Hits nach hinten
vordergründiger Pop war niemals ihr Ge- schäft. Mit besinnlichen Tönen erziehen R.E.M. die neuen Fans zu alten Werten.
August ist eine schlechte Zeit für Ferien in New York — es dampft feucht-heiß in den Straßen. und die Stadt quillt über von Dollar-Touristen. Doch Peter Bück und Mike Mills, die Saitenfraktion von R.E.M., sind ja auch hierher gekommen, um zu arbeiten: Ein neues AIbum, „Automatic For The People“, stand im Interview-Marathon zur Diskussion. Eine Streß-Situation, die unter dem Erfolgsdruck des letztjährigen Millionensellers“.Out Of Time“ vielen Kollegen Magenkrämpfe verursacht hätte. Doch den Psychoterror übersteigerter Erwartungen nehmen Athens berühmteste Söhne ganz gelassen. „Wir haben einfach angefangen zu arbeiten, als Michael (Stipe) mit ein paar Texten ankam. Konzept gab es für dieses Album keines.“ Auch keine klugen Ratschläge der Plattenfirma?
„Nein“, meint Peter Bück schulterzuckend. „Die waren zwar nicht gerade begeistert, daß es zu diesem Album keine Tour geben wird, aber das müssen sie wohl akzeptieren. „
Lange Gesichter gibt es da sicher auch in den so erfolgreich ausgeweiteten Fan-Reihen der Kreuzritter des“.College rock‘. Wird die Live-Band R.E.M. denn nun gänzlich zum Studio-Projekt? „Die nächste Tournee wird es wohl erst 1994 geben. Viele der neuen Songs sind so komplex, daß man sie für Konzerte stark verändern müßte. Außerdem würden wir gerne die Atlanta Symphony Players mit auf Tour nehmen, das brauclit Vorbereitung. „
Mills schwärmt für die Streicher seiner Heimat, seit sie „Everybody Hurts“. eine schwergewichtige Ballade des neuen Albums, veredelt haben. Die symphonischen Klänge sind nicht das einzige, was alte und neue R.E.M.-Hörer bei „Automatic for The People“ überraschen wird, auch die erste Single „Drive“ ist alles andere als typische R.E.M.-Ware. Ja,“ lacht Peter Bück.
..Wenn Michaels Stimme nicht wäre, würde niemand merken, daß wir das sind. Doch .Drive‘ charakterisiert genau die getragene Stimmung des ganzen Albums, und deshalb sollten die Leute diesen Song auch als ersten hören. Gewollt Hits zu landen, war noch nie unsere Politik.“
In R.E.M. s eigenem Gesetzbuch hat Politik ohnehin eine andere Bedeutung, und ihr breit gefächertes Engagement macht sie in der bigotten Riege der US-Superstars schon fast zu Exoten: Auf offiziellen Preisverleihungen führen sie gewohnheitsgemäß die gesamte Kollektion ihrer Botschaft tragenden T-Shirts vor, sämtliche ihrer Edelmetall-Platten wurden auf Wohlfahrtsauktionen versetzt, und nach wie vor weigern sie sich beharrlich, ihre Zelte in New York oder Los Angeles aufzuschlagen. „Eine Woche New York ist das längste, was ich ertragen kann“, seufzt Bassist Mike Mills hitzegeschwächt. Das R.E.M.-Kollektiv nutzt nach wie vor jede Gelegenheit, dem geschäftigen Schulterklopfen in den Medien-Metropolen zu entgehen. „Im Prinzip sind all diese Dinge bedeutungslos, sie haben nichts mit unserer Musik zu tun, man muß sie nur ab und an nutzen, um dieser Well mal was Vernünftiges zu erzählen“.
So klar die gesprochenen Worte von R.E.M. immer klingen, so sehr rätselt oft sogar die englischsprachige Zuhörerschaft, welche verschlüsselten Botschaften Sänger Michael Stipe in seinen Liedern transportiert. Der unorthodoxe Frontmann hat auch für „Automatic For The People“ alle Texte verfaßt, und die Quelle der Mißverständnisse ist groß … Mike Mills verdreht lachend die Augen: „0 Gott, viele Sachen weiß Michael selbst nicht zu erklären, wie sollen wir das dann können? Er spielt nunmal gern mit Worten, mentalen Bildern und Assoziationen, sie haben fiir ihn eine spezielle Bedeutung, die andere nicht immer nachvollziehen können. „
Was Michael Stipe zu diesen Statements gesagt hätte, steht natürlich auf einem anderen Blatt. Der Mastermind des Quartetts hielt sich gerade in Los Angeles auf. um die neuen Video-Produktionen vorzubereiten — und um mit dem Regisseur von „Losing My Religion“ vielleicht den Grundstein für eine neue Lawine der Video-Auszeichnungen zu legen. Bis dahin werden Peter Bück und Mike Mills die Interview-Ochsentour mit stoischer Ruhe absolviert haben. Bei R.E.M. setzt man eben auf konsequente Arbeitsteilung und die Kraft der Provinz. Ein uramerikanisches Rezept, das bewiesenermaßen funktioniert. „Unser Album heißt .Automatic For The People‘. Den Anlaß dazu gab zwar eigentlich ein Restaurant in Athens, wo jede Art der Bestellung mit einem zackigen .Automatic‘ quittiert wird. Doch im Grunde meinen wir damit auch, daß fiir viele Leute einfach alles automatisch geschieht. Groß nachdenken will doch heute -Sj keiner mehr…“ ^ R.E.M. beweisen standhaft das Gegenteil, und vielleicht hören ihnen 3 die GTl-Fahrer diesmal schon etwas besser zu.