Im Gespräch mit Disarstar: „Ich bin Teil des Systems, das ich kritisiere“
„Die Tragweite dessen, was gerade im Deutschrap passiert, können wir aktuell noch gar nicht abschätzen“: Rapper Disarstar im Interview über die 187 Straßenbande, Feminismus, Linksradikalismus, Mental Health Awareness und sein neues Album KLASSENKAMPF & KITSCH.
Disarstar redet schnell. Er verfolgt einen Gedanken, lässt ihn wieder los, ändert rasant die Richtung. Sein Energielevel ist hoch, der Blick gleitet oft durch den Raum, als suche er eine Idee in den Stuckverzierungen an der Decke. Zeitweise unterbricht er seinen Redefluss und wirft ein, man dürfe ihn gerne stoppen, wenn er zu weit aushole. Das tut er, aber es ist unumgänglich. Denn Gerrit Falius, alias Disarstar, hat viel zu sagen.
Der Hamburger Rapper begann bereits als Jugendlicher mit Streetrap und hatte jegliche Voraussetzung dazu, in dem Genre zu bleiben: Falius wuchs in schwierigen familiären Verhältnissen auf, wurde bereits als Kind mit ADHS diagnostiziert. Einem frühen Schulabgang folgten Alkohol- und Drogenprobleme, erste Straftaten. Erst als Disarstar wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde, kam der Sinneswandel. Mit der Unterstützung seines Sozialarbeiters ließ Gerrit Falius seine Vergangenheit hinter sich und erweiterte stattdessen sein Interesse an Philosophie, Politik und Gesellschaftskritik.
AmazonNach einigen kostenlosen Mixtapes und zwei Touren als Support Act von Kontra K erschien im Jahr 2015 Disarstars Debütalbum KONTRASTE, das es auf Platz 19 der deutschen Albumcharts schaffte. Seine Musik ist deutlich dem linken Spektrum zuzuordnen, seit Jahren bekennt sich Disarstar als Marxist. Er rappt über seine eigene Fehlbarkeit, die Entwicklung, die er als Mensch durchmacht und bezieht Stellung zu gesellschaftspolitischen Themen wie Frauendiskriminierung, Seenotrettung und der AFD. Zum Release seines vierten Studioalbums KLASSENKAMPF & KITSCH,das am 6. März 2020 erschienen ist, trafen wir den 26-Jährigen zum Interview.
Musikexpress.de: Der Titel deines neuen Albums lautet KLASSENKAMPF & KITSCH. Was bedeutet der Begriff Klassenkampf für dich?
Disarstar: Ich hatte schon immer eine politische Komponente in meiner Musik und ich finde, es wird immer relevanter, Haltung zu zeigen. Marx hat gesagt: „Alle Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen“. Das sehe ich auch so. Ich glaube nicht daran, dass Migration das Grundproblem unserer Zeit ist, sondern die Verteilung zwischen Arm und Reich. Der bürgerliche Parlamentarismus handelt mit solch einer Selbstgefälligkeit, als sei das kapitalistische System in dem wir leben das Maß aller Dinge. Daran glaube ich nicht. Der Kapitalismus ist nicht das Ende der Geschichte. Das ist die Klassenkampf-Komponente in dem Titel.
ME: Und wie kommt da Kitsch mit ins Spiel?
Disarstar: Meine Musik war schon immer emotional – den Vorwurf „Kitsch“ musste ich mir schon das ein oder andere Mal anhören. Wenn man so will, ist der Begriff „Kitsch“ eine Art ironischer Antagonist zu der politischen Komponente meiner Musik. Es ist selbstironisch.
ME: In dem Track „Jetzt & für immer“ rappst du: „Ich hab so Bock auf weg von der Straße, noch mehr Ekstase, (…) die doppelte Gage und sonnige Jahre“. Kannst du dich mit so einer Aussage trotzdem noch als Antikapitalist bezeichnen?
D: Ich bin Teil des Systems. Ich bin dazu gezwungen, Miete zu zahlen, Essen zu kaufen, erwerbstätig zu sein. Selbst beim Majorlabel bin ich nur Lohnarbeiter. Ich produziere etwas, gebe es dem Unternehmen, verkaufe das gewinnbringend und die geben mir einen Teil des Gewinns ab. Dadurch lebe ich in einem stetigen Widerspruch: Zum Einen muss und möchte ich Geld verdienen, denn das bedeutet mehr Freiheit und mehr Handlungsmöglichkeiten. Gleichzeitig will ich möglichst fair bleiben und niemandem die Butter vom Brot nehmen.
ME: Du würdest gerne das System ändern, aber akzeptierst es, ein Teil davon zu sein.
Disarstar: Es gibt einen Spruch, der lautet: „Geld bringt dich ins Schwitzen, ich würde es lieber abschaffen, als es zu besitzen“. Aber solange ich es nicht abschaffen kann, möchte ich mein Leben so gut wie möglich gestalten und frei leben.
ME: Wie sieht ein alternatives Gesellschaftssystem für dich aus?
Disarstar: Privateigentum von Produktionsmitteln sollte abgeschafft werden. Aber wenn ich das sage, denken die Leute immer, ich würde ihnen ihre Hose wegnehmen wollen. Dennoch müssten meiner Meinung nach die Villen in der Hamburger Elbchaussee zu Flüchtlingsheimen werden.
ME: Könntest du deine Texte noch mit gutem Gewissen umsetzen, wenn du selber genug Geld hättest für eine Villa an der Elbchaussee?
Disarstar: Ich hoffe, dass ich in meinem Leben nie in die Position komme, mich mit dieser Frage auseinandersetzen zu müssen. Vielleicht würde ich irgendetwas Geiles machen, wenn ich so reich wäre – Hotelbau auf Sri Lanka zu korrekten Preisen. Aber vielleicht würde ich mich durch so viel Geld auch total verändern.
ME: Du hast dich selbst schon als Linksextremist bezeichnet…
Disarstar (lacht): Das habe ich lange nicht mehr gemacht. Ich bin nicht linksextrem, ich bin linksradikal. Ich hab damals den Fehler gemacht, mich als linksextrem zu bezeichnen.
ME: Wie hat deine politische Bildung begonnen?
Disarstar: Das ging los, als ich dreizehn Jahre alt war. Damals hat sich meine wirtschaftliche Situation aus familiären Gründen radikal verschlechtert – das hat mich zum Nachdenken gebracht. Seitdem gehe ich einen Reifeprozess durch. Das Problem ist, dass ich meine politische Meinung schon immer in Musik dokumentiert und manifestiert habe. Dadurch muss ich heute für Sachen gerade stehen, die ich mit fünfzehn Jahren gesagt habe und die ich heute anders sehe. Aber ein Song hat etwas Endgültiges. Dabei ist es eigentlich ein Prozess.
ME: Hast du auch Fans, die dir sagen, du hättest ihre politische Meinung beeinflusst?
Disarstar: Manche Fans haben erst über meine Musik angefangen, sich mit Politik auseinanderzusetzen. Mittlerweile haben viele von denen politikwissenschaftlich aber viel mehr auf dem Kasten als ich. Es geht mir nicht darum, Leuten meine Meinung aufzudrängen, mir ist es wichtig, dass sie sich selbst eine Meinung bilden. Die kann gerne anders aussehen als meine!
„Die Tragweite dessen, was gerade im Deutschrap passiert, können wir aktuell noch gar nicht abschätzen“
ME: Würdest du dir wünschen, dass sich Künstler*innen im Deutschrap stärker politisch positionieren?
Disarstar: Genauso wie es ein Widerspruch ist, als Antikapitalist in einem kapitalistischen System zu leben, ist es auch ein Widerspruch, ein politischer Künstler zu sein. Wenn du mich als Künstler fragst, dann finde ich nicht, dass Kunst irgendetwas „muss“. Wenn du mich als politischen Menschen fragst, dann würde ich mir natürlich wünschen, dass alle meiner Meinung sind. Aber so läuft es nicht.
ME: In dem Song „Männer und Frauen“ sprichst du dich stark gegen Frauendiskriminierung aus. Wie stehst du einem Phänomen wie der 187 Straßenbande gegenüber, die keinen Hehl aus ihren sexistischen und homophoben Texten machen?
Disarstar: Ich kann der 187 Straßenbande nichts abgewinnen, aber ich verstehe, warum sie die Welt so sehen wie sie es tun. Sie sind nicht in einem luftleeren Raum aufgewachsen, sondern Kinder ihrer Gesellschaft. Ich denke, dass sie sich über ihren Einfluss nicht im Klaren sind. Das ist ein Riesenproblem! Die Tragweite dessen, was gerade im Deutschrap passiert, können wir aktuell noch gar nicht abschätzen.
ME: Was meinst du damit?
Disarstar: Billie Eilish ist cool, weil sie nicht sexy sein muss, um als Künstlerin respektiert zu werden. Aber beim Bambi wird Shirin David, deren ganze Person Bodyshaming ist, wiederum als Feministin inszeniert. Das ist Feminismus, wie er fetten alten weißen Männern passt. Feminismus, der niemanden stört. Es ist schlimm, dass Genderungerechtigkeit so omnipräsent war, das viele Leute das Thema schon abgehakt haben. Wenn man Person XY auf der Straße anspricht, ist die ja der Meinung, Männer und Frauen seien in Deutschland komplett gleichberechtigt.
ME: Und dann schaut man sich das Line-up eines Festivals an und nur 20 Prozent der Acts sind weiblich.
Disarstar: Und die paar Frauen die mitmachen dürfen, müssen heiß sein.
ME: Du hast nie einen Hehl aus deinen früheren Problemen mit Rauschmitteln gemacht. Dein vorheriges Album BOHEMIEN ist laut eigener Aussage im Rausch entstanden, jetzt lebst du gerade komplett abstinent. Hast du Angst vor Kontrollverlust?
Disarstar: Ich kriege Panik, wenn ich nur den Anflug von Kontrollverlust spüre. Ich habe ein Problem damit, Alkohol und Drogen zu regulieren. Aber ich kann es komplett bleiben lassen. Ich habe eine krasse Suchtveranlagung, gepaart mit einer extremen Strenge mit mir selbst. Ich habe Phasen in meinem Leben, da drehe ich drei Monate frei – dann geht es mir scheiße und ich lass es wieder für ein Jahr lang bleiben.
ME: Nächster Albumtitel: SUCHT & DISZIPLIN. Woher kommen diese Schwankungen?
Disarstar: Selbstzerstörung spielt da eine ganz wesentliche Rolle. Seit ich ein kleiner Junge bin war mein Leben immer Chaos, Kampf und Unberechenbarkeit. Jetzt wo ich erwachsen bin habe ich mich besser unter Kontrolle: Ich treibe viel Sport, mache Musik, habe gerade mein Abitur nachgeholt. Irgendwann kommt dann der Moment, an dem mir mein Leben zu strukturiert, zu „normal“ ist und ich das Bedürfnis habe, wieder in alte Verhaltensweisen zu rutschen.
ME: KLASSENKAMPF & KITSCH ist ein sehr persönliches Album. Songs wie „Dystopia“, „Tommy“, „All die Jahre“ und „ADHS“ behandeln psychische Krankheiten und Probleme aus deiner Vergangenheit – woher kam der Impuls, Mental Health Awareness zum Thema zu machen?
Disarstar: Das ist ein omnipräsentes Thema. Ich fand, es ist an der Zeit, die Dinge beim Namen zu nennen. In früheren Songs habe ich all dies auf einer Metaebene behandelt. Aber bei diesem Album wollte ich konkreter sein.
ME: Du bist jetzt 26 Jahre alt. Würdest du sagen, dass du mit wachsendem Alter immer glücklicher wirst?
Disarstar: Ich werde ruhiger. 2018 war das beste Jahr meines ganzen Lebens, dann kam 2019 und war noch besser als das Jahr zuvor. Mir geht es nicht mehr darum, mein Leben noch besser zu machen. Mir geht es darum, es mir nicht kaputt machen.