Interview: Phil Collins
Bei Collins, so giftete einst Kinks-Kopf Ray Davies, habe man stets den Eindruck, er schaue beim Trommeln ständig auf die Rolex, um nur ja nicht die Concorde zu seinem nächsten Einsatz zu verpassen. Zur Zeit mit "Both Sides" wieder solistisch aktiv, nahm sich der Mega-Macher trotzdem die Zeit, um ME/Sounds in die Geheimnisse eines (termin)erfüllten Lebens einzuweihen.
ME/SOUNDS. Ich war mir nicht sicher, ob ich unser Gespräch mit dieser Frage beginnen sollte; nachdem du aber auf dem Weg vom Studio zum Wohnhaus gerade selbst von deiner ständigen Termin-Hetze und Concorde-Manie erzählt hast, kann ich eigentlich nur mit der fundamentalsten aller Fragen beginnen: „Warum?“
COLLINS: Warum? (lacht) In Momenten wie diesem stelle ich mir die Frage selbst, und meine Frau macht sich auch so ihre Gedanken. Auf uns prasselt ständig eine derartige Flut von Terminen und Informationen nieder, daß es einen manchmal wirklich umhauen kann.
Ich tue einfach, was zu tun ist. Ich habe ein Album produziert, das ich für stark halte und folglich muß ich all die Dinge erledigen, die eine Veröffentlichung nun mal mit sich bringt.
ME/SOUNDS. Ich frage deshalb, weil du sicher selbst weißt, was die Leute hinter deinem Rücken tuscheln: „Warum bleibt der Mann nicht einfach zuhause, zählt seine Taler und spielt mit der Modelleisenbahn? Warum genießt er nicht sein Leben, sondern stürzt sich von einem Projekt ins nächste?“
COLLINS: Wenn sie sich das fragen, weil sie meine Musik nicht mögen, lautet meine Antwort kurz und schmerzlos: „Fuck them!“ Mein Job ist es nun mal, Songs zu schreiben. Ich bin kein Geschäftsmann, der auf Teufel-komm-raus Geld scheffeln will. Ich habe genug davon ich hätte mich schon 1 985 zur Ruhe setzen können, wenn ich das gewollt hätte! Aber das ist nicht der Punkt.
Wie gesagt, ich bin Songwriter, mir macht das nach wie vor Spaß, und ich nehme nur alle vier Jahre ein Soloalbum auf. Ich denke nicht, daß dies zuviel ist! Zwischendurch gibt es Alben von Genesis, an denen ich nur zu einem Drittel beteiligt bin.
Ich weiß, daß Genesis und ich gerade in Deutschland extrem erfolgreich sind; und ich bin dankbar dafür. Die Popularität bringt es zwangsläufig mit sich, daß es viele Leute gibt, die nicht auf meine Musik stehen. Auf 1.000, die es mögen, kommen vielleicht 100, für die es ein rotes Tuch ist. Wenn man das mit ein paar Millionen multipliziert, sind das eine Menge Leute, die mich am liebsten zum Teufel jagen möchten.
ME/SOUNDS: Stört dich das? COLLINS: Ein bißchen schon. Ich dachte eigentlich, dies sei eine Einstellung, die auf England beschränkt sei. Die Zyniker in der englischen Presse sagen genau das gleiche: Warum zählt er nicht sein Geld und haut ab? Aber es geht mir nicht ums Geldzählen.
ME/SOUNDS: Deine Kritiker unterstellen dir vermutlich, daß du Musik aus Gewohnheit und nicht aus einem emotionellen Bedürfnis machst …
COLLINS: Ich kann mir vorstellen, daß einige Leute perplex sind, weil ich einfach nie Ruhe gebe. Für mich selbst sieht das ein wenig anders aus: Es gibt durchaus Phasen, in denen ich nicht übermäßig aktiv bin. Aber da sich die Genesis- und die Solo-Alben ständig abwechseln, liegen oft nur ein bis zwei Jahre zwischen den Veröffentlichungen. Und die haben dann auch noch in den Charts ein sehr langes Leben.
Mir tat Michael Jackson leid, als er „Thriller“ veröffentlichte. Nach einer Weile sagten alle: „Ich kann Michael ‚bloody‘ Jackson nicht mehr hören!“
Dabei hatte er nichts anderes getan, als eine Platte zu veröffentlichen, die ständig im Radio gedudelt und obendrein von 40 Millionen Leuten gekauft wurde. Das Resultat war, daß der Schuß nach hinten losging, weil alle die Schnauze voll hatten. Gegen diesen Mechanismus bin ich letztlich genauso machtlos ich nehme einfach nur eine Platte auf.
ME/SOUNDS: Gab es in deiner Karriere Momente, wie du sie eben im Falle von Michael Jackson beschrieben hast?
COLLINS: Klar, ich glaube, das war um „85, ’86 der Fall. Ich hatte einen Hit mit „Against All Odds“. produzierte ein Clapton-Album, darauf folgte „No Jacket Required“, und schließlich war ich noch mit Philip Bailey im Studio: „Easy Lover“ wurde weltweit Nummer eins, und mit „No Jacket“ hatte ich zwei Nummer-eins- und vier Top-Five-Hits in Amerika. Wir hatten Glück: Einfach alles, was wir veröffentlichten, wurde automatisch im Radio gespielt.
Und prompt gab es zu diesem Zeitpunkt ein paar Stationen, die sich einen Scherz machten und lauthals verkündeten: „Am nächsten Wochenende läuft bei uns garantiert keine einzige Phil Collins-Platte!“
Als ich davon hörte, fiel bei mir der Groschen: Der Sättigungsgrad in Sachen Collins war erreicht. Ich zog mich ein wenig von der Bildfläche zurück bis wir dann nach einer relativ langen Produktionsperiode „Invisible Touch“ herausbrachten.
ME/SOUNDS: Du hast bisher vor allem über den Business-Aspekt gesprochen. Wie hast du diese Erfahrung persönlich verkraftet? Ich kann mir vorstellen, daß selbst Platin-Alben und Concorde-Flüge auf Dauer langweilig werden.
COLLINS: Nicht die Bohne! Es hat mir Spaß gemacht! Es ist ein gutes Gefühl, wenn deine Platten erfolgreich sind. Ich habe mich nicht als gestreßt empfunden das bin ich nur im Moment ein bißchen, (lacht) Mich hat damals nur die Reaktion der Medien genervt, die sagten: „Wie können wir dich vermissen, wenn du einfach nie aus der Öffentlichkeit verschwindest ?“
Ich selbst hatte kein Problem damit gehabt, pausenlos weiterzumachen. Natürlich bin ich manchmal etwas müde, aber ich werde halt immer wieder gefragt, ob ich bei Projekten mitmachen will Projekte, die mich einfach interessieren oder die einfach Neuland für mich sind. Es ist einfach eine Herausforderung, wenn man mich fragt: „Könnten ¿
Sie einmal dieses Drehbuch durchlesen und darüber nachdenken, ob Sie in diesem Film mitmachen wollen ?“Ich lese es und frage mich, ob ich’s wohl draufhabe. Und dann mach ich es einfach!
ME/SOUNDS: Mit anderen Worten: Deine Berufung ist dein Beruf.
COLLINS: Exakt. Wenn mich Leute fragen, was mein Hobby ist, antworte ich: „Songschreiben!“ ^ Natürlich habe ich auch noch meine Modelleisenbahn, aber meine Arbeit macht mir letztlich mehr Spaß. Ich arbeite nicht in einer Bank, nicht in einem Supermarkt, wovon ich dann an den Wochenenden fliehen muß. Und je mehr ich arbeite, desto mehr wird mir klar, was da an kreativem Potential noch schlummert und das wiederum führt dazu, daß ich noch mehr arbeite …
ME/SOUNDS: Schaffst du es überhaupt noch, ab und zu mal im Pub vorbeizuschauen?
COLLINS: Und ob. Meine Stammkneipe ist gleich um die Ecke. Ein- bis zweimal pro Woche kannst du mich da am Tresen treffen.
ME/SOUNDS: Der Wallfahrtsort deiner Verehrer also?
COLLINS: Nein, seltsamerweise kommen die Leute lieber gleich zu meinem Haus und holen die Kamera raus. Übrigens: Es sind verdammt viele Deutsche! Woher ich das weiß? Einige von ihnen treffe ich persönlich, weil sie an der Haustür klingeln …
Neulich ist was Witziges passiert. Ich war oben im Kinderzimmer und spielte mit meiner Tochter. Als ich aus dem Fenster schaute, sah ich drei Männer, die hartnäckig mein Gemäuer anstarrten. Fand ich überhaupt nicht lustig, rannte also nach unten und raunzte sie an: „Was wollt ihr?!? Wenn ihr an der Türklingeln wollt, klingelt gefälligst aber steht hier nicht blöd rum und glotzt mein Haus an! Ihr befindet euch auf privatem Grund und Boden!“ Ich hatte bis dahin keine Ahnung, daß sie Deutsche waren. Sie tuschelten miteinander auf Deutsch, zuckten mit den Schultern und trollten sich. Ich brüllte ihnen noch hinterher, sie sollten gefälligst ihre Beine in die Hand nehmen.
Nachdem ich mein Mütchen gekühlt hatte, ging ich nach oben zurück. Meine Tochter, sie ist vier Jahre alt, fragte mich, was die Typen gewollt hätten. Als ich sagte: „Wahrscheinlich nur ein Autogramm, “ meinte sie: „Naja, dann war’s ja nichts Schlimmes!“ Das hat mir die Augen geöffnet. Ich rannte wieder runter und lief den Dreien auf der Landstraße hinterher. Ich entschuldigte mich, gab ihnen Autogramme und posierte für ein Foto.
Das ist wohl mein Karma: Die Leute haben offensichtlich keine Scheu vor mir. Sie erwarten von mir, daß ich ihr Kumpel bin. Naja, unterm Strich ist das ja durchaus positiv. Ist mir letztlich lieber, als wenn sie mich für ein arrogantes Arschloch halten.
Deshalb ist mein Haus vermutlich wirklich eine Art Wallfahrtsort, (lacht) An den Pub wagen sie sich nicht heran. Wenn doch mal jemand dort reinschaut und um ein Autogramm bittet, verstummen alle Unterhaltungen. Das tut man einfach nicht! Nicht an einem Ort, wo selbst Stars ganz normale Menschen sein wollen.
ME/SOUNDS: Wie haben es die drei Deutschen denn überhaupt geschafft, sich an den 20 Ex-KGB-Agenten vorbeizuschmuggeln, die doch sicher dein Haus bewachen?
COLLINS: (lacht) Die Antwort ist: Wir haben keine Bewacher. Wir schließen das Haupttor ab, weil die Leute früher einfach reingefahren sind und behaupteten, sie seien ganz zufällig vorbeigekommen. Es gibt dummerweise noch einen Seiteneingang…
ME/SOUNDS: Wann hast du selbst das letzte Mal jemanden um ein Autogramm gebeten?
COLLINS: Ich habe tatsächlich Autogramme gesammelt. Ich habe noch immer ein Fotoalbum mit Autogrammen von Tony Bennett, Sam Moore von Sam & Dave der jetzt ein guter Freund von mir ist , Audrey Hepburn Leute, die mich beeindruckt haben. Ich bin noch immer ein Fan. Oder ist das nicht cool?
ME/SOUNDS: Gibt es Leute, in deren Gegenwart du immer noch von Ehrfurcht ergriffen bist?
COLLINS: Hm. Obwohl ich Enc Clapton schon seit 15 Jahren kenne, denke ich bei unseren Begegnungen immer noch: „Das ist Clapton! Das ist der Typ, über den ich diverse Souvenir-Alben angelegt habe! Dessen Platten ich vergötterte, als er bei den Yardbirds und bei Cream spielte! Und jetzt spiele ich Schlagzeug hinter ihm …“ Man kneift sich in den Arm und fragt sich: „Bin das wirklich ich?“ Sicher ist das naiv, aber es ist schön, immer noch so fühlen zu können.
Ich bin auch ein Fan von David Crosby, der seit „Another Day In Paradise“ ein guter Freund von mir ist. Er ist ein sehr bescheidener Mann; ihm ist es immer peinlich, wenn ich ihm sage, wie sehr ich seine Musik seit den Byrds geliebt habe.
ME/SOUNDS: Heißt das, daß man auch als Superstar immer noch Fan sein kann?
COLLINS: Natürlich vorausgesetzt, man kann die Leute nach wie vor respektieren. Es kommt noch immer vor, daß ich denke: „Wow, ich sitze hier und rede mit George Harrison … oder mit Paul McCartney! Unglaublich /“Sie haben früher die Weit für mich bedeutet, aber bei ihnen erstarre ich nicht mehr unbedingt in Ehrfurcht.
ME/SOUNDS: George Clinton meinte mal zum Thema Starkult: „Meine Scheiße stinkt genauso wie die von jedem anderen …“
COLLINS: Das stimmt aber obwohl unsere Scheiße genauso stinkt, gibt es immer noch Leute, die talentierter sind als wir selbst! (lacht) ME/SOUNDS: In der Presse sind häufig Zitate von dir zu lesen, denen zufolge du dich gegen dein „Mr. Nice Guy“-lmage wehrst. Was unternimmst du, um dich als echtes Arschloch zu profilieren?
COLLINS: Ich verprügele regelmäßig deutsche Journalisten … (lacht) Mir fallen leider nie die geeigneten Aktionen ein. was wahrscheinlich bedeutet, daß ich wirklich ein netter Typ bin! Ich befürchte, daß ich nie in der Lage sein werde, mein Image völlig umzukrempeln.
Ich glaube zwar nicht, daß ich so wunderbar bin, wie die Leute denken. Und auch wenn ich Sachen mache, die einen als „guten Menschen“ qualifizieren Spenden für wohltätige Zwecke etc. , kann ich andere Leute durchaus auch anschnauzen. Ich bin nicht der Typ. der immer nur die andere Backe hinhält.
ME/SOUNDS: Gibt es neben dem Image noch andere Punkte, in denen du dich von der Öffentlichkeitfalsch verstanden siehst?
COLLINS: Nein, es geht eigentlich immer in die gleiche Richtung Attribute wie „Mr. Nice Guy“, „Mr. Middle-of-the-Road“ … Ich kann natürlich nichts dagegen machen; wenn die Leute das so sehen, dann ist das ihre Meinung. Ich sehe es natürlich nicht so, weil ich selbst keine „Middle-of-the-Road‘-Musik mag. Mich interessieren nur Dinge, die anders, die originell sind. Wenn ich mich selbst nicht als anders oder originell sähe, würde ich wahrscheinlich meinen Stil ändern.
Die Kritiker nehmen angesichts meines konstanten Erfolgs an. daß ich ein bestimmtes „Rezept“ habe, an das ich mich immer halte, ohne dabei irgendein Risiko einzugehen. Sie nennen mich „The man with the golden touch“ und ich muß dann am Ende immer selbst auf meine zahlreichen Flops hinweisen: Das von mir produzierte John Martyn-Album, die beiden Clapton-LPs und die Alben von Philip Bailey und Frida waren alle keine sonderlich großen Erfolge!
Manchmal habe ich das Gefühl, daß ich dies überkompensiere indem ich gegenüber Menschen, die meine Erfolge herausstreichen, mehr über meine Reinfälle als über meine Hits rede.
ME/SOUNDS: Ich bin überrascht, das zu hören ich habe angenommen, daß eigentlich alle der von dir genannten LPs Hits waren …
COLLINS: Wenn ich von „Flops“ spreche, meine ich das in kommerzieller Hinsicht. Künstlerisch gesehen fand ich das John Martyn-Album stark; Claptons „Behind The Sun“ halte ich für ein gutes Album, auch „August“ hat ein paar hervorragende Momente. Philip Bailey war Klasse, und die Frida-Platte hatte auch ein paar schöne Passagen. Als Künstler bin ich stolz darauf, solche Alben in meiner Discografie zu haben, aber kommerzielle Knaller waren sie nicht.
ME/SOUNDS: Wo wir gerade vom Image sprachen: Angesichts der Tatsache, daß du auf deinem neuen Album „Bolh Sides“ alle Instrumente selbst gespielt hast, wird man dir sicher auch nieder das Wort „Ego-Trip“ an den Kopf schmeißen …
COLLINS: Nun, zum einen sind die Songs sehr persönlich geraten: und ich wollte einfach nicht, daß noch andere Leute darauf rumtrampelt. Ich hatte diesmal eine sehr konkrete Vorstellung davon, was ich hören wollte.
Zum anderen habe ich häufig Probleme mit Bassisten. Von „But Seriously“ einmal abgesehen, verwende ich stets meine ursprünglichen Demos auch als Grundlage für die endgültige Produktion; und Bassisten haben häufig Probleme, auf diesen Bändern noch Freiräume für ihre Parts zu finden.
Um diese Klippe zu umschiffen, nahm ich mit dem Baß selbst ein paar provisorische Parts auf. damit die Bassisten später eine Idee haben, was mir vorschwebt. Ich habe mich da wohl etwas zu sehr reingekniet. Jedenfalls gefielen mir die Aufnahmen so gut, daß ich dachte: „Warum sollst du sie überhaupt noch einmal aufnehmen lassen ? Sie gefallen dir doch so, wie sie sind!“
Mit der Gitarre lief es ähnlich. Natürlich hätte ich Eric Clapton ins Studio holen können, natürlich hätte er wunderschöne Passagen beigesteuert. Aber ich wollte es diesmal einfach selbst versuchen …
Entscheidend war für mich, daß es auf meiner Platte um die Gedanken und Gefühle eines Individuums geht. Sobald eine Gruppe von Menschen die Bildfläche betritt, besteht die Gefahr, daß die ursprüngliche Intention verwässert wird. Eric hat mir zum Beispiel immer wieder gesagt, daß die bewegendste Musik für ihn die Songs von Robert Johnson sind, bei denen er sich selbst an der Gitarre begleitet. Obwohl ich mich natürlich nie in diese Kategorie einordnen würde, finde ich, daß ein Mann und seine Musik bestimmte Aussagen vermitteln können, die bei einem Mann und seiner Band leicht überhört werden könnten.
Auf dem Album gibt es nicht sehr viele Overdubs im Sound existiert viel akustischer Freiraum. Bei einem Song, „I’ve Forgotten Everything About You“, habe ich sogar das ursprüngliche Demo verwendet, das ich zuhause aufgenommen habe, ohne es auch nur neu abzumischen. Ich habe mich an einem anderen Mix versucht, aber es klang nicht mehr so gut, wie ich es zuhause hinbekommen hatte.
Hier haben wir also jemanden, der angeblich mit einem Fingerschnippen jeden Musiker der Welt herbeiholen kann und der ohne Rücksicht auf die Kosten jedes Studio der Well buchen kann: und trotzdem habe ich ein Demo verwendet, daß ich zuhause mit einem Zwölf-Spur-Rekorder aufgenommen habe. Solange mich ein Song bewegt und ich das richtige Gefühl verspüre, tue ich so etwas.
ME/SOUNDS: Wo ist der Unterschied zwischen Improvisieren und konzeptlosem Zusammenhauen?
COLLINS: Manchmal geschah es, daß ich impulsiv den Aufnahmeknopf drückte, ohne daß ich mir überlegt hatte, was ich eigentlich singen wollte. Statt das Band wieder zu stoppen, habe ich einfach versucht, mir etwas aus dem Ärmel zu schütteln.
Viele der Texte ergaben sich quasi von selbst, während ich sie sang.
Das hat nichts mit inspiriertem Genie zu tun; es hängt einfach damit zusammen, daß ich schon seit vielen Jahren so arbeite: Wenn ich Texte schreiben will, singe ich einfach drauflos egal, was mir gerade in den Kopf kommt. Ich bin in dieser Beziehung nicht schüchtern, weil ich dabei immer allein bin: es gibt also niemanden, vor dem ich mich blamieren könnte.
ME/SOUNDS: Im Text des Titelsongs, „Both Sides To Every Story“, geht es um soziale Probleme, die sicherlich den meisten Menschen schmerzlich bewußt sind. Kann ein Phil Collins wirklich neue Lösungsvorschläge beisteuern?
COLLINS: Ich denke dabei an den Film „Network“ ich bin ein großer Kino-Fan und „speichere“ bestimmte Schlüsselszenen. Wenn genug Leute in einem Wohnblock ihre Fenster öffnen und herausbrüllen würden: I’m nuid as hell, and I’m not gonna take it anymore!“, dann würde dies mit Sicherheit bemerkt werden, und dies könnte Veränderungen ins Rollen bringen.
Ich sehe die Funktion eines solchen Songs oder eines Titels wie „Another Day In Parardise“ darin, die Frage zu stellen: „Dies sind meine Gefühle zu diesem Thema habt ihr ähnliche Gefühle? Gibt es jemanden, den dieses Problem genauso beunruhigt? Wenn dies der Fall ist, solltet auch Ihr den Mund aufmachen; und wenn das alle tun, wird sich eine Veränderung ergeben. „
Der Song „We’re Sons Of Our Fathers“ dreht sich um die wachsenden Kommunikationsprobleme innerhalb von Familien. Die Eltern haben keine Ahnung mehr, was in den Köpfen ihrer Kinder vorgeht; und am Ende kommt es dann zu Situationen wie vor sechs Monaten in England, als zwei Zehnjährige einen fünfjährigen Jungen entführten und ihn umbrachten.
Anders gesagt: In der Altersgruppe meiner Fans gibt es viele Eltern; und es würde mir viel bedeuten, wenn sie sich den Song anhören und sagen würden:
„Er redet doch nicht etwa von uns, oder? Vielleicht meint er wirklich uns! Wann haben wir uns eigentlich zum letzten Mal mit unserem Sohn oder unserer Tochter hingesetzt und uns richtig mit ihnen unterhallen?“ Ich versuche einfach, einen unterschwelligen Vorschlag zu machen.
ME/SOUNDS: Es muß wohl schon ein paar Jahrhunderte her sein, da hatte Rock-Musik noch mit Rebellion zu tun. Heutzutage gibt es Acts wie Genesis, die mit Konzernen wie Volkswagen ins Bett steigen. Wenn du das aus dem Blickwinkel des Phil Collins betrachtest, der als junger Musikfan in die Szene einstieg: Hast du dann nicht Probleme mit dieser Art von Liaison?
COLLINS: Ich sehe das Thema mit ein bißchen emotionalem Abstand … Worauf es letztlich ankommt, ist doch folgender Aspekt: Die Genesis-Tour hat eine Menge Geld gekostet. Worauf man natürlich erwidern kann: „Ihr habt daran auch eine Menge verdient!“. Sooo viel war es auch wiederum nicht, wobei wir natürlich noch weniger verdient hätten, wenn Volkswagen nicht ausgeholfen hätte im Austausch dafür, daß auf dem Programm „Volkswagen Presents“ stand und daß wir von den Hotels zu den Auftrittsorten mit Volkswagen gefahren wurden. Damit kann ich leben ich habe deswegen keine schlaflosen Nächte.
Wenn ich dagegen in Volkswagen-Werbespots hätte verkünden müssen: „Dies ist der beste Wagen, den ich je gefahren bin! Warum verkauft Ihr nicht Euren Mercedes und kauft Euch dieses Teil?“, dann würde ich es in der Tat für Ausverkauf halten.
Trotzdem habe ich in Sachen Sponsorentum generell ein zwiespältiges Gefühl, weil es natürlich immer Zyniker gibt, die uns vorwerfen: „Wieviel Geld wollt ihr eigentlich noch scheffeln?“ Andererseits muß man bedenken, daß uns allein die Video-Leinwände sechs Millionen Dollar gekostet haben. Wenn man mit einem kleinen Logo und ein bißchen Händeschütteln die Preise für Eintrittskarten niedrig halten kann, dann finde ich das durchaus in Ordnung. Unsere Tickets liegen preislich nicht in der Spitzenkategorie, aber unsere Produktionskosten tun das sicherlich.
ME/SOUNDS: Was bedeutet euch Genesis eigentlich heutzutage überhaupt noch?
COLLINS: Im Moment rein gar nichts! (lacht) Ich habe im Moment gerade eine Produktion beendet, die das Persönlichste ist. das ich je gemacht habe und ich empfinde jetzt noch das damit verbundene Hochgefühl. Daher ist Genesis in meinem Leben völlig unwichtig. Wenn die gegenwärtige Intensität des Solo-Projekts ausgebrannt ist, wenn die Platte ihren Lebenszyklus beendet hat. die Tour vorüber ist und ich vielleicht noch einen Film gemacht habe, dann kann ich mir vorstellen, daß ich sagen werde: „Hey, ich bin bereit für ein neues Genesis-Album hat jemand von Euch auch Lust?“ Das wäre der richtige Zeitpunkt, wieder an Genesis zu denken.
Während der letzten Tour stand natürlich Genesis im Mittelpunkt meines Lebens; jetzt, da mein Album fertig ist. sehe ich dies als das Wichtigste in meinem Leben an. Es ist schon der helle Wahnsinn, wie ich mich prostituiere (lacht). Ich bin nichts als eine Nutte, die soviel herumbumst, daß sie keine Ahnung mehr hat. welche Prioritäten sie überhaupt noch in ihrem Leben hat.
Aber so bin ich nun mal: Ich werde immer schauspielern, singen und schreiben, und wahrscheinlich auch immer live auftreten. Das ist wohl wirklich mein Karma.