Indie Is No Place On Earth
Interpol und Arcade Fire haben in diesem Jahr großartige Platten veröffentlicht. Wo aber steht der Rest der Indie-Nation ein halbes Jahrzehnt nach dem Urknall von 2005?
Indie leidet unter einem Problem. Wahrscheinlich würde jemand, der sich richtig indie fühlt, sich weigern, das Problem überhaupt als „Problem“ zu bezeichnen. Allein schon aus Gründen der Aufrechterhaltung seines eigenen Indieseins. Wir aber sagen: Indie leidet unter einem Problem. Es ist ein Wahrnehmungsproblem, oder besser: das Problem des Nichtwahrgenommenwerdens. 1977 hat sich aus Punk New Wave entwickelt, es entstanden die ersten Independent-Labels, bei denen Musik in vollkommener künstlerischer Freiheit produziert werden sollte, ohne den kommerziellen Druck der Majorlabels, ohne Marketingetat, Kostenpläne und Zeitrahmen.Es ist davon auszugehen, dass in den 33 Jahren seit Beginn von Indie neben all dem Krach, den avantgardistischen Experimenten, der musikalischen Grenzgängerei die auch unter dem Scheingenrebergriff „Indie“ subsumiert wird, jede Menge potenzieller Nummer-1-Hits gewesen sind. Nur: es hat sie keiner gehört. Und das ist das Problem.Wer etwa im Jahr 1988 das Bedürfnis verspürt hat, den perfekten Popsong besitzen zu wollen, wird wahrscheinlich im Plattenladen die Single „Heaven Is A Place On Earth“ (Platz 3 der deutschen Singlecharts) von Belinda Carlisle zur Kasse getragen haben und nicht „Streets Of Your Town“ der Indie-Pop-Band The Go-Betweens (Platz 80 der englischen Singlecharts) aus Australien. Denn Belinda Carlisle war da, und die Go-Betweens hätten gefunden werden müssen.Der Mainstream ist immer und überall: im Radio, im Fernsehen, im Internet, in Zeitungen und Zeitschriften, auf Plakatwänden zeigt er seine mitunter hässliche Fratze. Der Mainstream findet dich, ob du willst, oder nicht, Indie dagegen will gesucht werden. Viel Indie-Musik ist potenzielle Mainstream-Musik, wenn die Mainstream-Menschen wüssten, dass sie überhaupt existiert. Wie zum Beispiel „Streets Of Your Town“ von den Go-Betweens. Wäre dieser perfekte Popsong, einer der besten der 80er-Jahre, durch die Marketingmaschinerie des Mainstream gelaufen, dann hätte er in mindestens 20 Ländern Platz 1 der Charts erreichen müssen.Manchmal aber hält sich die musikalische Evolution nicht an ihre eigenen Regeln und die Aufmerksamkeit der Mainstream-Medien wird auf etwas gelenkt, das vorher keine bekommen hat. 2005 zum Beispiel war ein gutes Jahr für Indie. Weshalb sehr viele Bands der „Class Of 2005“, der zweiten Generation von Indiebands, in den Mainstream befördert wurden. Manche von ihnen, wie Arcade Fire und Interpol, stehen ein halbes Jahrzehnt danach kurz vor dem Superstartum: Interpol und Arcade Fire. Wieso hat eine Horde von Musikern, die auf der Bühne mit ihren Wallekleidern und den folkloristischen Instrumenten so rumpelstilzchenhaft wirkt wie die Kelly Family für Indie-Fans so viel Erfolg?Im Grunde genommen spielen Arcade Fire alte Musik. Musik, in der Generationen von Hörern ihre individuellen Aha-Erlebnisse heraushören können, sich ein Stück Vertrautheit zurückholen können. Interpol aus New York dagegen sprechen ganz andere Sinne an. Der Dresscode (meist dunkle Anzüge) und die Texte der Band sind streng existenzialistisch. Die Selbststilisierung als melancholischer Außenseiter, der sein Leid am Leben mit einem ordentlichen Maß an Pathos erzählt, ist ein beliebtes Stilmittel im Pop, das von adoleszenten Jugendlichen gerne als Identifikationsmittel aufgenommen wird. Wieso Mainstream-inkompatible Musik zum Mainstream wird, ist nicht abschließend geklärt.Sicherlich hat das mit dem Debütalbum der Strokes 2001 zu tun und dem der Libertines im Jahr 2002, die beide zu einem Paradigmenwechsel in der Popberichterstattung der Mainstreammedien, Publikumszeitschriften, Frauen- und Lifestylemagazine geführt haben, was wiederum den Wandel des Begriffs Mainstream in der Musik zur Folge hatte. Vor den Strokes war einer wie Phil Collins das Objekt der Berichterstattung der Mainstreammedien. Dann aber kam die Erkenntnis, dass es vielleicht zeitgemäßer ist, über eine stylishe – Röhrenjeans, Chucks, T-Shirts, Hemden und Sakkos – New Yorker Band zu schreiben, deren Mitglieder verhältnismäßig gut aussenen, als über einen kleinwüchsigen, dicklichen, kahlköpfigen Engländer der Millionen Platten verkauft hat. Was wiederum zur Folge hatte, dass Bands wie The Strokes nicht nur durch die Mainstreamberichterstattung zum Mainstream geworden sind, sondern auch mit ihren Plattenverkäufen. Dass die künstlerische Hochphase von 2005 – das Jahr, in dem die Debütalben von Arcade Fire, Bloc Party, Maximo Park, Kaiser Chiefs, The Futureheads und The Magic Numbers in Deutschland veröffentlicht wurden – nicht lange anhalten würde, war damals nicht nur den Berufsskeptikern klar. Die jüngere Musikgeschichte hatte anhand der Beispiele Punk, New Wave, Neue Deutsche Welle, Grunge und Britpop gezeigt, dass wildwüchsige Genres über kurz oder lang mit ihrem Charme ihre Ecken und Kanten verlieren und damit ihre Distinktionsmerkmale, um dann mit Third-Generation-Nachwuchs, der von den Majorlabels gecastet wird, für die Hörer komplett ihren Reiz zu verlieren. Offensichtlich ist der jährliche Kreislauf Album-Tour-Album-Tour nicht unbedingt förderlich für die Kreativität einer Band.Eine zweite gute Platte einer jungen Band ist eine Seltenheit geworden. Offensichtlich haben das einige auch erkannt und die Konsequenzen gezogen. Viele Bands, um die in der Saison 2005/2006 vor allem in England sehr viel Wind gemacht worden war, existieren heute nicht mehr: The Rakes, The Long Blondes, Mumm-Ra, The Ordinary Boys, Mother And The Addicts, Dirty Pretty Things, Louis XIV, The Fratellis, The Cooper Temple Clause, The Dead 60s sind dem schleichenden Tod durch Selbstauflösung zuvorgekommen. Andere lassen sich vom Selektionsdruck der musikalischen Evolution nicht beeindrucken und machen einfach so weiter wie bisher. Maximo Park, seit ihrer dritten Platte QUICKEN THE HEART als langweilige Kopie ihrer selbst, die Kaiser Chiefs seit ihrem zweiten Album YOURS TRULY, ANGRY MOB als Kirmeskapelle. Die Kaiser Chiefs sind ein schönes Beispiel für den inhaltlichen Wandel des Begriffs Indie. Was früher künstlerische Unabhängigkeit bedeutete, meint heute ein Scheingenre, das alle Arten von Musik einschließen kann außer die der Veteranen des alten Mainstreams der 80er- und 90er-Jahre.Im Vergleich zu den Kaiser Chiefs ist Lady Gaga, der größte zeitgenössische Mainstream-Act, was künstlerische Selbstbestimmung und Unabhängigkeit von ihrer Plattenfirma betrifft, mehr indie als die so genannten Indie-Bands. Andere Bands der „Class Of 2005“ existieren nur noch auf dem Papier, wie Bloc Party. Deren Kele (Okereke) veröffentlichte sein elektronisch eingefärbtes Soloalbum THE BOXER im Juni 2010. Die Botschaft war klar: Der Sänger einer der wichtigsten Indiebands der 00er-Jahre distanziert sich mit seinem Soloalbum von Indie. Damit gab Okereke nachträglich seinen Segen zu einer Entwicklung, die sich schon im Jahr zwei nach der letzten großen Indie-Revolution abgezeichnet hatte. Damals, 2007, wurden die Debütalben von Justice und Simian Mobile Disco veröffentlicht, Fusionsprodukte aus Electro House und (Indie-)Rock mit eindeutiger Grundierung in der elektronischen Musik, die ihre Hörer auch im Indielager hatten. Unter dieser Entwicklung haben songfreie 08/15-Indiebands noch heute zu leiden. Justice und Simian Mobile Disco standen damals exemplarisch für die ewigen Kreisläufe der Popkultur, für das ungeschriebene Gesetz, das besagt, der heiße Scheiß von heute ist der Mist von morgen, und der Mist von gestern wird der heiße Scheiß von heute sein.Dieses vom Wunsch nach Abgrenzung und Dissidenz, von der Sehnsucht nach dem Anderssein, durch die Selbstilisierung des immer ganz vorne dabei sein wollenden Musikhörers als Outcast an den Rändern der Popkultur verusachte Spiel ist der Antrieb für jede Entwicklung im Pop. Ein Spiel, das freilich von vernunftbegabten, scheinbar erwachsenen Spielverderbern nicht mitgespielt, zumindest aber als kindisch abgetan wird, aber von der Realität Saison für Saison bestätigt wird: Niemand will das dritte Album einer Band hören, das fast genauso klingt wie ihr erstes – nur mit schlechteren Songs.Häufig werden in Indie-Land kreative Sehnsüchte auf geographische Gemeinsamkeiten projiziert, Szenen von Ländern (Kanada), Städten (Bergen in Norwegen) und Stadtteilen (Brooklyn) ausgerufen, vermeintliche Gemeinsamkeiten gesucht und Gründe dafür, weshalb gerade jetzt die Musik aus dieser Region das große, neue Ding sein soll. Das Abgrenzungsstreben der Popkultur sorgt dann dafür, dass in einer Saison Musik aus den USA „gar nicht geht“, und in der nächsten als Nonplusultra gilt, während Musik aus Großbritannien dann „gar nicht geht“.Indie im Jahr 2010 riecht schon ein bisschen komisch. Die große Euphorie ist vorerst vorbei, die Zeiten, in denen neue Bands hervorragende erste Alben quasi im Wochenrhythmus veröffentlicht haben, auch. Was nicht allein an der Konkurrenz aus der elektronischen Musik festgemacht werden kann. Der größte Feind von Indie ist Indie selbst. Die ewig gleichen Bands mit den ewig gleichen Frisuren, der ewig gleichen Kleidung, die die ewig gleichen Gitarrenriffs spielen, Bands, die niemand mehr hören will, die aber von den Betriebswirtschaftlern bei den großen Plattenfirmen als das heißeste Ding seit Erfindung des Bügeleisend angepriesen werden. Das Gebaren der Plattenfirmen, auf tote Pferde zu setzen, mutet wie ein Rückschritt an, ist in Wirklichkeit aber auch dafür verantwortlich, dass die Entwicklung der populären Musik immer weiter geht.Die Betriebswirtschaftler nehmen Bands unter Vertrag, die heute so ähnlich klingen, wie die „heißen Bands“ vor fünf Jahren – nur nicht ganz so gut. Diese Bands werden selbstredend von den Meinungsführern aufs Schärfste abgelehnt. Die Meinungsführer haben sich nämlich längst eine andere Nische gesucht, auf die die Betriebswirtschaftler erst in ein paar Jahren stoßen werden. Und das Spiel geht wieder von vorne los.Die Bereinigung von Indie-Land durch Selbstauflösungen von Bands und durch das kritische Ignorieren von Third-Generation-Mist durch die Hörer führt auch dazu, dass die wenigen Gitarrenbands die Aufmerksamkeit verdienen, diese auch bekommen. Bands wie The XX (die vielleicht britischte Indie-Band der letzten Jahre, die aus Großbritannien kommt) und The Drums (die vielleicht britischte Indie-Band der letzten Jahre, die aus Amerika kommt), oder die 80er-Jahre-Synth-Pop-Klone Hurts (die vielleicht mainstreamigste Indie-Band der letzten Jahre). Weil Aktionen Reaktionen zur Folge haben, bleibt auch der langweilig gewordene Mainstream-Indie nicht unbeantwortet. In Indie-Land existieren zu jeder Zeit Subspezies von Indie, die mehr Indie sind, als das, was die Indie-Spießer, die dem 2005er Konservatismus anhängen, unter Indie verstehen. Wobei wir wieder beim Wahrnehmungsproblem vom Anfang wären. Bands wie Effi Briest, Free Energy, Surfer Blood, Dum Dum Girls, Japandroids, Silver Columns und Hanoi Janes sind nicht einfach da, man muss sich schon die Mühe machen, sie zu finden.
Albert Koch – 24.08.2010