Findet Emo
„Ich leide, also bin ich." So sehr der Begriff Emo derzeit Konjunktur hat, so schwer ist er zu fassen. Was ist eigentlich Emo? Ein Genre oderein Gefühl? Wann fing Emo an? Und wo hört Emo auf?
Es muss vor sechs oder sieben Jahren gewesen sein, als ich mit dem ME-Kollegen Lindemann zufallig in Manchester das erste Mal zusammentraf. In der Nacht besuchten wir einen berüchtigten Keller-Club. Beim Tanzen rutschten meine Hemdsärmel hoch und verhedderten sich schließlich in den Nietenarmbändern, die ich damals an beiden Handgelenken trug. Als ich Lindemann nichtsahnend nach der Uhrzeit fragen wollte, fiel sein Blick auf die Nieten und verfinsterte sich zu einer beängstigenden Fratze: „Oh Gott! Was hast du denn da am Arm? So was tragen bei uns nur die Leute am Bahnhof!“
Emocore war scheinbar noch nicht bis nach München durchgedrungen. Dabei war zu der Zeit um die Jahrtausendwende doch absolut alles Emo: Der Himmel war noch etwas grauer als sonst, das Haar noch etwas länger (man konnte nur auf einem Auge sehen) und die Zukunft noch etwas offener. Ich war voll Emo, und meine Lieblingsbands hießen Sense Field, AtThe Drive-In, Split Lip, The Lapse und Sunny Day Real Estate. Musste man damals seine Platten hauptsächlich bei Mailordern wie „Green Hell“ oder „Lost And Found“ per Sammelbestellung beziehen, ist der Emo-Begriff heute längst in den Mainstream vorgedrungen und wird mittlerweile gern als Schimpfwort gebraucht.
Verständlich: Kaum jemand, der früher jedes Vinyl, das auf Labels wie „Revelation“, „Doghouse“, „Jade Tree“, „Gern Blandsten“ oder „Drive-Thru“ erschien, blind gekauft hat, möchte etwas mit den Kajal-Kaspern My Chemical Romance oder Panic! AtThe Disco zu tun haben, die heute als „Neo-Emo“-Galionsfiguren Mehrzweckhallen zum Einsturz bringen. Man kann unsagbar viele Jahre mit dem Hören von Emo-Platten verbracht haben und trotzdem genauso verwirrt sein wie am Anfang: Warum ist es so schwierig, zu klären, was eigentlich Emo ist? Wieso werden Hüsker Du nicht zu den Wegbereitern der Emo-Szene gezählt, obwohl sie schon ganz früh introspektive und sehr emotionale Texte schrieben, die weit über das hinausgingen, was im Punk/Hardcore zu der Zeit üblich und vor allem erwünscht war? Warum wurde ein Song wie „Somebody To Shove“ von Soul Asylum niemals Emo genannt, obwohl er (1992 schon!) genauso klang? Weshalb gibt es im Emocore so viele komische Bandnamen wie Hey Mercedes, Time Spent Driving, Further Seems Forever, The End Of Julia oder Jets To Brazil? Wann ist eine Band Emo und wann nicht? Wieso möchte keine MusikgTuppe Emo genannt werden und spielt auf Nachfrage meistens „just guitar rock“ oder Ähnliches? Und wie entstand der Begriff Emo Mitte der Achtziger eigentlich? Just, 30 Jahre alt und hauptberuflich DJ, weiß mehr: „ich weiß nicht, ob das noch zu der Zeit bei Embrace oder schon zur ersten Fugazi-PIatte war, aber man hat lan MacKaye einmal in einem Interview gefragt, wie er denn seine neue Musik bezeichnen würde. Und daraufhin sagte er wohl: ,lt’s just emotional music.Emo.'“ Glaubt man den Autoren Mark Andersen und Mark Jenkins, die das Buch „Punk, DC“ über den Washington Hardcore schrieben, war es ganz anders: Das Skater-Magazin „Trasher“ hatte den neuen Sound der Stadt Washington als „Emocore“ bezeichnet. MacKaye erwiderte, dass dies die dümmste Sache sei, die er je gehört habe. Zudem tauchte, wahrscheinlich noch früher, auch der Begriff „Emotional Hardcore“ (meint: Hardcore mit melodiöseren, gefühlvolleren Parts und persönlicheren, weniger gesellschaftskritischen Texten) auf, von dem sich der Sound und das Wort „Emo“ ableitet.
Die allgemeine Weiterentwicklung und Verästelung, die der Hardcore Mitte der achtziger bis Anfang der neunziger Jahre erlebte, wird auch als „Revolution Summer“ bezeichnet. Und eine Sicherheit bezüglich der Ursprünge von Emocore gibt es dann doch: Die Hardcore-Band Rites Of Spring (Washington, D.C, 1984-1986, ein Album, eine EP) gilt als Ursprung allen Emos – dafür klingt sie übrigens ganz schön brachial. Nicht nur weil der gesamte Rites-Of-Spring-Output 1991 auf der CD end ON end über das Washingtoner Label Dischord wieder verfügbar gemacht wurde: Wurde Emo nicht auch von Dischord-Bands wie Fugazi, Jawbox oder Shudder To Think beeinflusst? War nicht Washington, D.C. die Stadt, von der aus er sich zunächst nach San Francisco und dann in den Rest der USA ausbreitete? Immerhin sang Guy Picciotto ebenso bei den Rites O f Spring wie heute neben Ian MacKaye bei Fugazi. Christian Hirr, 30, ehemals Herausgeber des Fanzines „Life“, das sich mit Leben, Liebe, Gedichten, Revolution und Emocore beschäftigte, fasst zusammen: „Dieses Emo-Ding ist schon stark aus der Hardcore/Punk-Szene entstanden und ist ursprünglich ja auch komplett darin verankert. Wenn ich von Punkrede, meine ich nicht die Menschen, die am Bahnhofmit ihren Hunden sitzen und Geld schnorren, sondern etwas Gesellschaftspolitisches. Von daher habe ich Hardcore und Punk nie so stark getrennt. Man kann aber schon sagen, dass Emo mehr aus dem Hardcore kommt: Die Mitglieder von Texas 1s TheReason oderspätervon den RivalSchools haben früher quasi alle in Straight Edge/Hardcore-Bands gespielt. Dischord-Bands wie FugazioderBluetip würde ich eigentlich eher nicht in diese Emo-Ecke packen. Obwohl speziell Fugazi unfassbar emotionale und tolle Live-Shows spielen. Aber mit dem kommerzialisierten späteren Emo, der sich dem College- und Indierock annäherte und im Endeffekt gar nicht anders klang als z.B. eine Weezer-Platte, hat das nicht mehr so vielzu tun. Gemeinsamkeiten sehe ich da eher im etwas melodischeren, mehr dem Indie-Rock verhafteten Sound.“ Just, für den unter anderem die Gruppen Lifetime und Ignite wichtig waren, sieht das so: „Emocore kommt für mich definitiv aus dem Hardcore und nicht aus dem Punk. Dieser melodische, eher poppige Punk, den es schon immer gab, der lief irgendwie parallel nebenher. Natürlich waren die Leute in der Straight Edge*- und Hardcore-Szenepolitisch eingestellt, nämlich links, aber die Texte waren doch eher selbstbezogen, und es ging da eigentlich nicht um politische Dinge. Und musikalisch war bei den meisten Emo-Bands dieses Oktavreiten sehr prägnant: Man spielt halt eine Oktave auf der Gitarre und dann die Melodie dazu. D ie zweite Gitarre spielt dann Powerchords.“
Diesen Stil haben vor allem Sunny Day Real Estate und Texas Is The Reason später perfektioniert. Es verwundert also nicht, das besonders zwei Alben genannt werden, wenn es um die Großwerke der nun schon etwas populäreren Emo-Welle Mitte der Neunziger geht: DOYOU know WHO YOU ARE ? (Revelation, 1996) von Texas IsThe Reason und DIARY (Sub Pop, 1993) von Sunny Day Real Estate.
Wie sah das eigentlich mit den Klamotten aus? Die meist noch jungen Anhänger
der heutigen, zu einer reinen Modeerscheinung verkommenen Neo-Emo-Bewegung tragen gern Kajal, Krawatten, viel karierten Kram und allgemein möglichst nachtschwarze Kleidung. Doch auch Bewunderer des „richtigen“ Emo konnte man Ende der Neunziger mit viel gutem Willen auch im Dunkeln an ihrem Outfit erkennen: asymmetrische Frisur, die mindestens ein Auge bedeckt, Do-it-yourself-Kartoffeldruck-Umhängetaschen, auch Hornbrillen und lackierte Fingernägel. Just hält die Swing Kids, eigentlich eine durchgedrehte Schrei-Core-Band, für einen wichtigen Auslöser dieser modischen Verirrungen: „Die erste Swing Kids-Single war superwichtig. Der Sänger Justin Pearson, der später bei Thelocust war, hat den Stil kultiviert, in dem jetzt mittlerweile alle rumlaufen: Schwarze Haare, Mod-Style undso. Der hatte auch diese Stern-Tattoos ums Handgelenk. Dennis Lyxzen von Refused undThe International Noise Conspiracy hat ihn dann perfekt kopiert. Und dannging es eigentlich erst los damit, dass manche Leute sich genau so angezogen haben. Ansonsten: schwarze Klamotten, Röhrenjeans, zertretene Chucks, Nietengürtel, das ging dann so 1997 los. Justin Pearson ist echt verantwortlichfür diese ganze Scheiße.“ Im Internet gibt es u.a. den ironischen Kurzfilm „How To Be Emo“ von Christian Bretz, einen Namensgenerator für Emo-Bandnamen und diverse Emo-Hass-Foren- Zeichen dafür, wie das Genre-sei ‚Straight Edge: Als „Straight Edge‘ bezeichnet man seit Anfang der Achtziger Jahre eine eng mit dem Hardcore-Punk verbundene Lebensauffassung, die auf auf jeglichen Konsum von Alkohol, Tabak und selbstverständlich auch allen härteren Drogen verzichtet. Selbst auf sexuelle Promiskuität, Koffein und jeglichen Verzehrvon Tierprodukten (Vegetarismus und Veganismus) wurde in zahlreichen Fällen verzichtet. Wieder einmal war es Ian MacKaye, der 1981 für MinorThreat den Song „Straight Edge“ schrieb und den entscheidenden Anstoß gab. Erkennungssymbol der Straight Edger: Ein großes „X“ auf % dem Handrücken.
es durch den plötzlichen Erfolg von Jimmy Eat World oder den Get Up Kids, sei es durch die Tatsache, dass besonders ab dem Jahr 2000 sehr viele Emo-Bands gleich klangen und bloß verschiedene Bandnamen hatten – langsam zu seinem eigenen Klischee verkommen ist.
Mit dem, was einem heute unter dem Schlagwort Emo so untergejubelt wird, kann Christian Hirr nicht viel anfangen: „Das Panic!-At-The-Disco- Album finde ich zwar toll, aber in die Band an sich stecke ich nicht allzu viel Emotionen rein. Die sind direkt aus dem Proberaum gesignt worden und haben nie irgendein Live-Konzertgespielt, bevor sie diese Platte aufgenommen haben. Mir selbst ist das alles etwas zu oberflächlich geworden, aberich kann es total nachvollziehen, dass Kids heute aufMy Chemical Romance oder Brand New stehen. Gerade My Chemical Romance gehen ja quasi damit hausieren, wie fertig und verzweifelt sie sind. Es gibt momentan 5000 komische, geschminkte Emo-Bands, diesich einfach allegleich anhören. Die sehen alle genauso aus wie die Bands, die ziehen sich genauso an, die stehen wahrscheinlich eine ganze Stunde länger am Schminktisch als so eine Handtaschen-Frau, die auf ein Techno-Event geht. Für mich ist da ganz viel Show dabei und wirklich überhaupt keine Individualität mehr. Klar, ich habe mir damals z.B. auch CIV oder Shelter angeguckt und fand es megaauthentisch und emotional. Aber jetzt im Nachhinein war dieser Hare-Krishna-Kram doch eher fragwürdig. “ Es ist ganz sicher nicht so, dass „Emo“ als Genre vor allem deshalb existiert, weil sich ein Publikum aus Individuen formiert hat, die zwangsläufig großen psychischen Schmerz erfahren haben oder traumatisiert worden sind und „Emo“ eben all das ist, was diese verletzten Seelen anspricht. Nein, man wird „Emo“, indem man sich einer bestimmten Szene zuordnet, auf einem bestimmten Label eine Platte herausbringt, sich in gewisser Weise repräsentiert. Was das Seelenleid angeht, wird aber immerhin umgekehrt ein Schuh draus: Seelisch instabile Menschen fühlen sich durch Emocore wohl eher angezogen als von Anajo oder Peter Maffay. Christian Hirr hält das auch für möglich: „Ich sehe das schon ein bisschen als Auffangbecken. Hardcore hatte für mich damals eine ähnliche Funktion. Mein Fanzine war ja auch eine direkte Reaktion darauf einfach nicht klarzukommen. Beim Emocore habe ich es so erlebt, dass der Leute angezogen hat, die sich viele Gedanken gemacht haben, die etwas bewusster gelebt haben als andere. Die sich mit ihren Problemen bewusstauseinandersetzen wollten. Wenn man selbst schlecht drauf ist, fühlt man sich natürlich geborgen, wenn man sich Leute anhört, die darüber singen, wie beschissen es ihnen geht.“ Die Internet-Seite „Cheer Up Emo Kid“, einstals Anti-Emo-Forum gegründet, hat mittlerweile über 11.000 Mitglieder- viele davon suchen am falschen Platz ernsthafte Hilfe bei ernsthaften Problemen wie Depressionen, Bulimie, Suizidgedanken, Panikattacken oder Autoaggression. Lustig ist das nicht. Wer will entscheiden, ob es den Jugendlichen heute schlechter geht als den Jugendlichen vor 10 Jahren oder ob es einfach nur mehr Bands und Plattformen gibt, die helfen, das eigene Leid zu zelebrieren?
Vielleicht kann ja „Neeiö“, die im harmloseren Forum „Urban Desire“ aktiv ist, abschließend erklären, was Emo ist: „Ich bin IS Jahre und weiblich. Ich find‘ mich hässlich, mein Leben ist scheiße, ich will die Welt verändern, bin für Umweltschutz, hingegen Frauenfeindlichkeit, modische Ideale, Schönheitsideale. (…) Ich hasse HipHop, bin äußerlich ziemlich gut drauf, aber innerlich oft total sauer. (…) Wenn ich allein bin, bin ich immer ziemlich traurig und versinke in Selbstmitleid. Musik höre ich immer der Laune nach, alles verschieden: Bullet For My Valentine, Children ofBodom, Blink 182, My Chemical Romance, In Flames. Ich mag Kunst total. Ich stelle mir manchmal verrückte Outfits her, trage gern Nieten-Armbänder. Ich hasse diese Glitzer-Scheiße auf Klamotten. (…) Meine Freundin bezeichnet mich als Emo. „Auch wenn wir die Wahrheit vielleicht nie erfahren werden: Es besteht die eine Chance, dass dieser heiß diskutierte Begriff wenigstens diesmal nicht die Erfindung eines dämlichen Musikjournalisten war. >» www.fourfa.com >» www.angelfire.com/emo >» www.gTeenhell.de (Mailorder) >» groups.myspace.com/ MYBITTERFAREWELL >» www.youtube.com/ watch?v=JGLv3lELoVI („HowTo Be Emo“ von Christian Bretz) —