Exzessive Freak-Show


The Rolling Stones

Exile On Main Street

Universal

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Eine exzessive Freak-Show. Ein fiebriges Manifest des weißen Blues. Ein bleiches, wahnwitziges Meisterwerk. Jetzt neu aufgelegt.

Der Prä-Digital-Ära entstammt ein ehernes Verdikt: Es gibt kein Doppelalbum, das nicht als Einzel-LP besser gewesen wäre. Heute, da eh viel zu viel Musik veröffentlicht wird und einen die meisten dieser Fantastilliarden von Feld-, Wald- und Wiesen-Kapellen knapp 80 Minuten lang mit ihren Belanglosigkeiten belästigen, gilt immer noch: Was nicht in längstens einer guten Dreiviertelstunde erzählt ist, verdient es nicht, erzählt zu werden. Die Ausnahmen: Bob Dylans BLONDE ON BLONDE. Jimi Hendrix‘ ELECTRIC LADYLAND. The Clashs LONDON CALLING. Und: EXILE ON MAIN STREET von den Rolling Stones, jenes sagenhafte, von mehr Legenden als Atlantis überwucherte, unter abenteuerlichen Umständen entstandene, im Juni 1972 veröffentlichte Machwerk, das bei seinem Erscheinen vor allem einen Reflex auslöste: ungläubiges Kopfschütteln.

Was war in die „greatest rock’n’roll band in the world“ gefahren, die in den dreieinhalb Jahren zuvor Geniestreich auf Geniestreich hatte folgen lassen: BEGGARS BANQUET, LET IT BLEED, STICKY FINGERS. Dazwischen noch GET YER YA YA’S OUT, jener fulminante Mitschnitt eines Konzerts im New Yorker Madison Square Garden und gewiss eine der besten Live-Platten aller Zeiten. Und jetzt das: All das Schneidende, das Souveräne und Stringente von – sagen wir mal – „Jumping Jack Flash“ oder „Brown Sugar“ schien konturlosem Gedudel gewichen, einer seltsamen Unschärfe, einem unerklärlichen Phlegma. Einem straighten Rocker zum Auftakt („Rocks Off“) folgen ein irgendwie hektisch hingeschluderter Uptempo-Track („Rip This Joint“), eine knochenklappernde Voodoo-Version von Slim Harpos „Shake Your Hips“ und ein scheppernder Semi-Blues („Casino Boogie“), ehe mit „Tumbling Dice“, einem waidwund sich dahinschleppenden Bastard aus Country und Blues mit Gospel-Obertönen, erstmals eine memorable Melodie auftaucht. Und ähnlich beiläufig, ungerührt, um nicht zu sagen: schlampig, geht’s weiter: „Got to scrap that shit right off your shoes“, raunt Mick Jagger in „Sweet Virginia“, die Stimme tief im Mix gründelnd, derweil Keith Richards‚ und Mick Taylors Gitarren dengeln, Charlie Watts‘ Schlagzeug hinter Bill Wymans stoischem Bass herholpert und -stolpert, Ian Stewart auf einem verstimmten Saloon-Piano zu klimpern scheint, und sich alles miteinander so dumpf anhört, als musizierten die Beteiligten in einer Gruft. Was indes von der Realität nicht so weit entfernt ist: Die Stones hatten Großbritannien aus Steuergründen den Rücken gekehrt und sich samt Frauen und Freundinnen, Kindern, Kumpels und Kollegen in Richards‘ Villa Nellcôte, einem ehemaligen Nazi-Anwesen an der Côte d’Azur, versammelt, um – die Dealer-Gang immer auf Abruf – eine endlose Party zu feiern und des nächtens bei Lust und Laune hinabzusteigen in die feuchten Katakomben, wo sie an ihren Songs genannten Botschaften aus der Zwielichtzone arbeiteten. Man muss sich das Szenario vermutlich vorstellen wie einen Mix aus schierer Rockstar-Dekadenz, Pasolinis „Die 120 Tage von Sodom“ und jener Art exzessiver Freak-Show, wie sie sich auch im Artwork des Albums widerspiegelt. Aus jeder Ecke lugt hier der Blues hervor, bisweilen zur Fratze verzerrt, mitunter sardonisch, sich zwischendrin als Revoluzzer gebärdend (im der amerikanischen Bürgerrechtlerin Angela Davis zugeeigneten „Sweet Black Angel“), mal – in „Shine A Light“ – von Höherem beseelt, dann wieder von einem fiebrigen New-Orleans-Groove infiziert („I Just Want To See His Face“). Kurz: Alles hier atmet den Geist von Gauklern, Outlaws und Junkies, wirkt zerrissen und ausgefranst, „torn and frayed“ eben.

Doch irgendwann, beim x-ten Hören, passiert das Wunder, verbinden sich all die schrägen Töne, die unfertigen Tunes und die unheiligen Bänkelgesänge, der sündige Gospel und der sumpfige Blues, der fahle Soul und der fahrige Rock, zu dem, was EXILE ON MAIN STREET war, ist und bleiben wird: ein bleiches, wahnwitziges, unantastbares Meisterwerk. Selbiges wird jetzt in mehreren – natürlich remasterten, aber was heißt das hier schon? – Versionen neu aufgelegt: als CD, als Doppel-LP, als Deluxe-Edition und – für ein paar gut angelegte Euro mehr – als limitierte Super-Deluxe-Ausgabe, üppigst ausgestattet mit dem Originalalbum auf CD und Vinyl, dazu eine Bonus-CD mit zehn unveröffentlichten Out- und Alternate-Takes, die dem Hauptwerk indes nichts Wesentliches hinzufügen, ein 64-seitiges Buch sowie eine DVD, die Ausschnitte aus der Dokumentation „Stones In Exile“ und dem legendären Tourfilm „Cocksucker Blues“ enthält. Für einen flüchtigen Moment haben die Stones mit EXILE ON MAIN STREET die pure Essenz all dessen definiert, was Rockmusik vermag – und was wir an ihr lieben. „Just as long as the guitar plays, let it steal your heart away.“

www.rollingstones.com

Über EXILE ON MAIN STREET:

Mick Jagger: „Ich halte die Platte für überbewertet.“

Keith Richards: „Eine herrliche Ansammlung von Irrtümern.“

Hans-Jürgen Günther („Sounds“): „Dieses Werk ist eine Katastrophe, gegen die selbst das Weiße Album der Beatles völlig verblasst.“

Lenny Kaye („Rolling Stone)“: „Das Album präsentiert vier Seiten lang den immer gleichen Song.“

Don Heckman („New York Times“): „Die bislang gelungenste Verschmelzung jener einzigartigen Elemente, aus denen sich der Sound der Stones zusammensetzt.“