Kolumne

Gedanken zum Gegenwärtig*innen, Folge 2: Reframing Alles


Es wird Zeit, sich in dieser Kolumne die popkulturelle Gegenwart genau anzugucken. Was passiert. Und wie und warum hängt das alles zusammen?

Unsere Gegenwart scheint später nun tatsächlich Geschichte zu werden. Zeit also, sich in dieser Kolumne die popkulturelle Gegenwart genau anzugucken. Was passiert. Und wie und warum hängt das alles zusammen?

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Drei Beobachtungen:

1. unmittelbarkeitskunst

Nach Covid-Roman und Lockdown-Album ist gekommen, was kommen musste: der Telegram-Chat-Roman. Gegenwarts-Chronist Leif Randt hat nun die Telegram-Gruppe „Hiper Dino Dramedy“ erstellt. In der er einen Chat postet, in dem zwei Millennials die Bedingungen für eine gutes – hedonistisches – Leben während der Corona-Krise ausloten. In diesem „Pandemie Pastell“ erfährt man: Auf Lanzarote lässt es sich gerade günstig leben. Ein Job im Impfzentrum ist der Shortcut zur Impfe. Und in Mietautos alte Taylor-Swift-Songs hören eine „makellose“ Erfahrung.

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2. konsument*innenverantwortung

Künftig muss Leif Randts „Hiper Dino“-Protagonist achtsam sein, welche Swifts-Songs er in seinem Mietauto streamt. Denn
Swift nimmt all ihre vor 2019 erschienenen Alben – die, an denen sie nicht die Masterrechte besitzt – noch mal auf. Den Anfang
macht FEARLESS von 2008, das nun als FEARLESS (TAYLOR’S VERSION) erscheint. Das Rework ihres Hits „Love Story“ klingt musikalisch klarer und stimmlich kräftiger. Erwachsener! Swift ihre verdienten Tantiemen zuzustreamen – und nicht
irgendeiner Holding – ist also ein doppelter Lustgewinn: moralisch und musikalisch besser.

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3. reframing

Der kulturelle Mainstream befand sich jahrelang in einer Art Pubertät. Impulskontrolle? Rücksicht? Umsicht? Alles eher gering. Nun ist die Welt komplett aus dem Rahmen gefallen. Das Glas gesprungen. Durch den neuen – erwachseneren – Rahmen sieht alles anders aus. Das Gestern, so stellt man fest, war gar nicht besser. Zum Teufel mit der Nostalgie! Man nehme nur den Umgang mit Britney Spears. Den der Medien – so will man es natürlich verstanden wissen – und sich selbst ausnehmen. Nie hat man Spears „crazy“ genannt. Natürlich nicht. In der „New York Times“-Dokumentation „Framing Britney Spears“ wird deutlich: Der öffentliche Umgang mit Spears war von Anfang an nicht nur misogyn, sondern psychisch gewalttätig.

Die Dokumentation „Framing Britney Spears“ portraitiert das Leben der Pop-Ikone

Eiskalt läuft es einem den Rücken runter, wenn Spears, in aller 2000er-Jahre-Selbstverständlichkeit, im Interview mit Diane Sawyer dafür an den Pranger gestellt wird, Justin Timberlake betrogen zu haben. Was falle ihr denn ein? Sei sie so etwa Vorbild für junge Frauen? In Unterwäsche? Auf dem „Rolling Stone“-Cover? Immer wieder musste sich die Frau öffentlich entschuldigen. In Tränen ausbrechen. Rechtfertigen, warum sie ihr Baby beim Autofahren auf dem Schoß hatte. Ja, warum? Weil es weinte, als die Paparazzi das Auto umzingelten und gegen die Scheiben schlugen. Sind Sie eine schlechte Mutter, wurde sie im Fernsehen gefragt. Schämen sollte sie sich.

Justin Timberlake bittet Britney Spears und Janet Jackson um Entschuldigung

Der öffentlich Gewalt verherrlichende Marilyn Manson allerdings musste sich damals nirgends unter Tränen entschuldigen. Er war ja keine Frau. Sondern eine Kunstfigur. Die Reporter darauf erpicht, mit ihm etwas Krasses zu erleben. Zu hören, wie er krass über Frauen spricht. Der Begriff „slut shaming“ war dem Mainstream fremd. Mentale Gesundheit? War auch kein Thema. Spears galt als belustigend „crazy“, als sie auf das Paparazzi-Auto mit dem Schirm einschlug, das sie zuvor verfolgt hatte. Zur Tür ihres Ex. Der ihr den Besuch der zwei kleinen gemeinsamen Jungen versagte. Das Framing sozialer Medien ist gerade eben eher schlecht. Dennoch waren sie es, die die Paparazzi-Blase von damals platzen ließen.

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Julia Frieses Kolumne „gedanken zum gegenwärtig*innen“ erscheint seit der Ausgabe 03/2021 monatlich zuerst im gedruckten Musikexpress.

Gedanken zum Gegenwärtig*innen, Folge 1: Hits Anders