Iggy Pop in Berlin: Wie ist so ein Wahnsinnskonzert nur möglich?

Wunder gibt es immer wieder: Punkrock als lebensverlängernde Maßnahme.


Der süßeste Moment des Abends ereignet sich gleich zu Beginn: Zu den peitschenden Klängen von „T.V. Eye“ seiner alten Band The Stooges rumpelt Iggy Pop in einer schwarzen Weste auf die Bühne des malerischen Innenhofs der Zitadelle Spandau. Diese für die Verhältnisse des Godfather of Punk gediegene Abendgarderobe passt zum Publikum, das zum überraschend großen Anteil aus ergrauten Pärchen besteht, die so wirken, als freuten sie sich schon auf das morgige Einlösen ihres Theater-Gutscheins. Doch nur zwei Sekunden später wirft der gebürtige James Osterberg Jr. das Kleidungsstück von sich und präsentiert sich so wie wir ihn seit bald 60 Jahren live kennen: oberkörperfrei. Hatte er die Temperatur an diesem strahlenden Juniabend unterschätzt? Jedenfalls ist er so umgehend in seinem Element, schwimmt darin wie ein dem Netz entkommener Fisch, der befreit ins Wasser zurückplatscht. Die Popshow wird zur Peepshow.

Freilich verbietet es sich, ihn und Donald Trump in einem Atemzug zu nennen. Und dennoch: Führt man sich kurz (bitte wirklich nur kurz, life’s too short) das steife SloMo-Schattenboxen vor Augen, das der US-Präsident als Tanz verstanden haben will, und gleicht es mit den entfesselten Verrenkungen des kein Jahr jüngeren Pop ab, wird vielleicht erst so richtig klar, wie unfassbar das ist, wozu der 78-Jährige körperlich immer noch imstande ist.

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Allein der Opener macht klar: Heute kommen die Hits. So gut der entspannte Ambient-Jazz seiner 2019er-Platte FREE zum Sommerwetter passen würde, der wartet besser zuhause auf uns; wenn wir versuchen, uns von diesem Gebretter zu erholen. Auf den Kracher „Raw Power“ folgt bereits ein Deep Cut: Das ebenso brachiale „I Got A Right“. 1972 aufgenommen erschien der Song erst 1977 nach dem Split der Band als Single.

Nach einer weiteren Stooges-Gewalttat, „Gimme Danger“, ereilt uns der Doppelschlag aus Pops Soloschaffen: der Singalong „The Passenger“, der über knapp 20 Jahre als sein bekanntester Song galt, bis ihn 1996 durch den Einsatz im Intro von „Trainspotting“ der nächste Fetzer ablöste, „Lust For Life“. Als der ikonische Drum-Beat losdonnert, reißt Pop zum wiederholten Mal während der laufenden Tour den Gag: „Oh shit, I hope it’s not Putin!“

So ein Gig lässt uns in diesen hoffnungslosen Zeiten noch an Wunder glauben

Die Idee zum Beat, der als Punk-Update des Supremes-Oldies „You Can’t Hurry Love“ gelten darf, kam Co-Autor David Bowie, als er 1977 mit Pop ein paar Kilometer weiter in Schöneberg lebte und den US-Radiosender AFN hörte, dessen Erkennungssignal einen ganz ähnlichen Rhythmus hatte. Die Menge reitet auf einer Welle der Euphorie, überall schwappt das Bier aus den Plastikbechern.

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Was kann jetzt noch kommen? So einiges: „I Wanna Be Your Dog“, „Search And Destroy“, dann tischt Pop uns ein weiteres Schmankerl auf, „I’m Sick Of You“, eine ebenfalls erst 1977 veröffentlichte Rarität, die wie eine verwaschen-psychedelische Doors-Nummer beginnt, bevor sie ein wie von der Tarantel gestochenes Gitarrenriff in Stooges-Gefilde zerrt.

Erst an 14. Stelle kommt ein Song, der nach den 70er-Jahren aufgenommen wurde: „Frenzy“ aus Pops aktuellem Album EVERY LOSER, der den Vorgängern in puncto Wucht in nichts nachsteht. Nach dem 80er-Fetenhits-Cover von „Real Wild Child (Wild One)“ der australischen 50s-Rock-Größe Johnny O’Keefe und „Funtime“ treten wir headbangend und kopfschüttelnd den Heimweg an: Wie ist Iggy Pop nur möglich? So ein Gig lässt uns in diesen hoffnungslosen Zeiten noch an Wunder glauben.