Emanzipationsangebot
Wer gut gekleidet ist, entscheidet Jan Joswig. Heute vor dem Stilgericht: ADELE
Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert. Adele wäre auch unter den Barockdamen auf einem Dove-Werbeplakat die Vollschlanke Nr. 1. Doch sie geniert sich nicht. Schon bei Alison Moyet von Yazoo beschwichtigte man die Fingerzeige auf ihre Korpulenz: Irgendwo muss der Stimmenumfang ja herkommen. Die Unmöglichkeit, sich ins Idealmaß zu pressen, nutzt Adele als Freiheit aus. Sie kennt ihre Stärken (die Musikwelt hat sie ihr bestätigt), warum sollte sie sich bei ihren Schwächen Zwang antun, warum sich nicht aufs Glatteis des Experimentierens begeben? Wenn sie also niemals zur Jennifer Lopez werden könnte, warum dann nicht gleich zur Janis Joplin? Adele nutzt ihren Star-Status, um unbefangen die Körperpolitiken von den 50ern zu den 60ern durchzuspielen, von Petula Clark und ihrer Hochsteckfrisur zu Janis Joplin und ihren Filzhaaren. Wie war das noch mal mit dem Emanzipationsangebot „liederliche Vogelscheuche“?
Bei einem Barbiepüppchen mit Modelmaßen würde das Spiel mit einer hässlichen Zottelfrisur nur kokett wirken, es wäre eitle Komödie. Aber bei einer Frau, die im Zweifelsfall (außer in England, wo weiße Speckrollen zum Nationalstolz gehören) damit ringen muss, nicht als schön zu gelten, wird solch eine Geste zur Kampfansage. Selten wirkt sie so souverän hingeworfen wie bei Adele. Eine bekennende Dicke wie Beth Ditto, die bei jedem Auftritt genüsslich eine Netzstrumpfhose zwischen ihren Oberschenkeln zerreibt, weiß die Lesbenkultur mit ihren Stilangeboten solidarisch hinter sich. Aber Adele steht mit ihrer musikalischen Identität, die durchaus Petula Clark beerben könnte, allein im grausamen Mainstream, der seine (weiblichen) Stars perfekt haben will. Skandale, ja, aber perfekte Skandale. Zugekokst und durchgesoffen, ja, aber mit lackierten Fingernägeln und in Bikinifigur. Dass Adele sich zu dieser Frisur seelische Unterstützung bei ihrem Schlüsselanhänger-Plüschtier und einer Louis-Vuitton-Clutch holt, macht die menschliche Größe ihres Schrittes erst fassbar.
Wenn J.Lo, die „Schönste Frau der Welt 2011“, in deren Videos ihr Arsch öfter als ihr Gesicht in Großaufnahme zu sehen ist, die gleiche Charakterstärke und den gleichen unabhängigen Witz zeigen wollte wie Adele mit dieser Janis-Joplin-Frisur, bliebe ihr nur eins: Sie müsste sich schon Augen auf die Arschbacken tätowieren lassen.
Jan Joswig ist studierter Kunstgeschichtler, wuchs in einer chemischen Reinigung auf, fuhr mit Bowie-Hosen Skateboard und arbeitet als freier Journalist für Mode, Musik und Alltag. Was LL Cool J in den Achtzigern die Kangolmütze bedeutete, ist ihm der Anglerhut.