Die verflixte zweite LP – Karrieren am Scheideweg


What goes up, must come down. Sensationelle Erfolge der Debüt-LP führen fast folgerichtig zum Flop der zweiten. ME/Sounds-Kontorist Bernd Lechler macht die Probe aufs Exempel

Es ist ein Kreuz mit den Beziehungskisten, wir wissen es alle, und die Ratgeber-Regale zeugen deutlich davon: ,,Wenn Frauen zu sehr lieben“, „Glücklich zu zweit“ — bloß an die rätselhafteste aller modernen Beziehungen wagt sich kein Analytiker: die Romanze zwischen Muse und Masse, zwischen Star und Fan, zwischen Künstler und Kunde. Gut, daß beim Karrierebeginn, wenn am Radio oder unterm Kopfhörer die erste akustische Umarmung stattfindet, keiner fragt: „Willst du diese Band ehren und lieben und in Freud und Leid ihr treu bleiben, bis der Tod euch scheidet?“ Denn kühl käme die Antwort: „Naja, warten wir erst mal die zweite LP ab.“

Die verflixte zweite LP. Was war das für ein Überschwang nach dem 11. Juni 1988, dem Tag, an dem Tracy Chapman beim Nelson Mandela-Festival debütierte! Gleich am Montag darauf rannten 12 000 Briten ins nächste Plattengeschäft und verlangten die erste LP der knuddligen Moralistin; wenig später stand sie auf Platz Eins der Charts.

Und später? In Deutschland verkaufte sich Chapmans zweite LP CROSSROADS auch noch gut, in den meisten anderen Ländern konnte sie die Erwartungen nicht erfüllen. „Tracy Chapman ritt auf einer Welle der Sympathie“, meint Bernd Skibbe, ihr deutscher Product Manager bei der Plattenfirma WEA. „Die ist dann gekippt. Im Moment legt Tracy deswegen erst mal eine Pause ein. Für die dritte LP machen wir uns natürlich auch Gedanken: ,Probier’s doch mal mit einer Band‘, oder: ,Wtr könnten uns den und den Produzenten vorstellen.‘ Ob ein Künstler sich nach solchen Ratschlägen richtet, ist allerdings ein ganz anderer Schnack.“

Undankbares Publikum und verhängnisvoller Trend: Die späten Achtziger waren ja auch die Zeit, als jede junge Frau, die wußte, daß man eine Gitarre mit dem Loch nach vorne hält, schon die wichtigsten Voraussetzungen für einen Plattenvertrag erfüllte. Wenn sie dazu noch ein paar aufrechte oder geheimnisvolle Zeilen zu Papier bringen konnte — um so besser. Bei den meisten (wie etwa Suzanne Vegas Backing-Sängerin Shawn Colvin) zündete nicht einmal das Debüt-Album, und die erfolgreichen Debütantinnen guckten spätestens beim zweiten Anlauf dumm aus der Wäsche: Edie Brickell, Melissa Etheridge

Tanita Tikarams THE SWEET KEEPER war zwar alles andere als ein Flop, aber insgesamt geht’s abwärts, und die Hurra-Schreie nach ihrem ersten (und einzigen) Geniestreich „Twist In

EINS ZWEI AUS!

My Sobnety“ sind allemal längst verstummt. Bei ihrer Plattenfirma (ebenfalls WEA) sieht Senior Product Manager Alexander Maurus auch schlechtes Timing als Ursache: „Die zweite LP von Tanita kam zu früh. Das war ein Riesenfehler. Allerdings war das so eine Management-Geschichte. Ich würde von der Plattenfirma aus nie einen Künstler unter Druck setzen. Zwei Jahre Zeit tun sicher jedem gut.“

Schon, aber spielt da auch das Kurzzeitgedächtnis des Partners Publikum mit? Aus den Augen, aus dem Sinn — bei zu langer Pause kann’s einem auch so ergehen wie der englischen Band Cutting Crew, die 1986 mit einem Nummer-Eins Hit (,,[I Just] Died in Your Arms“) und einer gutverkauften ersten LP hoch einstieg. In Amerika und Japan schlug die Single erst ein Dreivierteljahr später ein, weswegen die Band ungewöhnlich lange mit Konzerten und Interviews beschäftigt war (und derweil in Europa weg vom Fenster). Und schließlich ließen sich die Jungs aus Sussex noch die nötige Zeit fürs Nachfolge-Werk. Sänger Nick Van Eede damals:

„Wir hätten uns beeilen können, damit uns die Leute auch wirklich nicht vergessen. Aber ich hab zu viele Bands gesehen, die nach einem Erfolg die zweite LP aus dem Ärmel schüttelten, und das geht meistens nicht gut.“

Der Umkehrschluß gilt leider nicht. Cutting Crews Zweitling blieb in den Läden liegen, die Liebe des Publikums war offenbar längst erloschen, in Deutschland konnten selbst sechs Sterne in ME/Sounds der brillanten Pop-Platte nicht helfen, und zwei Mitglieder der einst verschworenen Crew verließen wenig später das sinkende Schiff.

Was, vom Veröffentlichungs-Zeitplan abgesehen, die übrigen marktstrategischen Überlegungen zur zweiten LP angeht, so haben es Shooting-Stars im Grunde nicht schlecht: Den Plattenfirmen ist klar, daß die verflixte Zweite keinen Überraschungsbonus mehr hat, und sie investiert in der Regel auch in das offenbar vorhandene Potential eines erfolgreichen Newcomers. Aber die Songs müssen die Musiker schließlich selber schreiben. „Man muß schon über eine unglaublich hohe Latte springen“, zieht Bernd Skibbe die sportliche Parallele, und Kollege Maurus stößt ins gleiche Hörn: „Im Grunde ist die zweite LP vor allem für die Künstler ein Problem, wenigerfür die Plattenfirma. Das setzt sich bei vielen auch im Songschreiben fort. Sie sind blockiert, haben Schwierigkeiten, ganz locker ranzugehen.“

Auch wenn die wenigsten das selbst so sehen — oder zugeben. Sam Brown, auch so ein Opfer der verflixten Zweiten, sagt, sie sei bei APRIL MOON viel entspannter gewesen als noch beim Debüt: „Beim ersten Mal war es nervenaufreibend. Die Leute haben dich noch nie gehört, du willst zeigen, wer du bist — aber das mußt du erst mal hinkriegen, schließlich hast du noch nie eine Platte gemacht.“

Kollegin Tikaram kommentiert die Umstände der zweiten Platte ähnlich lässig: „Ich hatte keinen Druck von den Leuten um mich herum. Und das zählt ja. Der Erfolg der ersten LP hatte mir jede Menge Selbsnertrauen gegeben. Ich nahm einfach die Songs, die ich hatte und ging an die Aufnahmen zu THE SWEET KEEPER.“

Vielleicht ist es das:“.die Songs, die ich hatte.“ Man hat 20 Jahre Zeit für die erste Platte, und für die zweite nicht mal 20 Monate. Zumindest für Solisten gilt diese Businessbinsenweisheit wohl tatsächlich, und man muß mit dem Debüt schon gewaltige Erfolge gefeiert haben, damit einem die Plattenfirma den Einbruch beim zweiten Anlauf verzeiht. (Beim Verdacht auf allzu große Trend-Abhängigkeit lassen sich auch gleich von vornherein Sollbruchstellen einbauen: Als die lustigen Two-Tone-Trampler von Madness ihre drei Kreuzchen unterm Plattenvertrag machten, erklärten sie sich auch mit einer Klausel einverstanden, die das Vertragsverhältnis beendete, sollte die zweite LP eine bestimmte Anzahl verkaufter Exemplare nicht erreichen. Sie tat es auch nicht, Madness flogen aus der Firma — aber immerhin fand die Band ein paar Jahre später, gereift, den Anschluß wieder.) Das Publikum kennt sowieso keine Solidarität. Oder doch? Im Gegensatz zu Tracy Chapman hat es weder den Dire Straits noch Bruce Hornsby noch Mandelauge Sade Adu geschadet, daß das zweite Album jeweils ein wenig ideenreicher Aufguß des ersten war. Da endet das Beziehungskistenanalytikerlatein wieder mal. Vielleicht schwang zumindest bei den Dire Straits doch die Ahnung mit, daß hier wirklich noch große Zeiten bevorstanden. Vielleicht hätte sich Tracy Chapman doch nicht so konsequent den ungeliebten Promotion-Aktivitäten entziehen sollen. Vielleicht hätte sie nicht so entsetzlich langweilige Konzerte geben dürfen. Vielleicht, vielleicht, vielleicht, vielleicht.

Umgekehrt — und schon wieder müssen wir eine Erklärungsmöglichkeit aufgeben, o verflixte zweite LP! — umgekehrt ist bloß durch Innovation und den Willen, sich weiterzuentwickeln. auch kein Blumentopf zu gewinnen, geschweige denn eine goldene Schallplatte. Krassestes Beispiel: Terence Trent DArby, dem nach einer überaus erfolgreichen und auch guten Debüt-LP Popmusik nicht mehr genügte. Also machte er Kunst, oder was er dafür hielt. „Ich habe alles selbst gemacht. Die Songs geschrieben, selbst produzier!, alles bis zur letzten Kleinigkeit“, tönte D’Arby zur Veröffentlichung seiner zweiten LP mit dem unseligen Titel NEITHER FISH NOR FLESH, und fügte hinzu: „Die Neunziger werden meine Zeit werden.“

Was haben wir gelacht. D’Arbys Plattenfirma hält sich bedeckt, was Verkaufszahlen angeht, gesteht zumindest etwas neblig, das erste Album sei für „viel mehr ah Platin“ ‚gut gewesen, das zweite nur für „deutlich weniger als Gold.“ Im Klartext: die zweite verkaufte nur einen Bruchteil der ersten.

Der einzige, der ähnlich entschieden plötzlich „wichtig“ sein wollte und nicht auf den Bauch fiel, ist George Michael. Sein erster Solo-Versich nach Wham! war in den USA die erfolgreichste Platte des Jahres, beim zweiten Anlauf wollte er’s wissen: „In England sieht man mich immer noch als einen leichtgewichtigen kleinen Popsänger“, beschwerte er sich, nannte die zweite LP LISTEN WITH-OUT PREJUDICE, machte sie dunkler, introvertierter, weniger tanzbar, glänzte im eigenen Video durch Abwesenheit und sagte Interviews ab: „Mir ist klargeworden, daß ich mich nicht mehr verkaufen will. Und nicht nur das: ich will unsichtbar sein.“

Natürlich erreichte LISTEN W1T-HOUT PREJUDICE nicht die Verkaufszahlen von FAITH, das wäre — bei diesen Dimensionen — auch fast ein Wunder gewesen. Aber gemessen an seiner Verweigerungsstrategie kann George Michael auf den Erfolg seiner verflixten Zweiten stolz sein.

Und wo wir gerade von der Michael-LP sprechen: Woran erinnert Sie der Groove im Song „Soul Free“? Genau, an Soul II Soul. Und wie war die zweite LP von Soul II Soul? Genau, sie war — verflixt. Und das auf besonders gemeine Weise, denn nicht nur hat sich das Projekt von Jazzie B, wahrlich wegbereitend um die Dance-Szene verdient gemacht, sondern die zweite LP fiel im Vergleich zur ersten auch keineswegs ab. Soul II Soul waren zu gut, meint Ernie Lange von ihrer Plattenfirma Virgin: Aufgrund des Erfolgs von ,Keep On Moving‘ hatte eben inzwischen jeder zweite Dance-Musiker diesen Beat abgekupfert. Alle hatten sich draufgestürzi — und dann war er nichts Besonderes mehr.“

Die Groove-Zauberer wurden die Geister nicht mehr los, die sie gerufen hatten. Was da wohl Neneh Cherry so durch den Kopf ging, wenn sie in den letzten Monaten in einem Londoner Studio mit ihrer zweiten LP zugange war? Schließlich ist sie inzwischen auch längst nicht mehr die einzige Rapperin mit ordentlichen Songs und frecher Klappe. Wir können vermuten: Gemeinsam mit der Plattenfirma hofft sie, daß einer ihrer neuen Songs zur erfolgreichen Single taugen möge. Denn so wie das Musikgeschäft läuft, kommen die wenigsten LPs vom Fleck, wenn sie nicht von einem Hit angeschleppt werden.

„Das macht die Einschätzung eben auch schwer“, klagt Alexander Maurus. „Man ist erst mal glücklich, wenn man ein Erstlingswerk gleich in der Bundesliga etablieren konnte, aber vielleicht lag’s auch einfach an ein, zwei Singles, und wenn die beim nächsten Mal fehlen …“

— dann hilft man besser nicht mit Gewalt nach. „Wir waren total glücklich mit der zweiten LP“, jammert Nick Van Eede von Cutting Crew noch im nachhinein. „Aber die Plattenfirma fragte bloß: , Wo ist die Hitsingle?‘ Wir gingen stinksauer erstmal saufen und dann ins Studio. Und dann rotzten wir,Rock And A Hard Place‘ so richtig hin, klauten absichtlich Teile von ,Died In Your Arms‘ — es war als hämischer Witz gedacht, aber die Plattenfirma war begeistert und veröffentlichte es ab erste Single. Ein Flop. Und zu Recht.“

Vielleicht zog die Vorab-Single gleich die ganze LP mit in den Abgrund, weil sie den Verdacht nahelegte, Cutting Crew wollten mit einem billigen Zweitaufguß des Anfangserfolgs ankommen. Und nun? Bleibt nur die Hoffnung auf die dritte LP — „die übrigens genauso verflixt ist wie die zweite“, orakelt Bernd Skibbe. „Da beweist sich Genialität oder Durchschnitt. Im Grunde ist es doch nur menschlich, wenn die zweite nicht so hinhaut wie die erste. Wenn aber die dritte LP schlecht ist, ist man erledigt.“