Einstürzende Neubauten


Der Lärm der Großstadt ist Bestandteil Ihrer Musik, doch im scheinbaren Krach blüht Kreativität. ME/Sounds-Mitarbeiter Steve Lake traf Blixa Bargeld, den Sänger und Kopf von Deutschlands krassester und kontroversester Band.

Er trägt sein unvermeidliches Berliner Schwarz mit Dandy-mäßiger Unbekümmertheit, seidener Weste, hochgeknöpftem Hemd und superengen Röhrenhosen, kein Stäubchen auf den Cowboystiefeln. Das hohlwangige Gesicht wird von einer sorgfältig zerzausten Albert-Einstein-Frisur gekrönt. Aber die Augen sind klar, trotz der Exzess-Gerüchte, die in der Musikwelt über ihn kursieren. Und er hat viel zu tun. So soll es auch sein. „Ich gerate bloß in Schwierigkeilen, wenn ich zuviel Zeit habe“, gesteht er. Es gilt, das neue Album HAUS DER LÜGE zu promoten und ein Video zu drehen. Derzeit befindet sich die Band auf Tour durch den deutschen Sprachraum. Unmittelbar danach macht sich Blixa auf den Weg nach Brasilien, um dort Aufnahmen mit Nick Caves Bad Seeds zu machen, dann folgt eine Neubauten-Tour durch Südamerika, im Anschluß daran Live-Auftritte mit Cave in Europa. Danach wird er die Hauptrolle in Heiner Müllers Theaterstück „Hamlet Maschine“ spielen.

Nicht schlecht, könnte man sagen, für einen Mann, der nicht Gitarre spielt.

„Vor kurzem habe ich mir FROM HER TO ETERNITY wieder angehört, das erste Album, das Nick und ich gemacht haben. Und von der ersten Note an wird deutlich, daß ich nicht vorhatte, Gitarre zu spielen. Ich machte alles, was man mit einer Gitarre machen kann, wenn man sie nicht spielen will. Dieser Ansatz zieht sich durch die gesamte Geschichte der Neubauten. Im Laufe der Zeit ist daraus ein System von Anti-Techniken geworden, das ich ständig weiterentwickle.“

Einstürzende Neubauten pflegen in Interviews gerne musikalische Unwissenheit zur Schau zu stellen, aber diese provozierenden Äußerungen sollte man nicht für bare Münze nehmen. Da waren die akademischen Feuilleton-Kritiker, die sich im Hamburger Schauspielhaus zur Premiere von Peter Zadeks Stück „Andi“ versammelten, schon eher auf der richtigen Fährte, als sie die rohen Soundcollagen der Neubauten mit der Arbeit „seriöser“ Komponisten wie Stockhausen, Varese oder John Cage verglichen.

Die Neubauten machen neue Musik – sozusagen bei offenem Fenster: Alle Facetten der modernen Klanglandschaft werden ins Programm aufgenommen, nicht nur das Krachen der Abbruchkugel auf den „Einstürzenden Neubauten“, auch wenn der Name damals, 1981, Manifest war.

Auf HAUS DER LÜGE hören wir bayrische Bienenschwärme und Berliner Straßenkämpfe, und diese Klänge sind ebenso Teil der Musik wie die Gitarren von Blixa und Alexander Hacke, der Baß von Mark Chung, die Percussion und Live-Elektronik von F. M. Einheit und N. U. Unruh. Instrumente und Geräuschaufnahmen helfen, die dunklen Erzählungen, die Bargeld aus den Winkeln seiner Phantasie herauszerrt, ein wenig zu erhellen, aber völlige Aufklärung wird weder erreicht noch angestrebt. „Ich weigere mich, Texte zu erklären, das nimmt ihnen ihren Zauber.“

Besonders live sind Neubauten ein Rundum-Erlebnis, in dem Zuhörer/Zuschauer und Akteure sich verlieren können. „Die besten Momente für mich sind die, in denen ich die Kontrolle verliere. Es ist vorgekommen, daß ich auf der Bühne zu mir kam und nicht wußte, wo ich bin. Ich möchte, dali ein Auftritt mich verändert, möchte fühlen, daß ich ein anderer Mensch bin als vor einer Stunde.“

In ihren Anfangstagen fochten die Neubauten einen einsamen Kampf in den Randbezirken der „Neuen Deutschen Welle“, aber seit „der Invasion der Australier in Berlin“* ist die Gruppe Bestandteil eines Band-Kollektivs geworden. Neubauten, Bad Seeds und Crime & The City Solution arbeiten in verschiedenen Projekten zusammen.

Bargeld hat nichts dagegen, 45 Prozent des Jahres ein Bad Seed zu sein, solange er 50 Prozent Neubauten haben kann. „Die Neubauten haben immernoch Priorität. Wir werden besser, immer noch.“