Flurfunk in Suffolk


Selbst draußen im Nowhere Land stand John Peel. zu jeder Zeit im Zentrum des Pop - Frank Sawatzki besuchte seine Frau Sheila, die jetzt ihr gemeinsames Shellack-Projekt fertiggestellt hat.

Draußen im Niemandsland zwischen Ipswich und Newmarket, wo die Wiesen und Weiden sich sanft winden wie Minigolfbahnen und der Himmel ein unverdächtiges Grau trägt, kommt man bald gehörig ins Trudeln und Schwitzen. Am Bahnhof von Stowmarket steht ein führerloses Taxi, drei Fahrer lungern in einer Mini-Baracke. „Komm,fahr du!“, sagt der vorne. „Was?!“, murmelt einer hinten, ausgestreckt auf einer Bank. Der Dritte rafft sich schließlich auf: „Okay, wohin geht s?“ Sodann schießen wir in Formel-1-verdächtiger Geschwindigkeit über dafür nicht vorgesehene Wege zum Ziel in Great Finborough. Als hätte mein Fahrer spontan beschlossen, auf einer menschenleeren Landstraße in Suffolk mit seinem Leben abzuschließen. Wahrscheinlich kennt er die Strecke zu den Ravenscrofts in Great Finborough einfach zu gut.

„Here we are.“ Ein rosafarbener, reetgedeckter Hof, umgeben von Schuppen und Anbauten. Die Begrüßung findet in der Küche statt, in dieser Reihenfolge: Nelly (altenglischer Schäferhund), Bernard (Collie), Sheila (Mutter), Danda (Tochter), Archie (Enkel). Nur der Hausherr und weltbekannte Zeremonienmeister eines noch weit verwunscheneren Universums wird seit knapp anderthalb Jahren sehr vermißt – hier besonders und überall dort, wo man seine Stimme und sein Programm empfangen konnte: John Robert Parker Ravenscroft, 1939 in der Nähe von Liverpool geboren, im Oktober 2004 in Peru an Herzversagen verstorben. Jeder kannte und kennt ihn nur als John Peel. Gewinner des „Godlike Genius“-Award, dem ihm eine britische Popzeitschrift verlieh, und Träger des OBE (Order Of The British Empire) und: Radio-DJ-seiner eigenen Klasse.

Die Nachricht seines Todes umfing Fans auf der ganzen Welt mit einer eigenartigen Trauer, erzählt Sheila Ravenscroft: „Viele schrieben uns, daß sie das Gefühl hatten, einen guten Freund zu verlieren.“ Seitdem gibt es Peel-Days, Peel-Tribute-Alben, eine Biographie, die John begann und seine Frau Sheila und ihre Kinder vollendeten – mitdem Buchclub-verdächtigen Titel „Margrave OfThe Marshes“ („Markgraf der Marschen“). Das letzte gemeinsame Projekt von John und Sheila heißt The Pig’s Big 78s und ist eine ausgesprochen heitere Zusammenstellung von Schellack-Aufnahmen. Auch sie wurde von John begonnen und ist jetzt von Sheila in Zusammenarbeit mit dem Münchener Trikont-Label fertiggestellt worden.

Die alten Schellackplatten tauchten eines Tages auf, John hatte sie von der Mutter eines Freundes geschenkt bekommen, er wühlte fortan auf Dachstühlen, durchsuchte Plattenläden, bekam von Hörern welche geschenkt. Für jemanden, der ein halbes Leben lang per Anhalter durch die Pop-Galaxis gereist war, boten die schnell drehenden Platten aus der Eisenzeit des Pop die Chance zur Entschleunigung. Es gab keinen Druck, sich mit ihnen zu befassen, keine Aktualitäten, von Konkurrenz auf diesem Gebiet ganz zu schweigen. Die pure Neugierde trieb Peel ans Ende der Welt der Schallplatten. Oder an ihren Anfang: Hallo ist da noch wer? Eine neue Galaxie im Sternbild Großer Bär?

Die 78er kamen wie gerufen für die BBC-Sendungen, die Peel vor dem Millennium moderierte. Aus jedem der letzten 100 Jahre standen drei Songs auf dem Programm. Sheila kam der Job zu, die Schellackplatten anzusagen: Die Rubrik „The Pig’s Big 78s“ war geboren. „Die 78er wurden richtig populär, Leute schrieben, mailten, riefen uns an. Einige dieser Aufnahmen waren schockierend, richtig schlecht.“ Die Guten kamen ins Töpfchen: bizarre Stimm-Imitatoren, rasante Fußball-Lieder, Varietemusik, Swing-Orchester, und ein Stück von Lightnin‘ Hopkins ist auch dabei.

Sheila, die John freundlich „The Pig“ nannte, tauchte zuletzt mehr und mehr in Johns Musiknetzwerk ein, sie hielt die Bands bei Laune, die nachmittags zu den Peel Sessions anreisten, während ihr Gatte noch in London im Studio weilte. Weil Belle & Sebastian im kleinen Heimstudio der Peels nicht komplett Platz fanden, mußte Sheila den Keyboarder kurzerhand ins Bad einquartieren. „Etwas isoliert vom Rest der Band, aber sehr lustig. Er spielte brillant.“ Nur eine Tür liegt zwischen der Küche und dem Heiligtum von „Peel Acres“, aus dem der DJ in den letzten Jahren zu seinen Nachtflügen ansetzte. Am Fenster ein Mischpult mit Plattenspielern, CD-Playern, Kassettenrekorder und einem eigens für die Schellackplatten in die Konsole eingelassenen Abspielgerät, überall Stapel von Platten, CDs, Büchern, ein FC-Liverpool-Wimpel, ein Calexico-Poster.

„Es gab ganze Abende, an denen wir uns geweinsam durch die vielen Demo-Aufnahmen arbeiteten“, sagt Sheila. „Das ging gut, während ich in der Küche arbeitete. Er hörte ja von morgens bis nachts neue Musik. Er rief dann von drüben: „Sheila, wie findest du das?“ Erste Radio-Erfahrungen hatte der junge Ravenscroftin Amerika gesammelt. Ein Brite mit nordenglischem Dialekt, der all die Beatbands und ihre Storys kannte, das war die halbe Eintrittskarte ins US-Radio der Kennedy-Ära. Erste sexuelle Abenteuer verdankte Peel der Einschätzung einiger junger Amerikanerinnen, die jeden greifbaren Mann aus Liverpool für einen der Beatles hielten: So groß konnte Liverpool doch nicht sein. John war nicht daran gelegen, diesen Eindruck ernsthaft zu zerstreuen. Er probte das Spiel als DJ, das er Jahre später beim Piratensender „Radio London“ zu seinem eigenen machte, bis die BBC ihn für ihre Pop-Welle „Radio 1“ unter Vertrag nahm.

Sheila, die Lehramtsstudentin für Chemie, und John, der sanfte Musikologe, lernten sich irgendwo im beginnenden Medienrummel dieser Jahre kennen. Als Peels Wohnung in London zum Proberaum für angehende Popstars wurde, verschwanden John und Sheila lieber ins „Nowhere Land“ Suffolk. Peel genehmigte sich diese Entfernung zum Pop-Alltag und stand doch jederzeit in dessen Zentrum. Sein Stilmix blieb über Jahrzehnte unerschrocken, liebenswürdig und eklektisch. Er ließ Speedmetal-Bands auf knisternde Reggae-Dubplates prallen, machte sich zum Paten der Punk-Bewegung und entdeckte die White Stripes für Europa (und beileibe nicht nur die). Ein Minderheitenprogramm, das auch deshalb schnell mehrheitsfähig wurde, weil sein Erfinder so nah an seinen Hörern operierte. Einmal begann Peel mitten im Programm von seiner Geschlechtskrankeit zu erzählen, um einem besorgten Anrufer Trost zu spenden.

Urlaub kam John stets ungelegen, erzählt Sheila.

„Erhaßtees. wenn Kollegen sein Programm machten, das war für ihn, als ob eine andere Person seine Zahnbürstebenutzte.'“Wenn sie dann mal auf Reisen waren, „begab sich lohn an jedem noch so gottverlassenen Ort zuerst auf die Suche nach einem Plattengeschäft. Und in großen Metropolen verbrachten wir manchmal einen ganzen Tag dort. Meine Frustration kann man sich vorstellen, wenn ich eine Stadt kennenlernen wollte. Statt dessen gibt es nun lauter Fotos von mir, wie ich in Plattenläden rumstehe.“

Zu Hause ging’s im Peel-Beat weiter. Im Hause der Ravenscrofts entstand ein Teil der 4000 Peel-Sessions, eine nahezu kanonische Sammlung der Underground-Musik der letzten Jahrzehnte, live eingespielt, aufplätte veröffentlicht. Es fehlte eigentlich nur eine Session mit den besten Fangesängen seines geliebten FC Liverpool. Peel gab während seiner Sendungen Zwischenstände von Premier-League-Spielen durch. „Wenn Liverpool gewonnen hatte“, sagt Sheila, „wurde sein Programm besser, wenn sie verloren, wurde es schlechter. Seine Stimmung sank verdächtig.“

Wie hat Peel, in der Auseinandersetzung mit der Musik-Lawine, die ihn in der täglichen Post erreichte, entschieden, was auf Sendung kam? Eine Art Antwort findet Sheila in Johns Tagebuch: „Ich höre mir Musik an ohne Rücksicht auf Rasse, Hautfarbe, Religion oder Frühstücks-Vorlieben des Musikers… Das einzige kleine Vorurteil, das ich mir leiste, ist: Musiker, von denen ich annehme, daß sie Everton oder Arsenal unterstützen, können lange daraufwarten, mit ihrem Kram ins Programm zu kommen.“ www.bbc.co.uk/radioi/johnpeel/index.shtml