Hon Som Dansar Med Älgen
Die Landflucht in den Kiefernhain: Als Halb-Schwedin hat Neneh Cherry ihre zweite Heimat wieder entdeckt, um dort drei Jahre nach dem Erfolgs-Debut ein neues Album fertigzustellen. Im Grünen probt sie alternatives Leben und Arbeiten. ME/Sounds besuchte Neneh Cherry auf ihrer kleinen Farm und testete Eigenanbau und Familienfrieden.
Ein seltsamer Plan: „Folgen Sie der Straße immer geradeaus. Irgendwann wird sie schmaler und die Begrenzungslinien verschwinden …“Bald wird es dunkel werden, der Motor unseres Autos wird versagen, und im Gewitterregen nach einer menschlichen Seele suchend, werden wir plötzlich vor einem düster drohenden Gruselschloß stehen.
Aber nein, draußen scheint strahlend die Sonne, gelangweilt kauende Kühe sehen nichts als Grün, und vor mir auf dem Beifahrersitz einer heruntergekommenen Mercedes-Limousine fuchtelt eine englische Promotion-Dame mit ihrer Wegbeschreibung vor den verzweifelten Augen des Fahrers herum: „0 Gott, wir haben den Wagen mit dem Kamerateam verloren!“ Und: „Ach, so macht der Job wieder Spaß!“ Seit zwei Stunden sind wir im Konvoi unterwegs, eine handverlesene Auswahl europäischer Journalisten, um Neneh Cherry auf ihrem schwedischen Landsitz zu besuchen. Übers Meer sind wir gekommen, von Kopenhagen, weil das der (relativ) kürzeste Weg ist in die Einsamkeit des Knäckebrotlands. Die letzte Tankstelle haben wir vor einer halben Stunde hinter uns gelassen, alle drei Kilometer setzt nun ein wohlplazierter Bauernhof Farbkontraste ins endlose Grün. Rote Holzhäuser mit weißen Giebeln: auf jeder säulenumrahmten Veranda könnte Astrid Lindgren vor ihrer Schreibmaschine sitzen, und nach der nächsten Kurve läuft uns wahrscheinlich Michel aus Lönneberga Smörebröd kauend vors Auto.
„Nach der Kurve muß es kommen!“ kreischt die Engländerin. Ein weiteres Bilderbuchhaus, der Wagen biegt in eine staubige Hofeinfahrt ein. Ein Kind kommt auf uns zu gelaufen, allerdings kein strohiger Blondschopf, sondern ein schwarzer Strubbelkopf. „Tyson, bleib‘ hier!“ Mama Cherry stemmt die Hände in die Hüften, mit ihren überdimensionalen Turnschuhen, blauer Trainingshose und weißem Feinripp-Unterhemd ist das ein imposanter Anblick. Tyson bleibt stehen, strahlt uns an, dann fällt ihr Blick stolz auf ihre Füße: Sie trägt zwei verschiedene Socken. „Seit wir hier wohnen spielt sie ununterbrochen Pinpi Langstrumpf,“
lacht Neneh Cherry. Vor einem halben Jahr noch spielte Tyson mit ihrer Schwester Naima wahrscheinlich Homeboy in den Straßen Londons, während ihre Eltern Neneh Cherry und Cameron McVey (Nenehs Lebensgefährte, Produzent und Manager) schon eifrig an Mamas neuem Album „Homebrew“ arbeiteten.
„Schon!“ würde die Dame von der Plattenfirma jetzt wahrscheinlich stöhnen. Immerhin sind über drei Jahre vergangen, seit Neneh Cherry mit ihrem Debüt „Raw Like Sushi“ Kritiker und Käufer gleichermaßen zum Schwärmen brachte. Der weibliche Kraftprotz mit der Maßbandfigur, das schöne Gesicht mit den starken Sprüchen und dazu diese leidenschaftliche aber sanfte Stimme brachten den Tanzsommer 1989 für die Masse auf den Punkt. In der Zwischenzeit gab Neneh Cherry nur sporadische Lebenszeichen von sich, spärliche Highlights, wie ihr Beitrag zur AIDS-Benefiz-Compilation „Red, Hot & Blue“. wo sie mit einer gerappten Cover-Version Cole Porters „I Got You Under My Skin“ die anderen Beiträge renommierter Kollegen von Sinead O’Connor bis U2 lässig in den Schatter stellte. Oder „Move With Me“, Neneh Cherrys Song-Idee zum letzten Wim Wenders Film „Bis ans Ende der Welt“: Zwei selten erträgliche Minuten im drei-Stunden Kino-Epos, schließlich konnte man dazu die Augen schließen.
Zwei Songs in drei Jahren, kann das nach einem mehr als erfolgreichen Debüt die richtige Karrieretaktik sein? „Karriere? Haha, das Wort ist ßr mich keine Motivation. Mein Leben hängt nicht am Fleischerhaken des Erfolgs, ich will nicht immer im Rampenlicht stehen. “ Wir sitzen im wuchernden Garten ihrer kleinen Farm, und Neneh Cherry blinzelt zufrieden grinsend in die ungewöhnlich warmen Strahlen der schwedischen Sonne. Und die steht ihr tatsächlich besser zu Gesicht als grell blitzende Scheinwerfer. Denn die fröhliche Harmonie, die hier zwischen Gemüsebeeten, Holzhütten und Hühnerstall herrscht, liegt nicht allein ¿
an der Idylle des Orts. Es sind Neneh und ihre „posse“, Menschen, die lächelnd Wäsche waschen, Unkraut jäten, Kinder hüten und Musik machen. Und so war es wohl nicht die schlechteste Idee, nach einem letzten Londoner Winter, sieben Sachen und ein Porta-Studio zu packen, um im nordischen Landfrieden das neue Album fertigzustellen. „Hier zu leben, kommt unserer Arbeitsweise entgegen. Wir arbeiten gerne zu Hause, an einem ruhigen Ort, ganz gemütlich nach dem Zufallsprinzip. Wir nehmen das alles nicht mehr so ernst.“
Erfahrungswerte — im Erfolgsjahr 1989 wurden (vor allem männliche) Kollegen nicht müde, die psychische Stärke, die Bulldozer-Mentalität ihres neuen feuchten Traums zu preisen, bis Neneh Cherry kaum ein halbes Jahr nach der Veröffentlichung ihres Debüts bei ihrer ersten Amerika-Tournee vor Erschöpfung aus den Latschei. kippte. Ein enttäuschter Seufzer ging durch die Presse: „Und wir dachten, die könnte nichts umwerfen. “ — „Ich hatte einen Virus, und ich habe mir schlichtweg nicht erlaubt, krank zu werden. Wir Frauen sind in solchen Fällen ja besonders Iwrmäckig, ertragen von Grippe virus bis PMS alles mit stoischem Blick, während Männer bei jedem Schnupfen drei Tage im Bett liegen und leiden. Nur irgendwann macht der Körper nicht mehr mit, wenn man ihn nur ignoriert, dann bricht man halt zusammen.“ Die Tour wurde damals ersatzlos gestrichen, Neneh von ihrem Arzt drei Wochen ans Bett gefesselt, wo sie dann lag und „nur nachdachte über all die Leute, die soviel Arbeit in mich gesteckt hatten, und die ich nun hängen ließ. Es war furchtbar.“
Trotzdem hat Neneh Cherry damals die Egozentrikerin in sich entdeckt, und der Entschluß, sich dem Erfolgsdruck längere Zeit zu entziehen und nach elf Jahren London die Stadtflucht anzutreten, waren ihre ersten Konsequenzen. „Ich habe mir eine Weile frei genommen, um ein ,normales‘ Leben zuführen. Und jetzt, wo wir wieder arbeiten, tut es mir sehr gut, wenigstens räumlich weit weg zu sein vom Zentrum dieses wahnsinnigen Geschäfts. Unsere Basis wird immer London bleiben, wir haben dort ein Studio und ein Büro. Jeder braucht manchmal ein bißchen Straßendreck. Nurfiir’s Erste haben wir unser ,street-feeling‘ einfach mit hierher gebracht, versiehst du?“ Yo! Monströse Turnschuhe in Zimmern und Gängen, stapelweise Rap-Platten und freundliche Besucher und Bewohner (Wo ist hier der Unterschied?) unter Baseball-Mützen sind Denkhilfen genug.
Doch der multikulturelle Mikrokosmos in der schwedischen Pampa funktioniert nicht nur zu ihrem eigenen Wohl. „Das Wichtigste in meinem Leben ist immer meine Familiegewesen, hier können wir entspannt zusammen leben. Und wenn ich berußbedingt viel unterwegs sein muß, weiß ich wenigstens, daß ich meine Kinder an einem friedlichen Ort zurücklasse. „
Neneh Cherry hat schließlich selbst einen Teil ihrer Kindheit in diesem Haus verbracht. Ihre Mutter ist Schwedin, und nur wenn es die Jazz-Musik ihres Stiefvaters Don Cherry nicht anders zuließ, weilte die Familie in New York.
Aus dem lichten Seitentrakt des Hauses winkt eine charmant resolut wirkende Frau mit Mecki-Kopf: Oma Cherry ist auch im Moment zu Besuch, um in Ruhe und Abgeschiedenheit als Malerin ihrer Kunst zu frönen. Deren bunt leuchtende Bilder zieren das ganze Haus, es fällt nicht schwer sich auszudenken, wo Neneh Cherry ihren ausgesprochen positiven Familiensinn her hat. „Ehrlich, ich weiß gar nicht mehr, was ich gemacht habe, als ich noch keine Kinder hatte. „Tyson — mit zwei Jahren der jüngere Cherry-Sprößling, Schwester Naima ist bereits neun —, fuchtelt mit ihrem Teller vor Mamas Nase Yum. Es ist später Nachmittag geworden und Hausfrau und Mutter Cherry hat aus selbstgezogenem Gemüse schnell einen Salat gezaubert. Neneh pickt seelenruhig Möhren vom Teller, und ich denke an die Verwirrung, die sie vor drei Jahren bei einen Termin in London unter den Kollegen ausgelöst hat, weil sich durch ihr hautenges weißes Stretchkleid ein orangefarbener Slip abzeichnete. Und keiner müde wurde, zu erzählen, daß ihm das auch sofort aufgefallen sei. „Haha, weißt Du, es ist mir egal, ob Männer sich im Gespräch mit mir vorstellen, wie ich nackt aussehe. Ich kann sowieso nie glauben, daß jemand auf mich steht. “ Trotzdem, — spielt Neneh Cherry im Jahr ’92 nur noch die Mutterrolle? „Nein, aber ich habe es so satt, stereotype Frauenbilder in Videos zu sehen: Die Röcke enden direkt unterm Hals, die Haare reichen bis zum Arsch und der BH presst den Busen bis zum Kinn. Sexualität ist was sehr Subtiles und Geheimnisvolles. Ichfiihle mich heute viel Sinnlicher als vor drei Jahren. Das mag nicht so aussehen, aber das merkt man diesem Album an.“ Dieses Album enthält neben sanften Balladen und deftigen Raps auch einen prominenten Gaststar zum Thema: R.E.M.-Sänger Michael Stipe teilt im Song „Toren“ Nenehs Meinung zum Thema Sexualerziehung:
Rollenbilder werden bei Menschen sehr früh geprägt und genau da muß man ansetzen, wenn man was verändern will. Stipe und ich haben uns auf Anhieb verstanden, wir haben gemeinsam dieses Stück erarbeitet. Er ist ein sehr tiefgründiger Mensch, ich bewundere ihn für all die Zeil und Energie, die er fiir andere Menschen und ihre Rechte opfert. Alles hat sich wie von selbst ergeben, und die Atmosphäre im Studio war angenehm und warm. „
Die Sonne senkt sich langsam über die Dächer ihrer kleinen Idylle noch ist es Sommer in Schweden. Neneh Cherry legt eine Jacke um Tvsons Schultern.
„Im Winter wird es hier sehr kalt, und im Haus gibt es nur Holzöfen. Dann werden wir wohl alle nach Portugal ziehen.“