Genesis
Die Buhne ist in einen überdimensionalen, paradiesisch roten Lichtnebel gehüllt, der in allen nur erdenklichen Abstufungen leuchtet; aus den Mammutboxen tönt ein apokalyptisches Dröhnen, das langsam akustische Formen annimmt und sich endlich als Einleitung zu einem der genialsten Kitsch-Songs der Popgeschichte zu erkennen gibt – der Breitwandhymne „Mama“.
So oder ähnlich wird es zugehen, wenn am 7. Juli im Hannoveraner Niedersachsen-Stadion der Vorhang für die mit Spannung erwartete Deutschlandtournee aufgeht.
Phil Collins, Tony Banks und Mike Rutherford werden bis dahin einen triumphalen Kreuzzug durch die amerikanischen Großstädte hinter sich haben: Die großen Arenen in Städten wie Chicago. New York, Philadelphia, Los Angeles, San Francisco und Detroit werden sie jeweils bis zu sechsmal ausverkauft haben; Tagesumsätze in Höhe von 1,4 Millionen Dollar sind dabei der Durchschnitt!
Die gigantische Tour begann bereits im September ’86 in den USA, machte dann einen Abstecher in den Fernen Osten nach Japan, Neuseeland und Australien, wo natürlich ebenfalls sämtliche Zuschauer-Rekorde purzelten: acht ausverkaufte Stadien allein in Sydney!
Mit über 100 Tonnen Ausrüstung und einer Light-Show, die alles bisher Dagewesene in den sprichwörtlichen Schatten stellt, werden Genesis in Deutschland erwartet. Allein fünf Sattelschlepper werden aufgeboten, um die 401) Lampen starke Lichtbatterie zu transportieren. 250 dieser Scheinwerfer sind sogenannte Varilites. mit computergesteuerten Elektromotoren ausgestattete Wunderlampen, die in Zehntelsekunden Farbe, Position, Intensität und Lichtkegel wechseln können. Sie bilden, wie schon auf den letzten Genesis-Tourneen, den wichtigsten visuellen Bestandteil der Show. Man sollte sich nicht wundern, wenn gerade Genesis immer wieder mit den aufregendsten Entwicklungen auf dem Gebiet des Licht-Designs aufwarten, gehört doch neben der Beschallungs-Company Showco auch die Firma Varilite zum größten Teil ihnen. Millionenbeträge haben die Herren Banks. Collins und Rutherford da invenstiert.
Im Schlepptau werden Genesis wieder ihre langjährige Tournee-Unterstützung haben: den Drummer Chester Tompson und Daryl Stuermer am Baß. „ehester und Daryl gehören praktisch mit zur Familie, sie spielen immerhin seil fast zehn Jahren hei uns“, erklärt Tony, während er sich in der geräumigen Suite eines Londoner Flughafenhotels einen Orangensaft eingießt.
Die drei Helden der Formation, die von der amerikanischen Branchen-Bibel „Billboard“ immer noch als „Most progressive Group Of The World“ bezeichnet wird, sehen ausgeschlafen und strotzgesund aus. obwohl sie bis auf eine kurze Pause seit Monaten durch die Tourneetretmühle gedreht werden. Freundlich und distanziert geben sie Auskunft über das Unternehmen Genesis, so als säßen sie in einem Pavillon eines Fremdenverkehrsvereins und müßten Informationen über ihre Stadt erteilen.
Zur Rechten kauert Quadratschädel Phil mit seinem Schornsteinfeger-Charme, mit gedrungener, aber athletischer Figur und enormen Geheimratsecken im ohnehin spärlichen Haarwuchs. Kaum zu glauben, daß dieser Knirps in der altersmäßig höher angesiedelten weiblichen Fangemeinde als Sex-Idol gehandelt wird.
Der ehemalige Nachwuchs-Schauspieler, der 1964 mit 13 Jahren jeden Abend die Rolle des Artful Dodger in einer „Oliver Twist“-Produktion des Londoner New Theatres darstellte, wirkt eigentlich eher wie ein Rumpelstilzchen.
Dagegen könnte der adrett gekleidete ehemalige Linguistik-Student Tony als Doktor durchgehen, präziser: als Typ des sensiblen Zahnarztes, der dich durch ausdauerndes Reden überzeugt, den Mund endlich aufzumachen. Der magere Tony spricht schnell und präzise, ganz im Gegensatz zu Phil, der sich immer mal wieder verhaspelt, Sätze unterbricht, sie neu anfängt und nicht aufgibt, bis er das Bild, das er im Kopf hat, verständlich vermittelt zu haben meint.
Mike Rutherford trudelt ein. er ist eigens für diesen Pressetermin von seinem Kurzurlaub in Dänemark zurückgekommen. Mike, groß und schlaksig und mit leicht glasigem Blick, bewegt sich unbeholfen, als wüßte er nicht, wohin mit seinen langen Armen. Er wählt seine Worte bedächtig und neigt dazu, sich zu wiederholen.
Das Dreiergespann erinnert eher an midlife-crisis-gcplagte Mittdreißiger auf einem nostalgischen Klassentreffen als an millionenschwere Popstars, die im nächsten Jahr das zwanzigjährige Jubiläum ihrer Superband feiern werden.
Auch wenn sie nun nicht gerade den optischen Klischees des durchschnittlichen Popstars entsprechen – ihre „lnvisible Touchf-Tournee jedenfalls geriet bisher zu einem wahren Siegeszug. In Miami jubelten der Gruppe 70000 Fans zu — einige Jährchen zuvor hatten Genesis dort noch mit 1500 Zuschauern vorlieb nehmen müssen.
„Da ja das Publikum immer größer wird, müssen zwangsläufig auch frischgebackene Fans darunter sein“, konstatiert Tony zufrieden, „In den Staaten sind ungefähr ötl Prozent der Zuschauer erst durch unser letztes Album auf uns aufmerksam geworden. Viele Leute kommen einfach, weil .sie neugierig sind. Und die bekehren wir dann sehr schnell …“
„Natürlich“, fällt ihm Phil ins Wort. „Schließlich haben wir uns schon in unseren Anfangslagen den Ruf einer exzellenten Live-Band erkämpft. Und live sind wir immer noch unschlagbar, vor allem in den großen Stadien. Wenn du vor 70000 Leuten auftrittst, dann bringt das eine ganz spezifische Spannung mit sich, die durchaus angenehm ist. Die jeweilige Stadt rollt dann quasi den roten Teppich für uns aus und feiert unser Konzert als großes Ereignis. Und D
statt wie früher das Feuilleton, berichtet jetzt die Titelseite über diesen Event. „
Bescheidenheit war schon immer Phils Stärke. Aber auch Tony zieht die großen Arenen den kleinen Clubs vor, aus gutem Grund: „In den kleineren Hallen mußt du viel besser sein als in den großen. Wenn du praktisch ohne Netz und doppelten Boden in einem kleinen Club auftrittst, dann kannst du dich nicht auf das Echo verlassen, dann muß jeder Ton sitzen. Außerdem fühlen sich die großen Arenen lange nicht so unpersönlich an, wie die Zuschauer immer denken. Du mußt eben nur alles in Uber-Lebensgrüße bringen, damit du auch noch die letzte Zuschauerreihe in der Halle erwischt. „
Auch bei der Live-Umsetzung ihrer Songs geht die Altherren-Riege kein Risiko ein: „U’/>
ändern die Songs nur ein wenig ab. Abweichungen ergeben sich hauptsächlich dadurch, daß ehester und Daryl mitspielen. Die härteren Songs kommen noch harter, aber im grollen und ganzen bemühen wir uns, einigermaßen idemisch die Plauenfassung zu spielen – oder zumindest das Maxi-Arrangement, wie etwa bei Jnvisible Touclr.“
Die Abneigung gegen große Neuerungen zeigt sich bei dem Trio otter. Schon damals, als Peter Gabriel das Weite suchte und man aus -K>()(!) Democassctten einen neuen Sanger suchen sollte, kam das Trio nicht weit. Banks: Jedesmal wenn jemand in unserer Studiotür auftauchte, fragten wir uns, ob wir mit diesem Typen auch einen Song schreiben mächten. Und keiner paßte eigentlich so richtig in die Familie… “ Also versuchte der Trommler Phil Collins sein Glück.
Beim Kompositions-Prozeß darf heute ohnehin außer dem Trio-keine andere Person den Genesis-eigenen Aufnahmekomplex in Surrey. genannt“.The Farm“, betreten Schlechte Erfahrungen spielen da mit. Tony Banks: „Sobald Leine im Proberamn auftauchen, beginnen wir (Inders zu spielen. Plötzlich machst dit dir Sargen, denn du könntest ja einen falschen Ton spielen oder einen Furz lassen. Es ist aber fiir unseren kreativen Prozeß ungeheuer wichtig, daß niemand Angst vor den eigenen Fehlern hat. „
Und dann improvisiert man munter drauf los, bis sich die richtigen Ideen für einen Song herauskristallisieren. Eine Art kollektiver Trance-Zustand, montags bis freitags von 11-19 Uhr. schließlich hat man Familie (alle drei sind verheiratet und haben je zwei Kinder). Erst wenn die Deadline für ein Album näherrückt, arbeitet man bis Mitternacht und auch am Wochenende.
Phil, Tony und Mike legen Wert darauf, daß jeder Genesis-Song aus der gemeinsamen Feder stammt. „£5 kommt äußerst selten vor, daß wir Überbleibsel aus unseren jeweiligen Soloprojekien einbeziehen“, erzählt Mike, „das wäre auch kritisch, weil sich die anderen dann als Sessionmusiker mißbraucht fühlen würden. „
Vielleicht liegt es auch an dieser sorgfältigen Ego-Hygiene, daß die Band die letzten beiden Jahrzehnte ohne Schiffbruch überstanden hat. obwohl jeder der Drei mit eigenen, erfolgreichen Projekten den immer wieder schwelenden TrennungsEerüchten reichlich Futter gab. Immerhin heimst Phil Collins „seit einigen Jahren auch solo beträchtliche Tantiemen ein. schob sich Mike Rutherford mit seiner Zweitband Mike & The Mechanics in den Hitlisten nach vorne und widmete sich der in punkto Profilneurose am wenigsten geschädigte Tony Banks in semer Freizeit erfolgreich genug seinen Filmmusiken.
Wenn man den Beteuerungen von Mike. Tony und Phil glauben darf, dann sind seihst diese Projekte Programm: „Diese beulen Bereiche profitieren voneinander“, erläutert Tony. „Wenn ich solo arbeite, bewege ich mich in Bereichen, die Genesis nicht abdeckt. Ich stecke immer voller Ideen, wenn ich dann nieder mit den anderen zusammenkomme. Ich bringe dann neue Erfahrungen ans Experimenten mit in die Gruppe ein. Auf diese Art ändern wir uns als Musiker ständig“
Rutherford sieht das Ganze noch krasser: „Wenn wir unsere eigenen Projekte nicht hätten, gäbe es Genesis nicht mehr. Wenn wir uns trennen, dann ganz bestimmt nicht wegen der Solo-Projekte. „
Ok. werden wir noch direkter: Was hält denn beispielsweise Tony von Phils Soloplatten?
Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: „Toll, einfach phantastisch, der Junge ist ja so talentiert!“ Und wenn sich daraufhin Phil vergnügt auf die Schenkel klopft und ein wieherndes Gelächter anstimmt — das hat schon Klasse.
„Glttub ihm alles, er ist ja so ehrlich“, dröhnt Collins. Und wieder ernster: „Ich hub zwar Mike gesagt, daß ich den Song .All I Need Is A Miracle‘ großartig finde. Aber sonst kritisieren wir uns gegenseitig nicht. “ Seit Jahren konkurrieren nicht nur die Musiker der jetzigen Formation Genesis miteinander, sie müssen auch noch den Wettbewerb mit einem weiteren Mitglied aus den eigenen Reihen fürchten: Peter Gabriel. Das bekamen Genesis zu spüren, als Peter letztes Jahr praktisch zur selben Zeit, als Genesis mit IN-VIS1BLE TOUCH auf den Markt kamen, sein Album SO herausbrachte. Und auch die Tourneen laufen parallel. Ärgert so was nicht?
„Zugegeben, wahrscheinlich hätten beide Parteien mehr Platten verkauft, wenn das Tuning nicht so saudumm gewesen war“, meint Phil. „schließlich sprechen wir denselben Interessentenkreis an. Aber diese Überschneidung war nicht geplant oder gar böswillig! Wir verstehen uns alle bestens mit Peter. Wenn nach einer Trennung die schmutzige Wäsche gewaschen ist und sich der Staub gelegt hat, dann kommen wieder die freundschaftlichen Gefühle hoch. „
Was machen die Musiker von Genesis eigentlich, wenn sie mal nicht im Studio oder auf Tournee sind?
„Musik-, lacht Phil, der Workaholic. Tatsächlich legte er in den sechs Wochen Tourneepause, die sich die Band im Frühjahr zugestand, ein dreiwöchiges Gastspiel auf Eric Claptons Tournee ein: „Als Erholung, so hub ich’s jedenfalls meiner Frau schmackhaft gemacht. „
Gleich nach der Tournee will Mike eine neue Platte mit seinen Mechanics aufnehmen. Tony freut sich schon darauf, die diversen Angebote aus der Filmindustrie zu sichten, um endlich wieder einen Soundtrack schreiben zu können — „diesmal was Anspruchsvolles“. Phil dagegen will endlich in seinem alten Beruf groß Zufriedene Gesichter danken es ihnen: Zusammen mit ehester Thompson und Daryl Stuermer bedanken sich Phil, Tony und Mike für den hart erarbeiteten Applaus.
rauskommen — als Filmbosewicht. Er spielt im Herbst die Rolle des Zugräubers Buster Edwards.
Ansonsten plant Phil Abstinenz vom Musikmarkt: „Ich will die Leute nicht mit meiner Präsenz überfüttern“, erklärt er, „schließlich ist meine Stimme seit zwei Jahren dauernd in den Top 40 zu hören. Ich würde gerne mal etwas künertreten. Hoffentlich kommt nicht wieder ein guter Ireund wie Eric Chtpton und bittet mich, seine Platte zu produzieren. Da könnte ich garantiert wieder nicht nein sagen. „