, überzeugt, daß er nicht zu den Auserwählten zählte, die es in der Welt der Hunderennen, Pferde und Karten zu etwas bringen würden. So nahm er erstmal einen Job als Organisations-Helfer beim damaligen Gouverneur von Jamaika an, Sir Hugh Fooi Dann verkaufte er Liegenschaften und vermietete Motorroller. Er jobbte als Wasserski-Lehrer für das Half Moon-Hotel in Montego Bay. Er arbeitete, wenn ihm danach war. Meistens aber hatte er kein Bedürfnis.
1959 verbrachte er sechs Monate in Amerika, trieb sich auf der Jazz-Szene herum und freundete sich mit Miles Davis an. Jazz wurde sein neues Steckenpferd.
Zurück auf Jamaika, hörte er im Half Moon-Hotel die Band des blinden Pianisten Lance Haywood. Blackwell beschloß, eine Platte mit ihnen zu machen und gleichzeitig ein eigenes Label zu gründen. Inspiriert durch Alec Waugh’s erfolgreichen Roman „Island In The Sun“ und die anschließende Verfilmung, nannte er das Label Island Records. Das Betriebskapital belief sich auf knapp 1000 Dollar. Damals waren keine astronomischen Summen nötig, um ein eigenes Label zu starten.
Die Aufnahmen machte er bei einer Radiostation in Kingston (es gab keine Studios am Ort); wenige Wochen später veröffentlichte er das Album LANCE HAYWOOD AT THE HALF MOON. Es wurde ein Flop. Blackwell reagierte, wie er es noch immer tut, wenn er eine Niete produziert hat: Er schob sofort eine andere Platte hinterher. Aber wieder war es ein Reinfall.
1960 mußte seine Mutter wegen finanzieller Engpässe Terra Nova verkaufen. Blackwell, der sehr an diesem Haus gehangen hatte, schwor sich verärgert, daß ihm ein derartiges Mißgeschick nicht noch einmal widerfahren sollte. Bisher hatte er sich ohne Verpflichtungen durch das Leben laviert. Aber der Verkauf von Terra Nova elektrisierte ihn so sehr, daß er sich fortan ernsthaftere Gedanken über seine Zukunft machte.
Er versuchte es wieder mit Plattenproduktionen. Von populärer Musik gab es damals auf Jamaika noch keinerlei Aufnahmen. Schon 1960 kam sein erster Erfolg mit der Laurel-Aitken-Single „little Sheila“. Der Titel machte das Rennen und wurde Nummer 1; dasselbe geschah mit der B-Seite, „Boogie In My Bones“. Und auch seine nächste 45er schaffte es auf Nummer 1. Im Erfolgsrausch und Besitz von 1500 Dollar Bargeld eröffnete er in Kingston ein Büro. Eine wunderschöne Chinesin diente gleichzeitig als Freundin und Sekretärin.
Blackwells nächster Deal bestand darin, 63 Musikboxen in kleinen Busch-Dörfern zu kontrollieren. Wenn er nicht in seinem Büro saß, klapperte er diese Ortschaften ab, lieferte seine Platten ab und bekam langsam aber sicher mit, was ein jamaikanisches Publikum hören wollte und was nicht.
Inzwischen arbeitete er hart, manchmal 15 oder 16 Stunden am ‚ Tag. Viel später einmal äußerte Blackwell nicht ohne Stolz, daß die Arbeitswelt in zwei Lager gespalten sei: die einen könnten den Freitag nicht erwarten, die anderen den Montag – wobei er natürlich zur letzteren Gruppe gehöre. Nicht einen Moment lang habe er die Musik als Arbeit betrachtet; er habe lediglich sein Hobby zum Beruf gemacht 1961 stand Blackwell während der Dreharbeiten zum James-Bond-Film „Dr. No“ dem Produzenten Harry Saltzmann zur Seite. Autor Ian Fleming hatte ihn empfohlen. Im Anschluß bot ihm Saltzmann einen festen Aufgabenbereich in seiner Produktionsfirma an. Aber Blackwell war unentschlossen. Er glaubte zu wissen, daß er inzwischen die richtige Nase für das Plattengeschäft entwickelt habe – auch wenn er noch nicht besonders erfolgreich war. Andererseits war das hier ein handfestes Angebot, eine Chance.
Blackwell ging zu einer renommierten Hellseherin in Kingston und bat sie, den Zukunftsschleier zu lüften. Die alte Dame riet ihm, weiterhin selbständig zu arbeiten. Eigentlich eröffnete sie ihm nur, was er selbst längst wußte: daß er nämlich als Angestellter völlig ungeeignet war. Er lehnte Saltzmanns Angebot ab.
Im Frühjahr 1962 war Blackwell als Plattenproduzent flügge geworden. (Einer seiner ersten Konkurrenten übrigens war, wie es der Zufall so will, Eddie Seaga, Jamaikas gegenwärtiger Premierminister.) Sicher, bei Island handelte es sich nicht um eine reguläre Schallplattenfirma, sondern um ein spontanes, unorthodoxes Label, das bislang zwei LPs und 26 Singles veröffentlicht hatte.
Es war alles mehr ein Jux, ein lustiger Streich. Aber was zum Teufel bedeutete das schon – er war doch erst 25 Jahre alt.
Blackwell ist unpünktlich. Er ist immer zu spat – und zwar so konsequent, daß man gelegentlich glaubt, er sei seiner Zeit einfach voraus. Ein jamaikanisches Sprichwort lautet „Soon come“ im übertragenen Sinne soviel wie „immer mit der Ruhe“. Pünktlichkeit gilt auf Jamaika entweder als aufdringlich oder als Zeitverschwendung. Und wenn Blackwell sagt, “ Wir treffen uns definitiv am vierten in Kingston … oder am fünften,“ wird sich niemand darüber wundern.
„Bei Blackwell kannst du dich lediglich auf zwei Dinge verlassen, „verbreitet sein Freund Artie Mogull. „Nämlich darauf, daß er zu seiner eigenen Beerdigung noch zu spät kommt – und darauf, daß er nichtmal fünf Dollar raustut, wenn er es nicht will.“
Der Autor, Nathalie Delon und ihr belgischer Hirtenhund warten in Blackwells New Yorker Hotelsuite am Central Park South. Blackwell sollte eigentlich schon seit gestern hier sein. Diese Suite ist eine von fünf Niederlassungen, die er sich in England, Nassau/Bahamas und Jamaika hält.
Seit fünf oder sechs Jahren bewohnt er die New Yorker Suite und richtete sie auch seinem exzentrischen Geschmack gemäß ein. Mit Ausblick über die Manhattan Skyline fühlt man sich hier wie in einer fliegenden Discothek. Aus der Anlage dröhnen die lauten, erdverbundenen Töne von Black Uhuru. Und in der Dunkelheit ist die beleuchtete Skyline so greifbar, daß sie wie ein Teil des Raumes wirkt.
Gegen Mitternacht kreuzt Blackwell endlich auf. Wieder in seiner gewohnten Kluft; Sandalen, T-Shirt und Jeans. Mit der Haute Couture hat er nicht viel am Hut. Wie ein Freund einmal bemerkte, wird Blackwell seit mehr als 20 Jahren an bevorzugter Stelle auf der Weltrangliste der schlechtgekleidetsten Männer geführt.
Blackwell will wissen, was das Interview macht. Wie immer wirkt er desinteressiert und neugierig zugleich.
„In deiner Abwesenheit schläft es spürbar ein, „informiert ihn der Autor.
„Ich habe nachgedacht,“ meint Blackwell. „Da sollte definitiv auch was Niederträchtiges mit hinein.“
Der Autor war sich natürlich darüber im klaren, daß Rock’n‘-Roll ein skrupelloses Geschäft ist – ein heimtückisches Wasser, über das Blackwell nun schon seit nahezu 20 Jahren ohne Mißgeschick hinwegsegelt. Ahmet Ertegun, der ausgefuchste Boß von Atlantic Records, hatte ihn vor langer Zeit einmal als „baby faced killer“ bezeichnet. Eine These, die im Rockgeschäft bislang nicht zu widerlegen war.
„Niederträchtiges?“ fragt der Autor.
Ja, weil mich einige Leute für ein Schwein halten.“
„Nein…
„Naja, nach dem, was ich so höre.“
“ Gerüchte möglicherweise,“
lenkt der Autor ein.
Blackwell lächelt: „Möglich.“ Im Frühjahr 1962 erlebte Blackwells kleines Unternehmen einen regelrechten Boom. Aber er sah sich mit zwei Problemen konfrontiert. Erstens setzte er mittlerweile mehr Platten in England ab als auf Jamaika – und zweitens sah er sich jetzt der Konkurrenz von Plattenproduzenten wie Sir Coxone Dodd, Duke Reid, King Edwards und Leslie Kong ausgesetzt. Blackwell entschied, diesem direkten Wettbewerb aus dem Wege zu gehen, indem er nach England ging und dort auch seine Konkurrenten repräsentierte. Das war im Mai 1962.
In London mietete Blackwell ein Büro in guter Geschäftsgegend, Knightsbridge, und gründete eine Gesellschaft mit Namen Island Records. Die Investitionen kamen von fünf Gesellschaftern, in erster Linie Jamaikaner chinesischer Abstammung. Die Firma Island wurde im Mai‘ 62 mit einem Startkapital von 5300 Dollar ins Leben gerufen.
In den nächsten zwei Jahren blieb Island ein Winzladen, in dem alles gemächlich vor sich hin lief. Blackwell machte sein Haus zum Büro, und beschäftigte eine Sekretärin. Keine Chinesin diesmal. Als Lager diente der Rücksitz
seines blauen Mini Coopers, mit dem er Tag für Tag in die schwarzen Ghettos düste. Er besuchte die Plattenläden von Brixton, Stoke Newington und gelegentlich . auch oben in Birmingham, um die um die Plattenbestände je nach Verkauf sofort wieder aufzufüllen. Im ersten Jahr blieb Island ein Nettogewinn von 8000 Dollar. 1963 betrug der Profit 6000 Dollar. Ein kleines Unternehmen, wie gesagt, das sich so treiben ließ.
Immerhin, Blackwell betrachtete seine Firma als Erfolg. Islands erste Veröffentlichung kam im Sommer ’62 heraus: die Single „Twist Baby“ des jamaikanischen Sängers Owen Gray. Blackwell hatte 500 Exemplare pressen lassen und genausoviele abgesetzt. Erfolg, so glaubte er, sei relativ. Für ihn gab es keine Richtlinie, die Erfolg oder Mißerfolg definierte. Erfolg sei ohnehin eine Fiktion, ein angelsächsischer Mythos, den die arglose Masse von der übergeordneten Klasse aufgebunden bekommt. Er jedenfalls hatte 500 Platten gepreßt und alle verkauft. Ihm ging es prächtig, und er war – in dem von ihm gesteckten Rahmen – auch erfolgreich. Viel wichtiger war jedoch, daß sein kleines Unternehmen trotzdem wuchs.
Blackwell hatte es geschafft, einen Markt für Spezialisten aufzubauen und da gab es für ihn kaum Konkurrenz. In ganz England blühte in erster Linie das Geschäft mit weißer Popmusik. Aber das kam ihm nicht in die Quere, es interessierte ihn auch nicht.
Eine von Islands allerersten Single-Veröffentlichungen hieß „Well Meet“, gesungen von den beiden jungen Jamaikanern Roy und Millie. Den guten Umsatz führte Blackwell in erster Linie auf Millie’s ungewöhnliche Stimme zurück. Er wollte darum die Fünfzehnjährige nach England holen, schrieb ihrer Mutter einen Brief und legte das Flugticket gleich dazu. Und so kam es, daß Millie Anfang 63 mir nichts dir nichts plötzlich auf dem Londoner Flughafen aufkreuzte.
Fünf Jahre zuvor hatte Blackwell in New York eine 78er erstanden, „My Boy Lollipop.“ Den Titel wollte er nun mit Millie aufnehmen. Als die Single fertig war, wußte er, daß er einen Mords-Hit hatte – eine Nummer, die schon zu groß war für die damaligen Kapazitäten von Island. Also suchte er sich einen Partner und machte einen Lizenzdeal mit Philips (heute Polygram).
„My Boy Lollipop“, 1964 veröffentlicht, schlug nicht nur in England ein; weltweit verkaufte sie sechs Millionen. Für Island blieb unterm Strich ein Gewinn von 150 000 Dollar. Blackwell zeigte sich jedoch keineswegs überrascht. Schließlich verkörperte Millie ja den Traum aller Weißen: Sie war schwarz, sah knackig aus und kam frisch aus dem Busch.
Mit Millies Erfolg sah sich Blackwell nun geradewegs ins Pop-Geschäft katapultiert – als ihr Manager. Da sich Island inzwischen sechs Angestellte leistete, überließ er ihnen den Plattenvertrieb und ging mit Millie auf Welttournee: ein Triumphzug für sie wie auch für ihren 27jährigen Manager.
1964 hörte Blackwell in Birmingham eine Band, die sich Spencer Davis Group nannte. Ihr Aushängeschild war ein Fünzehnjähriger, Steve Winwood, stark beeinflußt vom amerikanischen R&B der Fünfziger, für Blackwell ein jugendlicher Ray Charles. Begeistert nahm er die SDG für Island unter Vertrag, seine erste weiße Band. Wieder kam es zu einem Lizenzdeal mit Philips, weil er meinte, daß er und seine kleine Firma noch nicht soweit waren, um voll in das Geschäft mit dem Mainstream-Pop einzusteigen.
Die erste Nummer 1 der Spencer Davis Group in England war im Dezember 1965 „Keep On Running“; 1967 folgten mit „Gimme Some Lovin'“ und „I’m A Man“ auch zwei internationale Hits. Als die Band ein Jahr später auseinanderfiel, formierte Stevie Winwood Traffic. Island hatte seine erste Rockgruppe.
Der entscheidende Durchbruch kam für das Label 1967 – in dem Jahr, als das Musikbusiness, so Blackwell, vom Pop auf Rockmusik umstieg. Der Musikerstatus genoß wachsende Bedeutung, die Musiker wurden zu Stars wie Eric Clapton oder Jimi Hendrix.
In diesem Jahr löste sich Island auch von seiner Rolle als führendes ethnisches Label und stieg ins Rockgeschäft ein. Blackwell nahm Ende der 60er Jahre zahlreiche Acts unter Vertrag, die den englischen Rock und die Folkmusik entscheidend mitprägten: Free, Spooky Tooth, Robert Palmer, John Martyn, Fairport Convention, Jethro Tüll, King Crimson, Emerson, Lake & Palmer und, als erfolgreichsten von allen, Cat Stevens.
Blackwell war nun überzeugt, daß seine Schallplattenfirma weit und breit die beste und interessanteste sei. Island gab sich frisch und innovativ: Der Laden machte nicht nur Geld wie Heu, sondern trug auch dazu bei, daß sich ein völlig neuer Sound durchsetzte. In den folgenden vier Jahren ließ Blackwell die jamaikanische Musik nahezu links liegen und konzentrierte sich stattdessen auf seine englischen Rock-Gruppen.
Im Juni 1970 flog Blackwell nach Los Angeles, um mit Capitol Records über einen Vertriebs-Deal zu verhandeln. Capitol sollte Islands erster Vertriebspartner in Amerika werden. Für Blackwell waren diese Gespräche von existentieller Bedeutung. Die Bosse von Capitol hielten Island zwar für ein heißes Label, aber nur Blackwell wußte, daß Island bereits über seine Verhältnisse gewachsen und dadurch fast zahlungsunfähig geworden war. Er wollte also bei Capitol so viel wie nur möglich herausschlagen.
Die zwei Verhandlungsteams trafen sich im Capitol Tower zu einem Fünftage-Marathon. Die Capitol-Mannschaft setzte sich zusammen aus dem Präsidenten, dem Geschäftsführer, dem A&R-Chef und drei oder vier hauseigenen Experten, die ständig mit irgendwelchen Informationen hin- und herflitzten. Alle in Anzug und Schlips. Die Island-Mannschaft bestand aus Blackwell und seinem Anwalt. Blackwell in zerknitterten Jeans, Spooky-Tooth-T-Shirt und ausgelatschten jamaikanischen Sandalen.
Am fünften Tag hatte man sich soweit über alle Punkte geeinigt, jetzt ging es nur noch um die Tantiemen-Prozente für den vermutlichen Single-Umsatz. Der Disput entzündete sich an einer Differenz von vier Prozent zwischen dem, was Capitol zahlen – und dem, was Blackwell letztlich haben wollte. Es handelte sich um einen jährlichen Betrag von 250 000 Dollar oder, umgerechnet auf den Fünfjahres vertrag: 1250 000 Dollar. Capitol war das bei weitem zuviel, für Blackwell dagegen noch nicht mal annähernd genug.
Die Verhandlungen erstreckten sich über den ganzen Tag, bis Blackwell gegen 19 Uhr die Nase voll hatte. Derart ausufernde Gespräche hatten ihn schon immer genervt. Also schlug er vor, eine Münze zu werfen. Den Capitol-Bossen klappte der Unterkiefer herunter, aber da auch sie nicht in der Lage waren, eine akzeptable Lösung herbeizuführen, stimmten sie schließlich zu. Artie Mogull, Capitols A&R-Chef, sah sich auserwählt, den entscheidenden Wurf zu tun. Blackwell hatte das Nachsehen. Die Capitol-Leute atmeten erleichtert auf und gratulierten sich zu ihrer ausgekochten Verhandlungstaktik.
Die ganze Nacht hindurch waren die Rechtsanwälte am Rotieren. In einem Nebenzimmer tippten zwei Sekretärinnen unermüdlich den überarbeiteten Vertragstext. Scheinbar beiläufig wurde ihm dann ein Scheck über 1,5 Millionen Dollar als Vorauszahlung präsentiert. Mit dieser demonstrativen Geste wollte man, so vermutete Blackwell, ihn endlich einmal aus der Reserve locken.
Als die Verträge fertig waren, forderten die Capitol-Leute Blackwell auf, seine Unterschrift darunter zu setzen. Aber, nein, Blackwell war jetzt viel zu ausgepumpt. Es war spät, er mußte seine Maschine nach England noch erreichen. Er werde die Verträge mitnehmen, sie nochmal durchlesen, unterschreiben und sie in ein paar Tagen zurückschicken. Außerdem habe er seinen rosa Glücksstift vergessen; er unterschrieb grundsätzlich nie ohne seinen rosa Glücksstift. (Island hatte zu jener Zeit ein pinkfarbenes Logo).
Die Capitol-Leute waren unerbittlich. Fünf Tage lang habe man jetzt verhandelt, sie seien erschöpft. Es sei nicht nur menschlich fair, sondern absolut notwendig, daß er die Verträge jetzt unterschreibe. Artie Mogull blickte in die Runde seiner müden und ratlosen Kollegen. Im Gegensatz zu ihnen wußte er, daß Blackwell einen unterzeichneten Vertrag lediglich als ein Stück Papier betrachtete, welches ihm nur die Handhabe gab, aufs neue mit Verhandlungen zu beginnen.
Die Auseinandersetzungen dauern noch eine Weile an, bis Blackwell schließlich mit den Schultern zuckt und einen neuen Deal vorschlägt. Ein kollektives Stöhnen kommt von der anderen Seite des Tisches. Blackwell erklärt, er werde den Vertrag sofort unterschrieben, wenn Capitol ihm die vier Prozent zurückgeben würde. Einen Moment lang macht sich erschreckende Stille breit, dann geben die ausgepowerten Capitol-Bosse nach. Blackwell unterschreibt. Er nimmt den Scheck, schlüpft in seine Sandalen, die er aus verhandlungstaktischen Gründen ausgezogen hatte, und verläßt mit einem Lächeln den Raum.
1971 hatte sich Blackwell zum erstenmal auch bei einem Film-Projekt engagiert – und zwar bei dem jamaikanischen Ghetto-Klassiker „The Harder They Come“. Blackwell steuerte zwar nur 3000 Dollar zu den Gesamtkosten von 200000 hinzu, sicherte dafür aber dem von ihm gemanagten Jimmy Cliff die Hauptrolle. Der Streifen wurde zum Kultfilm auf der ganzen Welt. Im selben Jahr traf Blackwell auch Bob Marley. Ihr persönlich wie auch geschäftlich sehr enges Verhältnis hielt an bis zu Marleys Tod 1981. Marley spazierte eines Tages in Blackwells Londoner Büro, nachdem ihm in Schweden während einer Tour mit Johnny Nash das Geld ausgegangen war. Black well gehörte schon lange zu den Bewunderern Marleys und nahm ihn kurzerhand unter Vertrag. (Marley hatte ursprünglich bei CBS unterschrieben, aber Blackwell kaufte ihn dort frei für ganze 9000 Dollar plus zwei Prozent Beteiligung an den ersten sechs Alben. CBS hatte offensichtlich nicht die geringste Vorstellung von Marley’s Potential.) Damals war Marley in Jamaika schon so etwas wie ein Star, woanders hingegen kannte man ihn kaum. Um seine internationale Karriere anzukurbeln, gab Blackwell ihm 8000 Dollar, damit er CATCH A FIRE, sein erstes Album mit den Wailers, aufnehmen konnte. In den oberen Etagen der Plattenindustrie schlug man sich lachend auf die Schenkel und erklärte Blackwell, daß Marley das Geld zwar einkassieren, aber niemals ein Album produzieren werde. Und selbst wenn! Auf jamaikanische Musik gab niemand einen Furz, es war ein musikalischer Witz, der vielleicht in karibischen Discos ganz gut aufgehoben war.
Aber Marley machte das Album. CATCH A FIRE war die erste jamaikanische LP, die wirklich als Album konzipiert und nicht nur eine Ansammlung von Singletiteln war. Im ersten Jahr verkaufte sie sich 14 000 mal, seitdem wurde weltweit mehr als eine Million abgesetzt.
Während der folgenden fünf Jahre tourte Blackwell mit Traffic durch Amerika, bis sie sich 1974 auflösten und verbrachte zum anderen die meiste Zeit in Nassau und Jamaika um Bob Marleys Karriere zu steuern. Mit der Veröffentlichung von RASTAMAN VIBRATION (1976) wurde Marley endgültig zum Star.
Blackwell selbst produzierte die meisten Marley-Alben. Er hatte sich nicht danach gedrängt, aber als er keinen anderen Produzenten finden konnte, fühlte er sich am ehesten dazu berufen.
Im Gegensatz zu vielen anderen Produzenten geht Blackwell intensiv auf seine Künstler ein. Er hört auf ihre Kritik, bespricht mit ihnen den Sound der Platte und beredet die Covergestaltung. Viele Island-Künstler sind inzwischen enge Freunde Blackwells. Sein persönliches Interesse spiegelt sich darin wider, daß Steve Winwood bereits seit 18 Jahren bei ihm ist; bei Toots And The Maytals sind es 20, bei Robert Palmer 12 Jahre. Und Marley war 10 Jahre dort, als er starb.
Bis Mitte der 70er nahm Blackwell noch einige neue Acts unter Vertrag – namentlich Bryan Ferry & Roxy Music. Aber er engagierte sich vergleichsweise wenig, sondern konzentrierte sich stattdessen darauf, jamaikanische Musik auf den internationalen Markt zu lancieren. Zu dem Zweck rührte er die Promotion-Trommel für Marley und Toots & The Maytals, verpflichtete Third World und Burning Spear und baute seinen ausgeklügelten Studio-Komplex in Nassau aus: Compass Point.
Ende der 70er erweiterte Blackwell wiederum seinen musikalischen Horizont, indem er Grace Jones, Marianne Faithfull, U 2, die B 52’s, später dann auch Joe Cocker einkaufte. Heute ist Island eine riesige Company – größer, als Blackwell es je geplant hatte – mit Büros in London, Paris, New York, Los Angeles, Nassau und Kingston. Die Zentrale befindet sich aus steuerlichen Gründen in Nassau, dort, wo Blackwell ständig zwischen seiner am Meer gelegenen Villa und den Compass Point Studios hin und herpendelt. Obwohl Compass Point hauptsächlich Islands Produktions-Zentrale ist, lockt es Musiker aus aller Welt an. Unter ihnen AC/DC, die Talking Heads, Police und die Rolling Stones.
Blackwell hat angeblich keine Ahnung, was Island heute wert ist, widerspricht aber nicht, wenn man sie als eine der ältesten und erfolgreichsten Privatfirmen innerhalb der Schallplattenindustrie bezeichnet. Im Mai dieses Jahres feierten Islands Records ihr 20. Jubiläum. Und Blackwell nahm sich vor, von nun an auch in die Filmproduktion einzusteigen.
Es gibt bereits vier von Island Pictures produzierte Filme: „Countryman“, einen jamaikanischen Reggaestreifen, „Forty-Deuce“, bei dem Paul Morrisey Regie führte, „Marley“, eine Dokumentation über das Leben des Musikers und „They Called It An Accident“, ein französischer Film von Nathalie Delon, die das Drehbuch schrieb und Regie führte.
Blackwell legt wert darauf, sein Tempo selbst zu bestimmen und die Dinge nach seinem Gutdünken zu regeln. „Big is bad“ lautet seine Devise. „Ich sehe Island am liebsten als erstklassigen Delikatessenladen. Die meisten größeren Labels sind doch Supermärkte, die alles mögliche verkaufen. Die Plattenindustrie befindet sich zur Zeit ernsthaft im Stadium der Stagnation,“ ^ erklärt Blackwell. „Ich meine, die Lage wird doch langsam kritisch, wenn ich die einzige Person in leitender Position bin, die tatsächlich auch Platten macht.
Ähnlich idiotisch geht es ja in Hollywood zu: Die Leute, die in den Studios das Sagen haben, haben vom Filmen überhaupt keine Ahnung, das geht über ihren Horizent. Aber trotzdem kontrollieren sie die Filme, und das ist einfach ungesund Das Film- und das Platten-Business, wie wir es heute kennen, ist am Ende. Dinosaurier. In der Schallplatten-Branche sitzen an der Spitze meistens Hechtsanwälte und Buchhalter, die sich fach ungesunen Umsatzlisten aus dem Computer verlassen. Sie siness, wie nur mit der Vergangenheit. Da gibt’s nur ein Problem: Talent und Kreativität schlummern nicht in der Vergangenheit.
Sie sind nicht imstande, neue Talente zu verpflichten und aufzubauen. Ihnen fehlt die Zeit und wahrscheinlich auch das Interesse. Die Firmen, die sie leiten, sind so strukturiert, daß sie lediglich mit großen Namen und Aushängeschildern arbeiten. Wer ist ein Star ? Wer besitzt genügend Zugkraft? Jeder kriegt seine Verpackung, seine Vorschußlorbeeren. Uberlaß nichts dem Zufall, geh auf Nummer sicher, laß dich nicht zu unbedachten Schritten hinreißen, du könntest deinen Job verlieren. Meistens ist doch das die Mentalität die Mentalität von Gehaltsempfängern.
Ich habe gehört, daß es in der Filmbranche verantwortliche Posten für kreative Angelegenheiten gibt. Das ist ein Witz. Das sind keine Kreativen, sondern Fabrikanten. Und, von anderen Dingen einmal abgesehen, bewirken sie überhaupt nichts, weil sie nach einem Jahr entweder gefeuert werden oder den Job wechseln.“
Blackwell schaut ausdruckslos aus dem Fenster. „Hör zu, das ist heute alles nur noch Big Business. Ich glaube nicht, daß sich die Leute da ernsthaft drum kümmern, was das Publikum will. In meinen Augen sind die Japaner die einzigen, die ein aufrichtiges Interesse daran haben, das Publikum damit zu versorgen, was wirklich gefragt ist.“
„Damit haben wir’s wohl, meint der Autor.
„That’s great“, sagt Blackwell. „That’s great“ und „That’s a drag“ sind übrigens zwei seiner Lieblings-Floskeln, beide kommen exakt im gleichen Tonfall.
Es ist kurz vor drei, am Horizont ziehen dunkle Wolken auf.
„Es bewölkt sich,“ stellt Millie Delon iest, die vor ihrer Rückkehr nach Paris eigentlich noch die Bräune etwas auffrischen wollte.
„Ich wußte, daß es noch regnet.
„Macht nichts“, meint Blackwell.
„Merde“, schimpft Millie Delon.
Blackwell lächelt. “ Wieder ein versauter Tag im Paradies“.