Grace Jones im Tempodrom, Berlin


Dit is eene Ikone unserer Zeit: Hüte, Frisuren, Sensationen!

Grace Jones, das wird dieser Auttritt zeigen, ist seit ihrem verblüffenden Comeback nicht nur musikalisches Pflichtprogramm. Auch hauptstadtbekannte Friseure lassen es sich an diesem Abend nicht nehmen, die Rückkehr der Ikone mit ihrer Anwesenheit zu beehren. Kein Wunder: Das Konzert sollte sich als Fortbildungsveranstaltung für Kopfstylisten erweisen. Jones erscheint – zum erleichterten Aufstöhnen im Rund der ausverkauftenHalle-auf einer Hebebühne, getaucht in kakblaues Licht, einen weiß schimmernden Federbusch und rot glimmende Ameisenantennen auf dem Schädel. Zum zweiten Stück ist die Glatze des ehemaligen Models bereits mit einem in allen Farben schillernden Iro aus Stahl (!) verziert. Und so geht es fröhlich weiter: Mit jedem Song wechselt die Diva Kostüm und Kopfbedeckung. Einzige Konstante: Ihre langen Beine – offensichtlich der größte Stolz der mittlerweile 60-Jährigen – sind stets ausführlich zu sehen. Doch während Jones auf ihrem Kopf alle denkbaren und undenkbaren Perücken, Hüte und Kunstgegenstände balanciert, geschieht hinter ihr fast noch Erstaunlicheres. Die Band bleibt zwar weitestgehend im Dunkeln, um bloß nicht vom alleinigen Star des Abends abzulenken, aber arbeitet trotzdem sehr akribisch das Laszive, Verzögerte des typischen Grace-Joncs-Sounds aus sexy Voodoo-Rhythmen, chansonhafter Düsternis und eleganten Club-Klischees, den einst Sly & Robbie schufen, heraus und befördert ihn, als wäre das gar nichts, problemlos in die Jetztzeit. Oder, kurz gesagt: Das rockt ganz atemberaubend. Das Publikum, zu einem nicht unwesentlichen Teil schwul und weitestgehend durchgängig alt genug, die glorreichsten Zeiten von Grace Jones schon höchstselbst miterlebt zu haben, verlässt denn auch schon nach wenigen Minuten die zugewiesenen Sitzplätze und eröffnet einen Tanzboden direkt vor der Bühne. Dort widerlegt die angejahrte Party-Crowd das abgewandelte Bonmot, dass die 80er-Jahre nicht erlebt haben kann, wer sich noch daran erinnert: Die geschickt im Set platzierten Klassiker wie „Nightclubbing“, „LovelsADrug“ und „La Vie En Rose“ werden mit tiefen Widererkennungsseufzern begrüßt. Mit eher akademischem Abstand betrachtet dagegen ein glatzköpfiger Rocker mittleren Alters die Szenerie: “ Dit muss ma einfach mal gesehen haben, dit is eene Ikone unserer Zeit. “ Wer wollte da widersprechen: Tatsächlich hat sich Grace Jones nach einer beinahe zwei Jahrzehnte währenden Schaffenspause mit ihrem neuen Album HURRICANt: direkt aus dem Nichts wieder zurück in den allgemeinen Konsens befördert. Dort fühlt sich Grace Jones sichtlich wohl. Zum Abschied gibt es „Slave To The Rhythm“ und eine minutenlange Einlage mit dem Hula-Hoop-Reifen, die hoffen lässt: Diese Frau wird nicht vor ihren Friseuren in Rente gehen.

Albumkritik ME 11/05

www.theworldofgracejones.com