Großväterchens Begräbnis


Meine Lieblingsband hat sich aufgelöst. Einfach so. Ist noch nicht lange her, doch Grandaddy fehlen mir jetzt schon. Klingt blöd, ist aber so. Eine alberne Tragödie.

Täglich lösen sich Bands auf, einfach so, wenn man mal für zwei Sekunden nicht hinhört. Und doch findet sich immer jemand, dem darüber das Herz ausbluten will. Wahrscheinlich fällt weltweit alle 15 Sekunden in irgendeinem Proberaum, Hotelzimmer, Tourbus oder Studio der schicksalschwere Satz: „Ich will die Scheidung!“ Bekanntlich sind es die Fans, die am meisten darunter zu leiden haben. Ich war ein Fan von Grandaddy. Ich liebte diese Band, sie war wie ein Großväterchen zu mir.

Am Anfang war dieses Motorrad, eine Crossmaschine beim Überfliegen eines Hügels, unscharf fotografiert, und der Titel der Platte: Under The Western Freeway . In einem Sommer gegen Ende der Neunziger war das, als ich immer weiter hereinrutschte in ein Debütalbum, das gleich im ersten Song, „Nonphenomenal Lineage“, dem unwürdigen Gast ironisch die Tür weist: „Hello, good morning, Sir, the results are back, now it’s time to pack your things an dgo, since you came on rather short of the average sort, now I must inform you’ve no reason left to remain here…“

Alles, was ich später an dieser Musik zu schätzten und lieben lernte, war hier schon ausgeprägt. Schrammel- und Bratzgitarren, Schweinerocksoli und Psychedelik, erdrückende Dissonanzen und staunenswerte Harmonien in Moll, undefinierbares Schleifen und eine Stimme, die immer warm war, ganz egal, ob sie gerade aus einem Megaphon oder einem Telefonhörer kam – oder sich zu einem Chor steigerte. Melodieselige Beach Boys auf Valium an einem wellenlosen Tag.

Rotzige Hits gab es allerdings auch, grob

zusammengenagelt nach dem patentierten Pixies-Baukastenprinzip, wie „A.M. 180“ mit seinem enormen Gefälle zwischen verhaltener Strophe und rauschhaftem Refrain. Aber auch ein Epos wie „Why Took Your Advice“, in dem der barocke Bombast der frühen King Crimson erst liebenswert dilettantisch nachgebastelt – und dann plötzlich übertroffen, weil ohne Peinlichkeit in die Gegenwart übersetzt wurde.

Die Musiker übrigens, vollbärtige Käuze waren das, Waldschrate aus Modesto, Kalifornien, Öko-Freaks, und der Sänger, Jason Lytle, war einst Profi-Skater, bis ein Unfall… Und Texte schrieb der. Kleine Gedichte wie „Go Progress Chrome“, in denen der kilometertiefe Graben zwischen Natur und Technik, dem Ursprünglichen und der Zivilisation klaffte – ein Thema, das sich wie ein roter Faden durch alle vier Platten zog. Deshalb rätselte ich auch lange über den kryptischen Plattentitel. Warum „unter“ dem Freeway? Vielleicht, weil unter dem Asphalt die Natur… nein, das wäre nun arg platt.

Das findet auch Jason Lytle, als ich ihn frage. Nackt sieht er aus, so mit glatt rasiertem Gesicht. Große Augen hat er und trägt eine Baseball-Mütze mit der Aufschrift „Skateboard Superstar“, unter der ein struppiges Büschel gelb gefärbter Haare hervorleuchtet: „Under The Western Freeway haben wir in der Wildnis aufgenommen, in der totalen Wildnis. Das war zwar sehr schön, auch wenn ich wegen jeder gerissenen Saite zwei Stunden lang mit dem Auto nach Modesto reinfahren mußte. Aber was mich irritierte, das waren die Flugzeuge, die man dort draußen ständig hörte. Ein Nachbar klärte mich dann auf, daß sich auch Flugzeuge auf Strecken bewegen, an die sie sich halten müssen, wie Autos auf Freeways, und daß wir dort wohnten, wo die großen Flieger ihren Landeanflug auf Los Angeles beginnen – unter der westlichen Autobahn.“

Jason Lytle liebt Anspielungen. Und Metaphern. Auf The Sophtware Slump, dem zweiten Album, erzählt er in wie hingetuschten Bildern von einer Stadt, die ihre Seele verloren hat: „The supervisory guy turned out the factory lights, so all the robots had to work in the dark“, und die früher grünen Hügel muß jemand in brauner Farbe gestrichen haben. Hier geht es, deutlich epischer noch als auf dem Debüt, um den „traurigsten Parkplatz der Welt“ und das sanfte Einverständnis: „I’m okay with my decay.“ Musik, die die Welt ändern wollen würde, wäre nur die Welt nicht so verdammt traurig. Was zu tun ist, wenn hienieden alles verloren ist, verrät das letzte Lied auf SUMDAY, der dritten und eigentlich kompaktesten, melodischsten, popnahsten Platte: „The Finale Push To The Sum“ hebt ab und reitet auf einem Strahl aus gebündelter Melancholie, wahrscheinlich in Richtung der dunklen Seite des Mondes, grob geschätzt…

Ach, das war keine traurige Musik. Weil sie glücklich gemacht hat. Es war auch keine schwermütige Musik, weil sie sich Zornesausbrüche geleistet hat, vulkanische Eruptionen sogar wie das zäh fließende, glühend heiße „Levitz“ auf The Broken Down Comforter Collection, einer EP-Sammlung.

Wenn man Jason Lytle fragt, bei welchen Gelegenheiten er wirklich glücklich sei, dann erzählt er von weitläufigen Parks für Skateboarder im Panorama der kalifornischen Natur, im Hinterland seiner Heimatstadt Modesto, von dieser scheinbar ewig währenden Sekunde schwereloser Stille auf dem Scheitelpunkt eines Sprunges, von einer extrem intensiven – weil mit Furcht gewürzten – Lust an der Geschwindigkeit und davon, wie unverzichtbar die Läuterung dieser fliegenden Abfahrten für seine seelische Balance sei, denn „skateboarding saved me twice“, sagt er, und bei dem euphorischen Instrumental gleichen Namens habe er immer „an Wolfgang Petersens , Unendliche Geschichte‘ gedacht, wenn der kleine Junge über den Wolken dahinrast, einem bonbonfarbenen Abendhimmel entgegen und festgekrallt in die weiße Mähne eines freundlichen Drachen“.

„Skateboarding Saved Me Twice“ ist noch eines der unauffälligeren Stücke auf Just Like The Fambly Cat, dem Abschied der Band. „Fambly“, das ist so eine typische Marotte von Grandaddy, wie „Sumday“ statt „Sunday“, damit aus dem Sonntag die Summe aller Tage, der Tag der Tage, der in lethargischer Gemütlichkeit begangene Lebensabend wird- „fambly“ ist „family“. Und so will Lytle den Titel verstanden wissen: „Es gibt tausende Arten für eine Band, auseinanderzubrechen. Auf Tour, mit einem Knall oder schmutziger Wäsche“, sagt er und klingt dabei matt, abgeklärt: „Aber wenn die Familienkatze stirbt, dann jammert sie nicht, klagt nicht – sondern verschwindet einfach.“ Im Intro zu diesem offiziell letzten Grandaddy-Album (die Plattenfirma betont, es sei in Wahrheit Lytles Solodebüt) fragt ein kleines Mädchen immer wieder: „What happened to the family cat?“, und in der abschließenden Coda wiederholt Lytle das traurige Mantra: „I’m not Coming back.“ Das ist wirklich traurig.

Andererseits klingt Just Like The Fambly Cat nicht nur wie ein Best-Of-Album – es ist auch eines, auch wenn es ausschließlich aus neuen Songs besteht. „Ich wollte“, erzählt Lytle, „daß der Kreis sich schließt.“ Und tatsächlich: Da sind das Versponnene des Western Freeway, die ausufernden Gitarrensoli, das Astrale von sophtware slump, und da sind die bezwingenden Harmonien von Sumday – und so viele, voll ausgerittene Melodien, daß man sich am Ende fühlt wie von Harmonien gesalbt, von Kopf bis Fuß.

An den Produktionsbedingungen hat sich nichts geändert. Um ihnen Erhabenes zu entlocken, bedienen Grandaddy mit heiligem Ernst die lächerlichsten Instrumente. Spielzeug eigentlich, Keyboards aus Plastik, für Kinder, vom Sperrmüll, mit fehlenden Tasten. In dem schlurfend dahinkreiselnden „The Animal World“, in dem das Bild einer von Menschen verlassenen Erde heraufbeschworen wird, irritieren merkwürdige Keyboardschleifen, die wie akustische Bremsspuren klingen. Es sind, was Lytle nur ungern zugibt, tatsächlich die heiseren Triebwerke landender Flugzeuge -in Loops gelegt. „Eine Boeing 747 ist ein großartiges Instrument“, sagt Lytle und lächelt.

Er will nicht ausschließen, daß er auch zukünftig mit dem Mikro in der Nähe eines Flughafens auf die Pirsch geht. „Aber eigentlich war diese Platte die komplexeste, zu der ich in der Lage war“, sagt Lytle zum Abschied. „Vielleicht werden meine nächsten Songs einfacher sein, wie… wie Haikus.“

Wir verabschieden uns, und erst im Treppenhaus fällt mir auf, daß ich mein Aufnahmegerät im Interview-Raum der Plattenfirma habe liegenlassen. Ich kehre zurück, und da sitzt Jason Lytle mit der akustischen Gitarre auf dem Konferenztisch, die Füße auf dem Stuhl, und klampft, den Blick konzentriert in die Noten versenkt: „White Flag“. Überrascht schaut er auf: „Oh, du hast mich dabei ertappt, wie ich Dido spiele!“ „Ich werde es niemandem verraten“, lüge ich. Ich habe es auf Band, ein paar Akkorde. Klingt gut, sehr gut. Meine Lieblingsband hat sich aufgelöst. Und mir zum Abschied einen Song geschenkt, der ihr gar nicht gehört.

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