DON’T STEP ON MY GLITZER-PUMPS


Seit der ersten Popularitätswelle von Disco Mitte der 70er-Jahre schallt es aus der Rock-Fraktion: Warum ist Disco nicht totzukriegen? Diese Frage können nur Menschen stellen, die ideologische Bretter vor dem Kopf und Petersilie in den Ohren haben. Warum ist die Kritik an Disco nicht totzukriegen? – so wird ein Schuh aus der Frage.

Disco liefere den Soundtrack für die Schönen und Reichen, Disco sei eskapistisch, konsumistisch und unkritisch, lautet seit Jahrzehnten der gängige Vorwurf. Dieser Diskurs ist so muffig wie die Rockmusik, die er zu idealisieren versucht. Mit der gleichen Argumentation könnte man behaupten, Rock böte nichts anderes als die Ertüchtigungsmusik für kommende Ellenbogen-Karrieristen.

Die Siebziger trumpften mit drei großen musikalischen Befreiungsschlägen auf: Glamrock für die Grundschüler, Punk für die weißen Wutjungs, Disco für die Frauen, Farbigen und Schwulen. (Und eine Geißel ließen die Siebziger aus dem Sack: Prog Rock für die Öko-Spießer.) Rein rechnerisch ergibt das: Unter der Disco-Flagge sammelt sich die größte und vielfältigste Gruppe der Marginalisierten. 3:1 gegenüber Punk. Warum man Rock und dessen nihilistische Zuspitzung Punk dennoch für so viel wertvoller hält, liegt an einem diskursiven Missverständnis. In den westlich aufgeklärten Demokratien zeichnet sich wertvolle Kultur durch zwei Kriterien aus: widerständig und subversiv. Als man noch in der Dichotomie „Us and them“,“Wir hier -Schweinesystem dort“ dachte, sah man nur eine Chance für widerständiges, subversives Verhalten: Man musste den Verhaltensnormen der Schweinesystem-Vertreter, des Establishments, den Stinkefinger zeigen. Den bourgeoisen Verfeinerungen setzte man das rüpelnde Urvieh, den triebgesteuerten Barbaren entgegen (im schlimmsten Fall einen bierbäuchigen Sesselpupser mit rudernden Windmühlenarmen wie Joe Cocker). Tod dem abgespreizten kleinen Finger! Mit diesem System-Frontalangriff schüttete man allerdings das Kind mit dem Bade aus. Das patriarchale System kultivierter Alphamänner konterte man mit einem patriarchalen System barbarischer Alphamänner. Rock und Punk fördern die gleichen Charaktereigenschaften wie der Haifischkapitalismus, den sie zu bekämpfen vorgeben: aggressiv, konfrontativ, destruktiv. Das Ganze nur auf rüpelig & dreckig, was den Stehpinkler-Machismo-Anteil noch erhöht. Die weißen Wutjungs reproduzieren den Hegemonialdiskurs – mit der gleichen gläsernen Decke gegenüber Frauen, Farbigen, Schwulen, Transsexuellen etc.

Diesen Gruppen hat Disco viel stärker als Rock einen Raum eröffnet, um jenseits der Hegemonialkultur ihr selbstbestimmtes Utopia zu errichten. Disco beerbt die Sixties-Hippie-Ideologie des „Peace, Love & Understanding“, nur in Paillettentop statt Latzhose. Während bei den Hippies jeder das Tambourin schwang, zelebriert in der Disco jeder seine Schritte auf der Tanzfläche. In einer Person wie David Mancuso, Originalhippie und Veranstalter der ersten semi-privaten Disco-Partyreihe in New York, dem „Loft“, verkörpert sich das Hippie-Disco-Kontinuum.

Während beim Rockkonzert die Fan-Herde im dunklen Zuhörerraum zu den Stars auf der Bühne hinaufglotzt, erprobt auf den Disco-Partys eine Paradiesvogel-Gemeinschaft, in der jeder sein eigener Star unter der Glitzerkugel ist, das Zusammenleben jenseits der bürgerlichen Normen. Selbstdarstellung und Selbstverwirklichung gehen hier Hand in Hand. Weil auf diesen Partys aber glamourös statt rüpelig &dreckig den ästhetischen Leitfaden vorgibt, wird ihr subversives Moment übersehen. Wer sich für Glamour interessiert, ist Opfer des Wertekanons des Establishments, meckert die Rockwelt. Aber nur weil Glamour von der Hochglanzmagazin-Welt gekapert wurde, heißt das nicht, dass man auf ihn verzichten und sich in die Rock-Barbarei oder den Punk-Nihilismus schmeißen muss. Man kann sich den Glamour zurückerobern. Disco bedeutet Do-it-yourself-Glamour. Immerhin liegt der Ursprung von Diskotheken dort, wo sich Jean Genet rumtrieb, in den Spelunken französischer Hafenstädte, in denen die US-amerikanischen Matrosen zu ihren Singles tanzen wollten. Geht es non-bourgeoiser?

Natürlich existiert die Seite von Disco, die nur den Soundtrack für den konformen Alltag liefert. Die Frauen machen sich mit Disco-Aerobic für den Hausputz fit (die Männer mit Rock-Gemoshe für die Büroüberstunden). Zwei Bücher illustrieren dieses Changieren von Disco zwischen Aerobic-Konformismus und Regenbogen-Utopia: Kitty Hansons „Disco Fever“ von 1978 beschreibt das Disco-Faszinosum aus der Celebrity-Perspektive der Hochglanzmedien. Reich, schön, Disco – hier lebt das (falsche) Klischee. Das Gegenstück kommt von Andrew Holleran. Sein im gleichen Jahr erschienenes „Dancer From The Dance“ steigt tief ein in die Subkultur der schwulen Discotänzer aus der afro- und hispanoamerikanischen Bevölkerung New Yorks. Es liest sich wie ein Tatsachenbericht aus dem William-Burroughs-Untergrund. Die Disco-Kugel wird zum Leitstern einer verschworenen Gegenkultur.

Diese Seite der Discowelt ist mit der Popularisierung der Cultural Studies stärker ins Blickfeld gerutscht. Statt frontaler Systemkritik lernte man seit den Achtzigern zwischen Class, Race & Gender zu differenzieren. Während die Village People in den Siebzigern noch als Clownstruppe abgekanzelt wurden, feierte man zehn Jahre später Frankie goes to Hollywood als schwulen Kassiber im Mainstream. Und Neo-Disco-Projekte wie die New Yorker Produzenten Metro Area und Hercules & Love Affair oder das Münchner Label Permanent Vacation müssen in den 2000er-Jahren keine ideologischen Gefechte mehr führen, sondern sich nur noch über Geschmacksverfeinerungen streiten.

Schwenkt man von der sozialen auf die ästhetische Ebene, dorthin, wo es nicht um Verhaltens-, sondern um Geschmacksentscheidungen geht, muss man ebenso stark differenzieren. Ein Jazz-Fan, der für Albert Aylers kakophonischen Free Jazz schwärmt, muss nicht James Lasts Kaffeekränzchen-Humptata verteidigen, nur weil es unter dem gleichen Genre-Banner firmiert. Disco ist ein genauso heterogenes Genre wie Jazz. Statt auf Village People oder Boney M legt der Disco-Connaisseur den Fokus auf Patrick Adams, Walter Gibbons, François Kevorkian, Larry Levan oder Arthur Russell, auf Label wie Prelude und Westend. Disco war bereit, mit modernster Studiotechnik zu experimentieren, wie man es sonst nur von Krautrock und Reggae/Dub kennt. Diese Disco-Speerspitze ist weniger bigott, dafür umso progressiver als der hemdsärmelige Rock. Der undomestizierte Urschrei des Rockers soll möglichst direkt ans Ohr des Fans dringen, von technikfeindlichem Barbar zu technikfeindlichem Barbar. Andererseits ist der Rocker auf die Technik angewiesen, damit sein Urschrei möglichst kraftvoll klingt. Rock wendet die moderne Technik an, kann ihr aber kein Eigenleben zugestehen, sondern sie nur als Schwanzverlängerung akzeptieren: großer Boxenturm, dicke Eier. Nur Rockbands, die sich über ihre dicken Eier lustig machen, können die Studiotechnik affirmieren: Steely Dan sind das beste Beispiel. Disco erkennt das Eigenleben der Produktionsmittel an und nutzt sie offensiv. Die Edits und Dubs auf Disco-12-Inches sind Achterbahnfahrten an abstrakten Sound-Experimenten. Walter Gibbons Remix von Bettye LaVettes „Doin‘ The Best That I Can“ oder Shep Pettibones Mix von Sinnamons „He’s Gonna Take You Home“ mit ihren elfminütigen Verschiebungen zwischen Vorderund Hintergrund zerlegen die übliche Architektur eines Songs bis an die Grenzen der Statik. Das Reggae-Dreamteam Sly &Robbie hat diese Parallele zwischen Reggae und Disco früh erkannt und sich mit Disco-Produzent Larry Levan für das Discodub-Projekt Padlock zusammengetan. Die repetitiven Endlosgrooves von Hamilton Bohannon, Sylvester oder Supermax reizen den gleichen hypnotischen Sog aus wie der Krautrock von Can oder Kraftwerk. Unterm Disco-Korsett war viel Platz für Innovation – der Rock-Fan ließ sich nur vom vordergründigen Glitzern in die Irre leiten. Aber in der Welt des Dance war Disco immer ein wichtiger Bezugspunkt, der sich in den diversen Revivals nach vorne spielte. Frühe House-Gottväter wie Todd Terry oder Frankie Knuckles stellten sich mit ihren Remixen für Class Actions „Weekend“ und First Choices „Let No Man Put Asunder“ stolz in eine Disco-Tradition, die bis Daft Punks „Get Lucky“ weiterlebt. Man muss sich ja nicht gerade an Bob Sinclars Filterdisco-Plattitüden erinnern …

Ich bekenne: Dieses Disco-Pamphlet ist weitaus unversöhnlicher als das Leben selbst. Der Rock’n’Roller Little Richard war schwarz und schwul -ein Protoheld der Discowelt 20 Jahre vor Disco. Ein Rocker wie David Paich von Toto hat kein Problem damit, Cheryl Lynns Disco-Klassiker „Got To Be Real“ mitzuschreiben und zu produzieren. Der New Yorker Punkfunk der Achtziger um das ZE-Label und dessen Erben vom DFA-Label leben die Synthese aus beiden Welten. Mein liebster Cosmic-Discoschleicher: Grateful Deads „Help On The Way“ vom Album BLUES FOR ALLAH. Die schönste Versöhnung der vermeintlichen Feinde Punk und Disco inszeniert der britische Regisseur Isaac Julien in seinem Film „Young Soul Rebels“ von 1991, der X-Ray Spex‘ Punkaufschrei „Oh Bondage Up Yours!“ mit Sylvesters Discoschwelgerei „You Make Me Feel“ zusammendenkt. Danach fragt man sich endgültig: Warum ist die Kritik an Disco nicht totzukriegen?