Interview

Everything But The Girl im Interview: Narzissmus und Bescheidenheit


Das Duo ist zurück, ohne Reunion-Tamtam und große Gesten, sondern mit einem Album, das dafür steht, wer sie heute sind – graue Haare und Lesebrille inklusive.

Es gibt im Beziehungs- und Arbeitsleben von Tracey Thorn und Ben Watt einen gigantischen Moment. Die beiden hocken 1997 in einem Hotelzimmer in Australien, als das Telefon klingelt und das Management von U2 in der Leitung ist: Ob Thorn und Watt U2 nicht auf der „PopMart Tour“ als Support begleiten wollten? Ben Watt, der den Anruf angenommen hat, ist baff: Was für eine Chance! Tracey Thorn ist auch baff – aber auch müde. Sie sieht vor ihrem geistigen Auge, wie die Sache ablaufen würde, eine Arenatour mit U2, riesige Menschenmengen, lange Wartezeiten, anstrengende Gigs …Und dann sagt sie ihrem Lebensgefährten und Bandpartner, dass sie das lieber nicht machen wolle – „No“. Wow!

Da ist Ben Watt gleich noch einmal baff. Und es ist rückblickend absolut bemerkenswert, dass trotz Tracey Thorns Absage beides überlebt hat, die Beziehung der beiden und auch das Duo Everything But The Girl. Wobei Letzteres eine Pause in der Länge eines Vierteljahrhunderts benötigt hat, um jetzt mit dem Album FUSE zurückzukommen.

Karriere auf Umwegen

Die Karriere von Everything But The Girl verläuft von Beginn an auf einigen Umwegen. In den 80er-Jahren spielen die beiden Jazzpop, der viel zu schüchtern und smart ist, um von Yuppies gehört zu werden, was dem Duo gleich mal die größte Zielgruppe nimmt. Dennoch gelingt ihnen mit dem ersten Album EDEN ein Achtungserfolg in der Indie-Szene. Wer damals die Musik von Carmel oder Aztec Camera hört, kann auch Everything But The Girl etwas abgewinnen.

Als Ende der 80er-Jahre der Zug für größere Erfolge eigentlich schon abgefahren ist, covern Thorn und Watt den Song „I Don’t Want To Talk About It“, den Danny Whitten für Crazy Horse geschrieben hat, bevor Rod Stewart ihn bekannt machte. Die Version von Everything But The Girl wird ein kleiner Hit, doch auf den Schritt nach vorn folgen zwei zurück: Die 90er-Jahre beginnen, und der smoothe Sophisticated-Pop des Duos wirkt nicht mehr edel und elegant, sondern vergilbt, so wie das Cover des Albums THE LANGUAGE OF LIFE, auf dem die beiden plötzlich doch wie die Yuppies aussehen, von denen sie sich mit ihrem Indie-Gestus zu distanzieren versuchten.

Lie Ning im Interview: „Ich habe jetzt erst verstanden, was Musik für mich sein kann“

Schon irre, dass Tracey Thorn und Ben Watt 1994, also keine vier Jahre später, wie Role Models des Zeitgeistes wirken. Auf dem Cover von AMPLIFIED HEART sehen die beiden wie Raver aus, die auf den Balearen aus der Chill-out-Zone geschmissen worden sind, müde und cool. Die Musik des Albums ist dezent elektronisch aufgeladen, der Song „Missing“ sticht heraus – und wird zum Welthit, als Todd Terry einen Club-Mix erstellt. Everything But The Girl legen WALKING WOUNDED nach, die noch elektronischere, perfekte After-Club-Platte, zu der es sich aber auch im Club tanzen lässt. Plötzlich ist die dunkle Stimme von Tracey Thorn überall zu hören, bei Massive Attacks‚ „Protection“ zum Beispiel oder auf Adam Fs Drum’n’Bass-Meisterwerk COLOURS.

Everything But The Girl touren durch die Welt, spielen in Australien, sitzen dort in einem Hotelzimmer, als das Telefon klingelt, sich das U2-Management meldet – und Tracey Thorn einfach mal „nö“ sagt.

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Was danach geschieht: Everything But The Girl nehmen im Autopilot-Modus das Album TEMPERAMENTAL auf, das dennoch gelingt, was vor allem an Watts zu dieser Zeit wahnsinnig gutem Gespür für den Sound der Zeit liegt. Noch bevor die Platte 1999 erscheint, werden Tracey Thorn und Ben Watt Eltern von Zwillingen, 2001 kommt ein drittes Kind auf die Welt, 2009 heiraten die beiden, da sind sie schon seit 28 Jahren zusammen.

Während Ben Watt einen Club eröffnet, schreibt Tracey Thorn sehr gute biografische Bücher. Beide veröffentlichen Soloalben, alles geht seinen ruhigen Gang. Bis das Paar auf die Idee kommt, fast 23 Jahre nach der letzten Show beim Montreux Jazz Festival 2000 die Band wieder neu zu beleben.

Narzissmus trifft Bescheidenheit

FUSE heißt die Platte. Und sie klingt so, wie man das bei einer Reunion erwartet, deren Umstände nicht milder sein könnten: vertraut. Wer die melancholischen Downtempo-Clubtracks der beiden mag, wird hier genauso fündig wie die Fans der akustischeren Jahre. Eine Art Best-of mit neuen Songs? „Hm“, sagt Tracey Thorn, die sich häufiger zu Wort meldet als ihr Mann, „das klingt mir zu sehr nach Rückschau. Eher die Antwort auf die Frage, wie Everything But The Girl im Jahr 2023 klingen sollten.“

Zum Comeback des Duos kam es schleichend, erzählt sie: „Wir hatten einfach mal wieder Lust, gemeinsam Musik zu machen.“ Das sei über die Jahre eingeschlafen, bei den Soloprojekten habe man bewusst mit anderen Kolleg:innen zusammengearbeitet, „wobei dann zu Hause eine Art Ping-Pong-Spiel begann“, wie Tracey Thorn sagt und es wie folgt beschreibt: „Heute lief meine Single bei der BBC“, sagte er so beiläufig wie möglich. „Ich habe Howie B. als Remixer gewonnen“, entgegnete sie, ihn an Beiläufigkeit noch übertreffend. Narzissmus trifft Bescheidenheit!

Jungstötter im Interview: Sternenkunde mit Ensemble

Ganz am Anfang speicherten die beiden die neuen Tracks, an denen sie arbeiteten, unter einem anderen Namen ab. Angst, den Geist von Everything But The Girl zu früh zu wecken? Ben Watt antwortet: „Eine gewisse Vorsicht war geboten, denn es wäre ja schade gewesen, die Lust am Projekt dadurch zu gefährden, es mit einer zu großen Bedeutung aufzuladen.“

Interessant beim Hören ist, dass die Jahre, die vergangen sind, sich in den Songs wiederfinden. „Wir wollten nicht wie früher klingen, sondern so, wie wir jetzt sind“, sagt Tracey Thorn, deren Gesangsstimme im Alter an Tiefe gewonnen hat.

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Dass es musikalisch zwei Sorten von Songs gibt, hatten wir bereits festgestellt: die clubtauglichen und die schwebend-akustischeren. Aber auch textlich gibt es zwei Typen. Schreibt Tracey Thorn die Lyrics, geht es um das Innenleben eines Menschen, nicht selten beschreibt sie dabei ihre eigenen Gefühle, „denn die kenne ich am besten, und es ist klug, über das zu schreiben, was man kennt“.

Neue Altersmilde

„When You Mess Up“ heißt einer dieser Tracks, er handelt von den Gefühlswallungen, die eine Frau erlebt, die gerade 60 Jahre alt geworden ist. „Die Menopause ist hormonell bedingt ein Einschnitt ins Leben, den ich so heftig erlebe wie damals die Pubertät“, sagt sie. Das Stück handele davon, gnädiger mit sich selbst umzugehen – gerade dann, wenn man offensichtlich Mist gesagt oder gemacht hat: „Don’t be so hard on yourself / For God’s sake have a cigarette / And don’t stop to laugh at yourself / Have another cigarette.“ Kurz habe sie geglaubt, im Alter gehe man milder mit sich und anderen Menschen um. „Bei anderen Menschen passt das. Aber auf mich selbst schaue ich manchmal deutlich strenger. Was ich ändern will.“

Die Lieder mit Texten von Ben Watt beschreiben dagegen häufig sehr konkrete Geschehnisse. „No One Knows We’re Dancing“ zum Bespiel handelt von den sonntäglichen Club-Events, die er in London geschmissen hat. „Während draußen die Familien zum Sonntagsdinner gingen oder in den Parks abhingen, tanzten bei uns im dunklen Laden Leute aus verschiedenen Nationen. Es war ein seltsamer Zwischenort, der Song ist eine Hommage und eine Erinnerung daran.“

ME-Helden: Metallica ist die Band der Außenseiter und Freaks

Von einem authentischen Erlebnis berichtet auch „Karaoke“: Watt war vor einigen Jahren in San Francisco, als er zum ersten Mal in seinem Leben eine Karaoke-Bar betrat, „auch dies war ein Zwischenort, weil hier für einen Abend Stars geboren werden, die nur im Kontext dieser einen Nacht in dieser einen Bar funktionieren.“

Im Song geht es um eine junge Frau, die „Spotlight“ von Jennifer Hudson singt und die Leute in der Bar dazu bringt, auf die Knie zu gehen. „Diese unschuldige Art der Begeisterung hat mir imponiert“, sagt Ben Watt. „Sie fand in einem der kommerziellsten Orte überhaupt statt, einer Karaoke-Bar, hatte aber selbst nichts mit Kommerz zu tun, sondern einfach nur mit der Liebe zu einem Song und der Gabe, diesen zu performen.“

Vielleicht trifft diese Story den Punkt, um den es bei Everything But The Girl schon immer gegangen ist und um den es auch jetzt, bei ihrer Rückkehr, geht: Mitten im Kommerz eine Art von Pop zu spielen, der erfolgreich ist, sich aber dennoch so gut es geht dem Kommerz und seinem Mechanismus entzieht. Und wenn’s doch mal zu viel wird? Dann sagt mal halt einfach: Nö.

Spotify Placeholder
An dieser Stelle findest du Inhalte aus Spotify
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Dieser Text erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 05/2023. Hier bestellen.