Die Spur des Bären


Realitätsschocks, Glamour auf'm Klo und Kino-Sternstunden mit, ja, Deep Purple: Notizen von der 56. Berlinale in Berlin (in Berlin).

Keine lustigen Filzhüte. Keine urinösen Campingwiesen. Kein Nieselregen und verschwindend wenige besoffene Crowdsurfer, die einem johlend ins Kreuz plumpsen. Dafür: kuschelige Sitzplätze. Super Blick aufs Geschehen. Spitzensound. Ein Filmfestival hat ein paar Vorzüge, die einem Rockfestival ganz klar abgehen. Die freilich günstigste Kombination: sich im Kino Julien Temples famose Doku „Glastonbury“ anschauen.

Die Errungenschaften der Zivilisation werden aber auch im Namen des Berlinale-Bären Härtetests unterzogen. Zu jedem Film im Wettbewerbsprogramm gibt es das Ritual einer Pressekonferenz; davor werden die anwesenden Regisseure und Schauspieler den Fotografen der Weltpresse vorgeführt. Das klingt von fern dann jedes Mal wie eine Mischung aus Fütterung im Seelöwen-Gehege und Oktoberfest-Schlägerei, wenn die Bilderjäger sich lautstark mühen, Promi-Blickein Richtung ihrer Linse zu locken. Für die so Angebrüllten gilt: Haltung bewahren und nicht eventuellen Impulsen nachgeben. Sonst bist duraorgen mit ausgestrecktem Stinkefinger vorn auf der BZ.

Der Informations- bzw. Unterhaltungswert der Pressekonferenzen selbst variiert. Da hat’s Typen wie Altmeister™ Sidney Lumet. Der bringt mit seiner launig-ketzerischen Bemerkung, erbetrachte seine Mafiagerichtsdramödie „Find My Guilty“ nicht als typischen Festival-Film, „because it’s not boring“, den Saal zum Röhren. Was einigen im Nachhinein peinlich sein dürfte. Aber hört man lieber Bernd Eichinger zu, der bei seinen Ausführungen zu „Elementarteilchen“ vor Selbstgefälligkeit fast einpennt? Nö. Dann schon lieber seltsame Begegnungen wie die mit Kamera-Koryphäe/Jurymitglied Janusz Kaminski auf der Pressezentrums-Toilette. Wann kommt man schon mal dazu, gemeinsam mit dem „Auge von Steven Spielberg“ eine Stange Wasser in die Ecke zu stellen? This is my definition of Hollywood-Glamour.

Oder wenn einem Sigourney Weaver aus der Seele spricht. Als schroff-eloquente Autistin hat die im Eröffnungsfilm „Snow Cake“ einen hübschen rockkritischen Moment. „What are you listening to?“ fährt sie den kopfhörenden Alan Rickman an. „Stereophonics“, kommt die Antwort. „They ‚re not bad.“ Weaver: „I prefer tinnitus.“ Später im Film gibt’s auf einer Beerdigung Super Furry Animals zu hören. Besser. Aber geschenkt. Der imaginäre ME-Ehrenbär für „Begnadetstes Händchen bei der Musikauswahl in einem Spielfilm“ geht nämlich an Hans-Christian Schmid. Welche Muse den Altöttinger auch dahingehend geküßt haben mag, als Soundtrack-Fixpunkt seines tieftraurigen Klagegesangs „Requiem“ (seit 2. März im Kino) die magische Deep-Purple-Edelschnulze „Anthem“ (von The Book Of Taliesyn, 1969) auszusuchen: die Wahl ist perfekt, der Reporter noch Tage später beim bloßen Anhören des Songs und dem Imaginieren der Schlußszene mit der großartigen Sandra Hüller schier den Tränen nah. Ernsthaft.

Eine andere eindrückliche Rock-Szene findet sich in Michael Winterbottoms Breloer-eskem DokuDrama „The Road To Guantanamo“. Vielleicht hat man es bisher skurril witzig gefunden, wenn es mal wieder hieß, diese oder jene Musik sei so krass crazy, daß sie, hoho, „angeblich zu Folterzwecken benutzt“ werde. Nachdem man hier einen Eindruck davon bekommen hat, wie in etwa so eine Metal-Foltermaßnahme in der Realität aussieht, garantiert nicht mehr.

Nach Filmen wie diesem oder z.B. Robert Greenwalds heftiger Doku „Wal-Mart: The High Cost Of Low Price“ (Fazit: Wal-Mart = die soziale/kulturelle Neutronenbombe) freut man sich über ein Stück Fiktion. Auch wenn es so herb ist wie Nick Caves Drehbuch-Arbeit „The Proposition“, ein Australo-Western-Bastard aus Schillers „Bürgschaft“, „Reservoir Dogs“, „Apocalypse Now“ und „Dead Man“. Hernach hilft unter Umständen aber wirklich nur noch, sich in die Pressekonferenz von „V For Vendetta“ zu setzen und 40 Minuten lang Natalie Portman anzustarren.

Unklar ist übrigens, warum das Thema der Retrospektive „Traumfrauen“ in der Übersetzung im offiziellen Programm „Dream Girls“ heißt. Was soll dieser Jolie/Bravo-Sprech? Lauren Bacall und Bette Davis hätten sich wohl schön bedankt dafür. Es würde jawohl auch niemand Charlotte Rampling als „girl“ bezeichnen? Rampling ist die ganze Zeit über in der Stadt. Sie ist die Präsidentin der Jury. Sie sollte Präsidentin von allem sein, die Welt wäre ein besserer Ort. Und George Clooney bitte Vizepräsident von allem.

Und vielleicht erspart man uns ja noch eine Zeitlang die Innovation der digitalen Filmprojektion. Die hatte mit dem Fantasy-Märchen „Wu Ji“ auf der 56. Berlinale ihren Einstand. Wenn die konsolenspieleske Bildqualität nicht zu 100 Prozent auf die Schlechtheit dieses Films zurückzuführen ist, sondern auch was mit der technischen Neuerung selbst zu tun hat, dann – um mit James Coburn in „Pat Garrett & Billy The Kid“ (der in der Special Edition als Abschlußfilm gezeigt wurde) zu sprechen „shove it up yer ass and set fire to it.“

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