Fish Tank


The Real Little Britain: Erwachsenwerden im Ghetto von Essex - Der beste Teenagerfilm, den man sich vorstellen kann

Dies ist vielleicht nicht die Publikation, um eine nerdige Diskussion um Bildformate in Gang zu setzen. Aber genau das Bildformat ist es, was dem Zuschauer zuerst auffällt, wenn sich der Vorhang für

FISH TANK

hebt. Der zweite Film der sensationell talentierten Schottin

Andrea Arnold

(Ihren Erstling RED ROAD verpasst? Sofort nachholen!) ist im klassischen Fernsehformat in einem Verhältnis von 1,33 zu 1 realisiert, wirkt für Augen, die die diversen Standardbreitwandformate gewohnt sind, fast quadratisch, eng, klaustrophobisch. Strecken unmöglich, einmal tief Luft holen ebenfalls.Wie ein Aquarium eben. Was angesichts der Tatsache, dass dieses Format vor dem Siegeszug der immer breiteren Leinwand in den Fünfzigerjahren in der eigentlichen Blütezeit des Kinos das gängige war, nicht einer gewissen Ironie entbehrt. Aber Arnold weiß genau, was sie tut. Nicht nur wegen des Versuchs, mit allen gegebenen stilistischen Mitteln das Gefühl einer hermetisch abgeschlossenen Welt zu vermitteln. Sondern auch, weil FISH TANK dem Fernsehen einiges schuldet. Einerseits hatte der Brite

Alan Clarke

– das offensichtliche Vorbild Arnolds – seine berühmten Porträts aus der Bahn geratener Jugendlicher („Scum“, „Made in Britain“, „Elephant“) allesamt für das Fernsehen realisiert, andererseits wirkt Arnolds 15-jährige Protagonistin Mia wie eine realistische Interpretation der sensationell unflätigen White-Trash-Göre Vicky Pollard aus den Sketchen der subversiven Comedyserie „Little Britain“.Auf halbem Wege zwischen diesen beiden Extremen folgt die Filmemacherin ihrer Protagonistin durch ihren trostlosen Alltag in den heruntergekommenen Sozialsiedlungen von Essex. Die Welt, die der Film zeigt, ist trist. Der Film ist es nicht. Weil seine Heldin sich nicht aufgegeben hat, sich nicht fügt in ein aussichtsloses Leben mit ihrer geschiedenen Mutter, die ihre Hoffnungslosigkeit mit Alk, Partys und Männerbekanntschaften ersäuft, und ihrer vorlauten kleinen Schwester, deren Überlebensstrategien deutlich rücksichtsloser sind. Mia sucht ihre kleinen Fluchten. In einer leerstehenden Wohnung übt sie selbstvergessen Tanzschritte zum Sound von Eric B. & Rakims „KnowtheLedge“ – ebenfalls die Geschichte eines Teenagers, der sich über seine Verhältnisse erhebt – und die Kamera hält stoisch auf ihr Gesicht. Immer wieder versucht sie ein angekettetes Pferd auf einem Schrottplatz zu befreien. Und dann tritt Connor in ihr Leben, der attraktive, entspannte und rücksichtsvolle neue Freund ihrer Mutter, und mit ihm das Versprechen einer harmonischen Zukunft.Er, gespielt von dem sensationell guten

Michael Fassbender

aus HUNGER, hört alten Funk und Soul und wirkt überhaupt wie aus der Zeit gefallen, unwirklich, unglaublich. Und entpuppt sich als Windbeutel, Blender, Verräter, was FISH TANK mit einem Mal finstere Pfade betreten lässt, die man in einem weniger guten Film nicht betreten wollen würde. Andrea Arnold und ihrer fabelhaften Hauptdarstellerin

Katie Jarvis

folgt man jedoch bereitwillig bis ans bittere Ende, an die tiefste Stelle des Aquariums.Start: 23. September

Tomasso Schultze – 01.10.2010