Popkolumne, Folge 206

„Es wird dann später noch besser“: Warum Cineasten und Streaming-Empfehlungen am Ende sind


„Es ist einfach zu schwierig, einzusehen, dass Leute unterschiedliche Sachen mögen“: Paulas Popkolumne um das Gewese um Filme und Serien, den Tod von Cineasten und zerbrochene Freundschaften.

Disclaimer: Weil ein paar Leute im Internet über meine letzte Kolumne rumgeschimpft haben, jaaa, es ist wahr, auch ich neige hin und wieder zu Polemik und Verkürzungen, aber…, ganz im Ernst, ihr wollt nicht die Langfassung. Allein das Wort „Popkolumne“ weist quasi doppelt darauf hin, dass einen hier nicht Einleitung, Hauptteil oder Schluss erwartet, ich heiß’ doch nicht Jens Balzer (liebe Grüße). Popkolumne bedeutet, wir machen hier Blitze wie Paparazzi, nicht mehr und nicht weniger.

Zwischen Wordle, Women’s Rights, War und Wrapped: Paulas Endjahrespopkolumne aus New York

Der Disclaimer ist auch deshalb wichtig, weil es hier und heute um ein Phänomen geht, das besonders viele Kulturmänner anfasst. Es geht um Cineasten. Die Wahrheit ist: Sie sind tot, umgenietet, im Fratzengeballer weggelötet, per Front-Kick auf den Mars verschickt worden. Sie bedeuten nichts mehr, niemand hört mehr auf sie, Rest in peace, Cineasten, es war schön mit euch. Also „schön“. Aber es ist jetzt so, dass wir alle nun alle Filme kennen und bewerten und da wir das schon ein paar Jahre tun, alle mittlerweile auch Ahnung haben und Referenzen kennen. Die Cineasten werden natürlich trotzdem weiter aus dem Jenseits (z.B. Facebook) versuchen, uns beliebte Filme madig zu machen, werden uns erklären, warum Marvelfilme unoriginell sind und dass es das alles schon damals bei Schießmichtot gegeben hat, was wir selbst schon wissen und kennen, werden damit angeben, dass nur sie die interessante Machart dieses eines Indie-Films zu schätzen wissen, den wir alle bereits im Programmkino um die Ecke gesehen haben, weil wir schon vor Monaten durch Internetmemes auf ihn aufmerksam gemacht worden sind und so weiter.

Angucktipps bekommen wir jetzt jedenfalls woanders her als von den Cineasten und ihren Feuilletons, nämlich von dir, dir, dir und dir und deinen Eltern und den anderen komischen Leuten, die du gerade angeschleppt hast. Plus dann nochmal online vom ganzen Rest der Menschheit. Ob das jetzt sooo viel besser ist, weiß ich noch nicht. Film- und Serientipps haben aber längst Wetter, Beruf und Linksterrorismus als DIE Smalltalk-Themen abgelöst, es ist nicht mehr wichtig, wer du bist, sondern was du siehst. Kurze Pause für eure Screenshots von diesem Quatsch.

Weiter: Ihr erinnert euch bestimmt noch an die Zeit, die Weihnachten genannt wird… Ihr saßt mit Leuten zusammen oder wart allein, habt Weihnachten gefeiert oder nicht, aber ihr musstet einen Film oder eine Serie gucken, weil ihr frei hattet oder nach der Arbeit, ihr musstet euch was angucken, so verlangte es das Gesetz. Ihr hattet dann die Qual der Wahl: Welche der sechzig Streamingservices benutzen? Wieviele kann man sich überhaupt noch leisten? Vielleicht habt ihr nur noch einen übrig, dann ist es ganz „leicht“ mit der Auswahl. „Glass Onion“ sollte man gucken, sagten die Charts, sagten die Freunde. Doch dann haben serienmäßig wiederum alle „White Lotus“ empfohlen, also brauchtet ihr doch wieder Prime. Dann liebten alle „Aftersun“ und ihr musstet ins Kino rammeln. Das sind Probleme. Mit den Empfehlungen ist es also so eine Sache. Ich muss sie nicht unbedingt haben, viele mögen sie aber. Teilweise fragen Leute sogar nach Tipps, als hätten sie nicht ewig lange Angucklisten, genau wie hohe Bücherstapel.

Wir leben in einem regelrechten Empfehlungsüberfluss

Mutti hat früher immer gesagt, etwas sei gut besprochen (Zeitung) und daraufhin gehandelt. Heute haben wir Algorithmen und Empfehlungen. Oder ist beides das gleiche? Sind unsere Freunde auch schon durchalgorithmisiert? Oh Gott, oh Gott! Bei mir ist es so, dass ich mir natürlich alle Empfehlungen aus allen Richtungen anhöre – man kommt ja auch nicht um sie herum – aber selbst nach Anguckbarem gucke und mich dann erinnere: Ach ja, das fand ja irgendjemand anderes auch gut, auf geht’s! Andersrum empfehle ich natürlich saugern! Das Problem ist aber, dass der Empfehlungsmarkt völlig übersättigt ist. Viele Leute reagieren so wie ich: Aha, eine neue Empfehlung, Durchzug, zum einen Ohr rein, zum anderen wieder raus. Zu viele Leute haben zu viele Empfehlungen im Gepäck, wir haben eine Gesellschaft, in der die Leute randvoll sind mit Empfehlungen, wir leben in einem regelrechten Empfehlungsüberfluss. Die einen sind lieb und legen sich sogar Listen an, leben im völligen Empfehlungsnotizenmüll, anderen schwirren die Empfehlungen im Kopf herum, ihnen wird deshalb ständig schlecht und schwindelig.

Deshalb muss man sich was einfallen lassen. Man kann nicht einfach nur was empfehlen, haha! Ich zum Beispiel habe einen langen Ledermantel und Empfehlungen, die in diesem hängen. Damit gehe ich dann zu jungen, hippen Leuten vor angesagten Technoclubs und flüstere ihnen „Walking Dead“ oder sowas zu. Manchmal tröte ich aber auch ein Airhorn oder verschütte großzügig Glitzer, damit die Leute sich an meine Empfehlung erinnern. Manchmal manifestiere ich Personen via stundenlangem Flüstern im Schlaf o.Ä. Kürzlich wollte ich, dass meine Freunde „Die Schwimmerinnen“ sehen, den besten Film des letzten Jahres, ja so sagt man das, man kann nicht sagen, es war der beste Film den ich gesehen habe, es muss ein objektiver Chartsgewinner sein. DER BESTE FILM 2022. Oder gar EINER DER BESTEN FILME ALLER ZEITEN. Ich kann doch nicht rausgehen und sagen: Guckt „Die Schwimmerinnen“, der ist gut! So blöd ist doch niemand. Die Leute haben ihre Listen, ob nun tatsächlich oder im Kopf. Und irgendwie muss ich meine Empfehlung da ganz weit oben hinkriegen. Meine erfolgreichsten Tricks kann ich aus diesem Grund hier auch nicht verraten.

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Wenn man sich auf die Empfehlungskiste eingelassen hat, kommt jedoch die nächste Herausforderung: Manchmal finden Leute etwas nicht so gut wie man selbst und andersrum. „Succession“, „Severance“, wieso wollt ihr, dass ich mich langweile? Dann sagen Leute, man solle durchhalten, ab Folge fünf würde es besser, gleich kommt’s, pass auf, jetzt!!! Teilweise zweifelt man an Freundschaften, wie kann das sein, wie kann die Person einem sowas empfehlen, dieses kranke Schwein? Oder wie kann sie es nicht genau so herzig finden wie ich, ist sie heimlich Faschist? Es wird dann gestritten, es wird gecancelt, es wird geweint. Anguckempfehlungen haben längst ihre Unschuld verloren… Ich will nichts schwarz malen, aber da radikalisiert sich gerade eine ganze Generation. Es ist einfach zu schwierig, einzusehen, dass Leute unterschiedliche Sachen mögen. Da stehen wir als Gesellschaft vor einer riesigen Herausforderung… Tschö.

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