Guck mal wer da grungt
Es war einmal in Seattle: Grunge mutiert zur Massenware, und sogar im Kino spielt jetzt die Musik. Der US-Film „Singles" läßt Pearl Jam hören und Zeitgeist fühlen. Das Beste daran: Was auf Anhieb nach Schlußverkauf klingt, entpuppt sich beim Hinsehen als Film des Jahres.
Es IST NUR EINE GESCHICHTE VOtl sechs jungen Städtern aus Seattle. Gut, eine Menge Musik wurde von lokalen Bands und Musikern beigesteuert. Doch gegen alles Gerede geht es in ,Singles‘ nicht um die heiße Seattle-Szene. Es geht um losgelöste Einzelgänger, die sich zusammenraufen und eine Art Familie gründen. “ Man sollte diese Sätze von Cameron Crowe, dem 35jährigen Regisseur von „Singles“, zweimal lesen und dringend im Gedächtnis behalten. „Singles“, der Grunge-Film, der Film zum Trend: Hauptdarsteller Matt Dillon trägt Lotterklamotten und spielt in einer Krachband, den Soundtrack liefert die perfekte Bandpalette von Pearl Jam bis Alice In Chains.
Doch wer Crowe tumbe Trendhechelei vorwirft, hat einfach nicht nachgedacht. Schließlich hat der Mann seine Filmidee nicht erst seit gestern. Im Gegenteil: Crowe, der sich bereits mit 17 als jüngster „Rolling Stone“-Autor aller Zeiten einen Namen machte, hat seine erste Drehbuchfassung zu „Singles“ bereits 1983 geschrieben. Eine Geschichte über die alltäglichen Sorgen der Generation um die Zwanzig sollte es werden, „aber bloß kein Yuppie-Dreck“. Zwei andere Filme und acht Jahre später konnte im März 1991 tatsächlich die erste Klappe zu „Singles“ fallen. Crowe lebt mit Ehefrau und Heart-Sängerin Ann Wilson zeitweise in Seattle.
Deren Kollegen von Nirvana, Pearl Jam, Alice In Chains oder Soundgarden waren damals noch alles andere als ein Phänomen für die Massen. Und ohne irgendwelche Hypes oder Booms zu erahnen, spannte also Crowe seine Musiker-Kumpels für das Projekt ein. So sind nun die Männer von Pearl Jam als Mitglieder der fiktiven Film-Combo Citizen Dick zu sehen. Selbstironisch als verkannte Genies dargestellt („Wir haben aber viele Fans in Belgien und Italien!“), die abends Gigs spielen und tagsüber Pizza liefern. Nichts anderes taten sie damals schließlich auch noch, wenn sie nicht, wie im Film Soundgarden und Alice In Chains, auf lokalen Clubbühnen lärmten.
Also doch ein Grunge-Film? Jein. Denn obwohl es in „Singles“ hauptsächlich um sechs Singles geht, so drückt das Lokalkolorit dem Ganzen doch seinen Stempel auf. Soundtrack, Klamotten und Dialoge — die Querbezuge zum Spielort Seattle sind zahlreich. Am deutlichsten natürlich bei Matt Dillon, der brillant idiotisch den Sänger von Citizen Dick spielt — mit langer Mähne, dem üblichen Interview-Stuß, verschleppter Sprechweise und von Pearl Jam geliehenem Outfit — fast wie im richtigen Leben.
Wenn Crowe freilich gewußt hätte, was nach Beendigung der Dreharbeiten mit Seattle passieren sollte, hätte er „sich lieber ein anderes musikalisches Umfeld gesucht“. Denn mit dem urplötzlichen Erfolg von Nirvana und Co. wollten ihn Berater, Finanziers und Journalisten nun als Grunge-Dokumentaristen verkaufen. Man könnte den Film doch lieber nach einem Nirvana-Stück „Come As You Are“ nennen, schlug etwa das Warner-Studio vor. Und jeder zweite Reporter fragte als erstes: „Spielt Kurt Cobain auch mit?“ Dabei hätte die ursprünglich vorgesehene Verwendung eines Nirvana-Songs in der Zwischenzeit mehrmals das Budget gesprengt.
Dann doch lieber noch mal O-Ton Crowe zum Verständnis von Film und Musik: „Ich weiß nicht viel über den präzisen filmischen Stil eines John Ford-Westems. Aber ich weiß alles über die pure emotionale Perfektion von Todd Rundgrens ,Hermit of Ming Hollow‘, von Replacements‘, Tim‘ oder von Mother Love Bones ,Crown of Thornms‘. Wenn man dieses Gefiihl beim Sehen von .Singles‘ hätte — das wäre was.“
Man hat es. Mit oder ohne Grunge-Hypothek.