Drückeberger: den letzten Pop-Sendungen im TV wird das Licht ausgeknipst


Der Druck kommt von oben. Ein Blick auf die mageren Einschaltquoten hat die Programmgewaltigen überzeugt: Musiksendungen sind Minderheitenprogramme. Und die haben In der Zelt der großen Quotenregelung im Fernsehen nichts verloren. Ob "Formel 1" oder "Tele 5" - dem ohnehin schon kränkelnden Patienten Pop wird endgültig der Garaus gemacht. ME/Sounds-Mitarbeiter Robert Lyng hält den Nachruf.

Man muß kein Wahrsager sein, um zu konstatieren, daß die Zukunft der Popmusik im Fernsehen zunehmend düsterer wird. Ob bei den öffentlich-rechtlichen Sendern oder bei den früher so verheißungsvollen Privaten: Sendeplätze für Pop und Rock lösen sich wie eine Fata Morgana in Luft auf. Es sind nicht nur die reinen Musikprogramme wie „Formel 1“ oder „Music News“, die dran glauben müssen, sondern auch die ohnehin schon raren Musik-Blöcke in den samstäglichen Game-Shows wie „Nase Vorn“ oder „Wetten daß …“

Keine Kristallkueel ist erforderlich, um zu bestätigen, daß ZDF-Unterhaltungs-Chef Wolfgang Penk recht hatte, als er vor einem Jahr prophezeite: „Die Medienlandschaft verändert sich. Die Anzahl der Programme steigt, Satelliten ziehen die Welt zusammen. Das heißt, daß sich die Programmstruktur bei denjenigen Sendern, die seit Jahrzehnten ein Monopol besetzen, bis 1992 radikal ändern wird. Ein Opfer dieser Änderungen werden unter anderm auch die abendfüllenden Musik- und Game-Shows sein.“

Schon vor einem Jahr war Penk bereit, die Abdeckung der Pop-Szene den Privatsendern zu überlassen. „Sicher, da wir als öffentlich-rechtlicher Sender einen Kulturauftrag haben, können wir die Musik nicht ignorieren“, gab er damals zu. „Es wird immer Musik-Sendungen im Fernsehen geben. Trotzdem werden diese Elemente immer seltener. Dafür gibt es inzwischen ja Sender wie Tele 5 oder MTV, die Popmusik den ganzen Tag spielen und in diesem Bereich bereits einen guten Marktanteil erzielt haben.“

Was die Öffentlich-Rechtlichen angeht, erwies sich Penk als Prophet. Im Falle der Privaten aber lag – nicht nur – er mit seiner Einschätzung völlig daneben. Abgeschreckt durch verheerende Einschaltquoten, beginnt nämlich auch dort das große Pop-Sterben.

Einschaltquoten, von der GfK in Nürnberg ermittelt, sind gerade für die Privaten letztlich der Maßstab für Erfolg oder Flop. Die Formel ist – theoretisch zumindest – denkbar einfach: Je mehr Zuschauer, desto mehr Werbezeit, desto teurer die Preise. Konsequenz: Schalten zu wenig Zuschauer ein, wird die Sendung nicht lange überleben. Daß diese Faustregel aber nicht nur für die „kommerziellen“, sondern auch für die öffentlich-rechtlichen Sender gilt, ist nicht mehr zu übersehen: Während volkstümliche Musiksendungen mit Einschaltquoten um 40 Prozent (d.h. über 10 Millionen Zuschauer) ihre Position noch weiter ausbauen konnten, laborieren Pop-Programme an Ratings, die allenfalls zwischen drei und sechs Prozent pendeln.

Ausnahmen bestätigen die Regel: 1989 gelang es Peter Illmann mit einer Ausgabe der ZDF-Sendung „P.I.T.“, 15 Prozent des deutschen TV-Publikums zu gewinnen. Das aber wohl auch nur, weil in dieser Sendung ausschließlich deutsche Künstler vorgestellt wurden. Eher typisch ist da das Schicksal von „Formel 1“, die das Jahresende nicht überleben wird. „Die Einschaltquoten von Formel 1“, meint WDR-Redakteur Axel Beyer, „waren in der letzten Zeit für uns alle einfach nicht mehr so zufriedenstellend, daß es uns geboten scheint, die Sendung fortzusetzen.“

Nach vielen vergeblichen Versuchen, mit Reisetips. Home-Storys und thematischen Schwerpunkten die jugendlichen Zuschauer zurückzugewinnen, ist es jetzt nun so weit: Mit meist unter fünf Prozent Ratings steht Deutschlands erste Videoclip-Hitparade hilflos vor dem Henker.

Für viele Insider kein Wunder, denn der neue Sendeplatz am frühen Samstagnachmittag war für die Einschaltquote nicht gerade förderlich. Beyer ist anderer Meinung: „Die Diskussion über den Sendeplatz gibt es schon lange. Es gibt nur gute Sendungen, nicht aber den guten Sendeplatz. Eine Hitparade der Popmusik ist, besonders wenn sie sich auf ausländische Popmusik konzentriert, ein Minderheitenprogramm. Die Frage ist eigentlich nur, ob ich es mir zu einer anderen Sendezeit leisten kann, ein Programm anzubieten, das selbst bei einem relativen Erfolg nicht mehr als eine einstellige Prozentzahl vorweisen kann.“

Auch Ingo Schmoll von RTL, der seit zwei Jahren für die Sendung „Raggazzi“ verantwortlich ist, kommt angesichts dieser Frage ins Grübeln. Mit „unheimlich schwankenden Einschaltquoten zwischen 300000 und 500000“ wird „Raggazzi“ 1991 ein neuer Sendeplatz zugeteilt – Sonntag Morgen. Obwohl er eingesteht, daß er mit seinem Konzept bei RTL nicht gerade offene Türen einrennt, bleibt Schmoll optimistisch: „Ich habe wenig Ahnung von den Quoten. Ich bekomme zwar mit. wie viele Leute zugeschaut haben, habe mich aber mit den Prozenten nie so recht auseinandergesetzt. Ich mache Programm – egal ob nun 10000 oder nur 15 Leute zuschauen.“

Nichtsdestotrotz existiert ein Konzept für eine bessere Zukunft von „Ragazzi“ – oder einer neuen Sendung: mit viel Musik, mit noch besser produzierten Portraits über Musiker und mit mehr Chancen auch für Newcomer. „Dm Konzept sieht vor, Clips mit Newcomern zu drehen. Wir gehen irgendwo live mit ihnen hin, denn es ist ungeheuer wichtig, daß sie live rüberkommen. Diese Aufzeichnungen stellen wir den Bands wahrscheinlich auch zur Verfügung – aber nicht gegen Geld, wie es andere Sender tun, da diese Newcomer ohnehin nicht über die finanziellen Mittel verfügen.“ Ein nicht allzu großes Opfer, wenn man den l989er Etat aus Werbeeinnahmen von 294 Millionen Mark bedenkt.

Etwas anders sieht Jörg Hoppe, der für TELE 5 die Sendung „TOP 100“ produziert, das Problem der Ratings. Für ihn ist es von vornherein klar, daß man mit Pop normalerweise keine guten Ratings schaffen kann. „Immerhin erreichte die Sendung ,P.O.P‘ bis zu 200000 Zuschauer -Spitzenrating für TELE 5.“ Kein Wunder also, daß „P.O.P“ die einzige Musiksendung ist. die das neue Jahr überleben wird. Der voraussichtliche neue TELE 5-Geschäftsführer Rick Spinner hat nach Hoppes Ansicht seine eigenen Vorstellungen: „Nur Rating-Programme und Schluß. Drei Game-Shows hintereinander und Spielfilme. Da paßt Musik einfach nicht mehr rein.“

Irritierend ist für Hoppe trotzdem die radikale Abkehr vom bisherigen Konzept: Sendungen wie „Hard ’n Heavy“, „Tanzhouse“, „Yesterday“ und „Off Beat“ haben dazu beigetragen, daß – auf der Basis des bisherigen Etats – 50 Prozent der gesamten Werbeeinahmen aus der Musikindustrie kamen. 1989 betrug dieser Gesamt-Etat immerhin 26 Millionen Mark. „Schau dir die Werbung an – ein Spot für Schallplatten nach dem anderen. Die Plattenindustrie hat das schließlich gemacht, weil es für sie einen Sinn ergab. Es gab bei diesen Sendungen nicht die sonst unvermeidliche Streuung: Die Leute, die man erreichen wollte, saßen auch wirklich vor dem Bildschirm.“

Die Ratings-Frage sieht Hoppe folglich auch differenzierter. Da die GfK für TELE 5 nur die Kabelanschlüsse erfaßt, bleiben Gegenden, in denen TELE 5 terrestrisch empfangen wird, bei der Bestimmung der Zuschauerquoten außen vor. Gerade in diesen Gegenden, wie etwa München, gibt es für den Nicht-Kabel-Haushalt nicht die Programmvielfalt des Kabels. Das Ratings-Bild wird dadurch ziemlich verzerrt.“ Der Marktanteil von TELE 5 in Kabel-Haushalten (der im zweiten Quartal 1990 2,9 Prozent betrug) wird in diesen Regionen natürlich übertroffen. Wie viele der Zuschauer dort aber tatsächlich Musiksendungen konsumieren, kann von der GfK nicht eruiert werden.

Auch wenn die Mehrzahl der Musikprogramme 1991 gestrichen wird, will TELE 5 möglichst das redaktionelle Umfeld behalten, um die Werbeeinnahmen aus der Plattenindustrie zumindest für die nähere Zukunft zu sichern. Das aber geht nur, wenn sich die Minderheitenprogramme finanziell selbst tragen. Anders gesagt: Ohne Sponsoren läuft nichts. „Ich weiß nicht, ob ich das hinkriege. Ich habe versucht, die Musikindustrie in irgendeiner Weise einzubinden. Aber die Plattenfirmen haben verständlicherweise Angst davor, in Zukunft fiir einen Sendeplatz bezahlen zu müssen. Sie können sich an diese Idee noch nicht richtig gewöhnen.“ Fast anachronistisch – in den USA sind solche „gekauften“ Shows schon lange die Regel. Trotzdem: Vielleicht liegt die Zukunft von Nischen-Sendungen wie Musikprogrammen in solchen Sponsorships.

Hoffentlich treten dann nicht ähnliche Probleme auf. wie sie SAT 1 mit der Sendung „Music-News“ erlebte. Deren Zukunft ist jedenfalls momentan heftig umstritten. Ob mit oder ohne den berühmt-berüchtigten Alan Bangs (dessen redaktionelle Ansprüche die Geduld der Sponsoren manchmal überschritten), ob die Sendung überhaupt fortgeführt wird – alles ist zur Zeit in der Schwebe.

Recht kritisch sieht Wolfram Brackhahn, Produzent von „Full House“ beim NDR, die Rolle der Plattenindustrie in Hinsicht auf Musiksendungen im Fernsehen. „Es ist unglaublich schwer, überhaupt einen Top-Act zu buchen. Zum Teil, weil der Künstler befürchtet, daß wir nicht professionell arbeiten. Die Plattenfirmen versprechen einem alles, ohne den Musiker auch nur zu informieren. Sie scheinen nicht zu begreifen, daß wir letztlich im selben Boot sitzen. Ich glaube, sie interessiert mehr das Geld als das Produkt.“

Sehr publikumsorientiert sieht Axel Beyer vom WDR die Frage der Zuschauerbeteiligung für Sendungen wie „Ohne Filter“ und (die mit dem Hessischen Rundfunk koproduzierten) „Rocklife“. „Wir haben bei ,Ohne Filter‘ ungefähr zwei bis drei Prozent Sehbeteiligung, aber das ist kein Problem. Die Sendung läuft zu später Nachtzeit, daher ist diese Quote auch völlig okay. Die Leute, die sich für diese Art Musik interessieren, bleiben entweder auf oder zeichnen die Sendung auf.“ Folglich ist es auch nicht erstaunlich, daß „Ohne Filter“ und „Rocklife“ über den Jahreswechsel hinaus fortgeführt werden. Allerdings sieht Beyer diese Sendungen letztlich eher im Dritten Programm als im ARD-Gemeinschaftsprogramm. Für die Zukunft sagt Beyer denn auch keine Neuauflage einer Hitparaden-Sendung a la“.Formel 1″ in der ARD voraus. „Es wird Popmusik nur noch als Musikbeiträge in anderen Sendungen geben.“

Trotz Rekordumsatzen auf dem Tonträgermarkt: Junge Leute scheinen andere Arten der Unterhaltung zu bevorzugen. So ergab die letzte Umfrage der Zeitschrift „Stern“ unter Jugendlichen zu dem Thema, wofür sie einen unbegrenzten Betrag von Geld ausgeben würden, daß der Plattenkauf erst an sechster Stelle steht – nur noch vom Bücherkauf unterboten. Es ist auch nicht zu erwarten, daß sich künftig mehr als jene zehn Prozent der Bevölkerung, die zwei Drittel des Tonträgerumsatzes von 3,1 Milliarden DM betätigen, für Musiksendungen im Fernsehen begeistern.

Überhaupt, so Beyer, sehen die Jugendlichen weniger Fernsehen. Für diese Theorie spricht, daß alle Sender, die bisher mit einem Musik-Angebot antraten, inzwischen angefangen haben, ihre Programmstruktur umzustellen, weil sie mit dieser Zielgruppe allein nicht den gewünschten Erfolg erreichten.

Da die Abkehr vom ursprünglichen Musik-Konzept bei TELE 5 endgültig zu sein scheint, bleibt als klassischer Musikkanal nur noch MTV. Doch selbst hier werden künftig andere Programmstrukturen ins Auge gefaßt. Angesichts fehlender Alternativen plant die Plattenindustrie trotzdem eine noch stärkere Anbindung an diesen Kanal. So sieht Lothar Meüiertzhagen, Geschäftsführer der Electrola in Köln, für die Zukunft eher ein stärkeres Engagement bei diesem Sender. Auch andere ehemals TELE 5-Engagierte wie die Ladenkette „WOM“ streben für die Zukunft eine intensivere Kooperation mit MTV an. Und das, obwohl MTV bislang nur in einigen Kabel-Oasen überhaupt eine Rolle spielt. Entscheidend ist hier eben das gute Image. Opfer dieses Trends könnten ironischerweise die nationalen Künstler werden, die bei der Planung der Werbe-Etats für einen internationalen Sender wie MTV mit höchster Wahrscheinlichkeit eine eher untergeordnete Rolle spielen.

Auch bei der Planung des neuen Pay-TV-Senders „Premiere“, der im Februar ’91 auf Sendung geht, spielen Musiksendungen nicht gerade die Hauptrolle. Laut Pressesprecher Volker Schnurrbusch ist zwar eine (selbstverständlich auch Nicht-Abonnenten zugängliche) Musiksendung vorgesehen – Sendezeit, Konzept und Gestaltung der Show stehen aber noch nicht fest.

Fazit: Es ist zweifellos zutreffend, das Aussterben der Musiksendungen im Fernsehen zu konstatieren. Nicht zu übersehen ist dabei allerdings, daß sich so manche Konzepte ehemals erfolgreicher Sendungen einfach überlebt haben. Neue Besen sind gefragt. Ob sie in Zukunft allerdings besser kehren – das steht in den Sternen. Ohne ein verstärktes Engagement der Musikindustrie, ohne gesteigerte Kreativität der Programmacher werden Musikliebhaber wohl noch lange am Hungertuch nagen.