Hotlist 2014: Banks, SOHN, Kelela, Sampha und FKA Twigs erneuern den R’n’B


2014 wird nach souligem Gesang und postmodernen Sounds klingen. Ein Essay von Albert Koch.

Alles beginnt mit The xx. Um die Wurzeln des neuen Soul zu finden, muss man zurückgehen zu den Anfängen der Londoner Indie-Electronica-Darlinge. Die tun seit fünf Jahren einiges dafür, um ein neues Bewusstsein für Soul und R’n’B zu schaffen: chiffrierte Elemente aus dem Genre in ihre eigene Musik integrieren, die Musik der 2001 im Alter von nur 22 Jahren bei einem Flugzeugabsturz gestorbenen R’n’B-Sängerin Aaliyah bei jeder sich bietenden Gelegenheit preisen (ihren Song „Hot Like Fire“ covern und „Teardrops“ von Womack & Womack gleich dazu), I’M NEW HERE, das letzte Album des 2011 verstorbenen Soul-und HipHop-Poeten Gil Scott-Heron, remixen.

James Blake, Jamie Woon und Jessie Ware folgten in der ersten Generation von jungen Musikern, die den R’n’B postmodernistisch aufbereiteten, und zwar so, dass die Herkunft der Ausführenden aus der britischen Bassszene jedem Beat der Kickdrum anzuhören war. Jetzt klopft die zweite Generation von Soul-Erneuerern an die Tür.

Ganz vorne dabei steht die 25-jährige Jillian Banks aus Los Angeles, die unter ihrem Nachnamen Musik veröffentlicht. Zum Beispiel im vergangenen Herbst die EP „London“ mit dem Übersong „Waiting Game“, der seelenvollen R’n’B-Gesang mit den gerade angesagtesten Elementen aus der elektronischen Musik zusammenbringt. Halbdunkle Sounds mit mächtigem Bass, die Banks’ Texte über Zweifel, Irritationen und Verlustängste perfekt illustrieren. In manchen Momenten klingt ihre Musik wie eine entkernte, von produktionstechnischem Schnickschnack befreite Variation des 90er-Jahre-R’n’B. Die „London“-EP von Banks ist auch ein schönes Beispiel für die Kontinente übergreifenden Verbindungen im neuen R’n’B. Jamie Woon ist der Coproduzent des Songs „This Is What It Feels Like“ und SOHN hat das bereits genannte „Waiting Game“ produziert.

SOHN, der mysteriöse Londoner in Wien, hatte bereits ein paar Monate vor Banks seine EP „Bloodflows“ veröffentlicht. Auch hier: souliger Gesang, postmoderne Musik. Die Stimme von SOHN kommt gefährlich nahe in Bereiche, in denen das genrespezifische Overacting nicht mehr weit ist, überschreitet diese Grenze aber zu keinem Zeitpunkt. Er integriert dubbige Elemente, verfrickelte, manchmal gebrochene Beats und die Tendenz zur Hymnenhaftigkeit, die aber von den introspektiven Texten im Zaum gehalten wird. Wie Banks arbeitet SOHN gerade an seinem ersten Album, das im Laufe des Jahres veröffentlicht werden soll.

Den 24-jährigen Londoner Produzenten Sampha (Sisay) hier in dieser Listung aufzunehmen, verbietet sich fast. Seit fünf Jahren ist Sampha around, hat mit Jessie Ware, SBTRKT, Drake, Solange Knowles und Koreless zusammengearbeitet und zwei EPs veröffentlicht, eine davon auf Young Turks, dem Label von The xx. Wir hoffen 2014 auf sein erstes Album und mehr von dieser abstrakten, mitunter hochkomplexen Musik mit den gospeligen Obertönen und mehr von dieser unverwechselbaren, hohen Stimme, die zeitweise an die von James Blake erinnert.

Unter Ausschluss der breiten Öffentlichkeit hat Kelela (Mizanekristos) aus Los Angeles im vergangenen Herbst das Mixtape CUT 4 ME digital veröffentlicht, das ihr eine Reihe von vorwärtsdenkenden Fans eingebracht hat, darunter auch Beyoncé Knowles. Von ihrer Stimme her passt die 30-Jährige aus Los Angeles noch am ehesten in das traditionelle R’n’B-Schema. Musikalisch aber ist Kelela weit entfernt von allen denkbaren Hauptströmungen. Die ultraminimalistisch arrangierten Songs verbreiten eine metallisch-kühle Atmosphäre, es hat stolpernde Beats, spacige Effekte. Kelela bringt in ihren Tracks einen Pop-Appeal ins Spiel, den sie nicht auf dem Altar der musikalischen Belanglosigkeit opfert.

Die stimmungsvolle, reduzierte, aber effektbeladene Musik von FKA Twigs (früher: Twigs) lässt manche Analysten bereits von einem TripHop-Revival sprechen. TripHop war ja in den 90er-Jahren auch nichts anderes als der Versuch, Downtempo-R’n’B in stimmungsvollen elektronischen Klanglandschaften nebelhaft aufzulösen. Und stimmungsvoll ist das richtige Adjektiv, um die Musik der 25-jährigen Musikerin aus dem britischen Gloucestershire auf ihrer „EP 2“ (Young Turks) zu beschreiben. Manchmal steht die charakteristische, hohe, fast zerbrechlich wirkende Stimme ganz allein neben einem fragmentarischen Klapper-Beat, dann wiederum türmen sich seltsam anmutende Klanggebirge auf und entwerfen ein beinahe gespenstisches Szenario.

Die Angehörigen der neuen Generation der R’n’B-Electronica-Fusionäre kommen aus London und Los Angeles, sie lassen sich entweder nur beim Vornamen oder Nachnamen nennen, oder treten mit komischen Pseudonymen auf. Sie machen ihre Beats selbst, beschäftigen nicht ein Dutzend „namhafter“ Produzenten als Lohnsklaven, die monatelang an einem einzigen Break herumschrauben, wie das seit den 90er-Jahren im Mainstream in Mode ist. Überhaupt, die Musik: Würde man bei den Aufnahmen der Neo-R’n’B-Musiker die Gesangsspuren stummschalten, übrig bliebe eine minimalistische, basslastige elektronische Musik, die für sich selbst steht. Vor einem Monat stand in dem Musikexpress-Heft geschrieben: Dem neuen R’n’B fehlt das Plastikhafte, das Marktkonforme und das Übersexualisierte der zeitgenössischen Mainstream-Produktionen. Aber auch der als „authentisch“ wahrgenommene, schwül-verschmitzte, ganz auf Körperlichkeit aufgebaute Habitus des teilweise penetrant-hysterischen 70er-Jahre-Soul, der Männer als Sexmaschinen und Frauen als deren willige Dienerinnen darstellte.

Warum aber gerade R’n’B, warum gerade jetzt? Weil die Mehrzahl der Elektronik-Musiker eine Vergangenheit als Soul- und R’n’B-Hörer hat und diese Einflüsse in ihrer eigenen Musik verarbeitet. Vielleicht ist es einem neuen Geschichtsbewusstsein geschuldet, vielleicht passiert es aber auch unbewusst, dass aktuelle Electronica-Acts ein paar Schritte zurück gehen auf der Evolutionslinie Soul-Funk-Disco- House-Techno – und ohne restaurative Tendenzen aus dem Vergangenen etwas Neues schaffen. Und die Hörer? Sie werden von einer latenten Sehnsucht nach dem Song getrieben. Die wird durch aktuelle Indie-Bands nicht bedient, weil diese Bands keine neuen Songs schreiben, aus denen nicht ihre alten herauszuhören sind. Außerdem ist es immer von Vorteil, das gut zu finden, was die anderen Kinder in der Klasse doof finden. Das bringt einen Distinktionsgewinn.