Die Pein der Weisen


Sophia kommt aus dem Griechischen und bedeutet Weisheit. Für Robin Proper- Sheppards Band gewiss der richtige Name - nach allem, was ihm zugestoßen ist.

Es gibt Narben auf der Haut, die kann man sehen. Und es gibt Narben auf der Seele, die sind unsichtbar. Schwer zu sagen, welche mehr schmerzen. Kaum verheilte Striemen laufen quer durch das Gesicht von Robin Proper-Sheppard, vom Mundwinkel über die Wange bis zum Ohr. „Passiert ist das in San Diego, wo ziemlich viele mexikanische Gangs ihr Unwesen treiben. Du weißt genau: Wenn du da in eine Schlägerei gerätst, dann töten sie dich. Naja, ich wollte jedenfalls einem Freund beistehen und bekam ein Glas ins Gesicht. Hätte schlimmer kommen können. Aber schreib das nicht auf! Ich will nicht, dass mich die Leute für einen Schläger halten.“ Nein, Robin Proper-Sheppard ist alles andere als ein Schlägertyp. Eher unscheinbar, umgänglich und sanft wirkt der Sänger von Sophia. In einem anderen, früheren Leben war der Amerikaner mal Kopf der Proto-Emo-Rockband The God Machine. Womit wir bei den Narben wären, die man nicht auf den ersten Blick sieht. Und die viel, viel langsamer verheilen. Der Schmerz? Den kann man hören, heute noch. Aber immer schön der Reihe nach.

Vor genau 20 Jahren gründeten die Freunde Ron Austin, Albert Amman, Jimmy Fernandez und Robin Proper-Sheppard in San Diego, Kalifornien, die Band Society Line. Das Quartett übersiedelte wenig später nach New York, dann nach London – und nannte sich The God Machine. Für deren Alben, vor allem scenes from the second storey, wird heute auf Plattenbörsen noch richtig Geld hingeblättert. Irgendwo zwischen Kyuss und Jane’s Addiction wurde die Gruppe verortet, und die Plattenfirma Polydor leckte Blut. Genau das wai das Problem: „Wir durften nicht mehr selbst bestimmen, was wir machen wollten. Da erzählte unsjemandvon der Polydor, dass er unsfürdasVorprogramm von Soundgarden gebucht habe. In New York. Wir sind vorher mit The Swans und Nick Cavegetourt und sagten sofort: Nein, in diese Schublade wollen wir nicht, dort treten wir nicht auf. Aber die Vorbereitungen gingen weiter, der Tag des Konzertes kam, und wir traten, wie gesagt, nicht auf. Was ist passiert? Auf der Stelle entließ uns die Firma aus dem Vertrag, cancelte alle Gigs – und wir waren wieder unabhängig.“

Nach den Aufnahmen für das zweite Album (one last laugh in a PLACE OF DYING) starb plötzlich und unerwartet am 2.3. Mai 1994 Bassist Jimmy Fernandez in einem Prager Krankenhaus an einem Gehirntumor. „Ich war wiegelähmt“, sagt Proper-Sheppard – kein Plattenvertrag, die Freundin weg und der beste Freund samt Band zwei Meter unter der Erde. Er zog zeitweilig nach Brüssel, gründete die Ein-Mann-Plattenfirma „Flower Shop Recordings“ und produzierte nur noch die Musik anderer Leute.

Zwei, drei Jahre mussten ins Land gehen, bis er wieder eme Gitarre in die Hand nehmen konnte. Mit der er dann düstere, melodische Songs skizzierte, andere Musiker ansprach und irgendwann die Band Sophia gründete. „Ich mag den Namen, denn ‚Sophia‘ ist griechisch und heißt,Weisheit‘. Mir gefiel, dass uns die Leute wegen des Namens anfangs für eine Ghlgroup hielten „. fixed water hieß die erste Platte, und gekauft wurde sie vor allem von trauernden Fans der God Machine. Und trauern ließ es sich mit der Musik von Sophia ganz vortrefflich. Was fehlte, war die metallische Härte. Dennoch oder eben deshalb – scharte sich um Sophia bald ein Freundeskreis, groß genug, mit THE infinite CIRCLE ein zweites Album aufzunehmen. Den Song „If Only“ hörte der Regisseur Sebastian Schipper, als er nach passender Musik für seinen euphorisch melancholischen Film „Absolute Giganten“ suchte. Und so bezauberte „If Only“ die Kinogängerund fand sich auch auf dem Sountrack wieder – zwischen Notwist, Tocotronic und deutschem HipHop. „Oh, was macht Sebastian? Ein großartiger Film! Vor allem die Kickerszene! „, ruft Proper-Sheppard und schwärmt von durchzechten Nächten und angeregten Gesprächen mit dem deutsche Filmemacher. Tatsächlich ähneln sich trotz unterschiedlichem Tätigkeitsbereich die Künstler in ihrer Hingabe an die Arbeit. Feuereifer und Herzblut. Wenn man ihm erzählt, dass „Absolute Giganten“ kein Kinohit geworden ist, inzwischen aber einigen Kultstatus genießt, lacht Proper-Sheppard hell auf: „Das erinnert mich an meine musikalische Karriere! Aber der Film hat natürlich unser Publikum erweitert“, räumt er dann widerwillig ein. Für den Inhaber eines Indie-Labels ist er merkwürdig desinteressiert am simplen Marketing-Effekt.

Am Abend zuvor gab’s in einem kleinen Berliner Club ein Sophia-Konzert nur für Journalisten. „This is an industry night“, stellte ein irritierter Proper-Sheppard da gleich zu Beginn fest: „Ich habe die halbe Nacht darüber nachgedacht. Ich bin es nicht gewohnt, Sophia-Konzerte zu geben, ohne dass da Leute in der ersten Reihe herumhüpfen. Also musste ich mich erst vom emotionalen Inhalt der Songs lösen, um sie richtig spielen zu können. Leute sollten einfach nicht auf der Bühne stehen und irgendwas darstellen, was sie nicht fühlen „. So spricht ein gekränkter Künstler, nicht der abgebrühte PR-Spezialist: „Bei meiner kleinen Plattenfirma habe ich keinen Cent für Werbung ausgegeben. Und trotzdem habe ich mehr Platten von Sophia verkauft, als der Major Polygram jemals von God Machine losgeworden ist. Es geht darum, dass du zu dem stehst, worauf du stehst“.

Ja, und wo steht er denn, so rein künstlerisch? people are like seasons jedenfalls klingt so rund und reif, als würde sich das beste aus beiden Welten treffen. Hier das anrührende, zerbrechliche Songwriting, mit Streichern und allem drum und dran – und dann plötzlich der Vocoder, treibende Basslinien ä la Jimmy Fernandez, schnodderige Sixties-Garage-Sounds und Stahlbetonwände aus Gitarrenlärm. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Eigentlich ein schizophrenes Album, oder?

„Auf jeden Fall eine extreme Platte , meint Robin. „Es ist das ambitionierteste Album, das ich jemals gemacht habe. Es hat die Kraft, die Leidenschaft und den Raum, den eine gute Platte braucht. Und eshatmich nicht ausgesaugt, sondern inspiriert mich selbst heute noch! Ich merke es immer dann, wenn ich die Songs live spiele. Kürzlich gaben wir als Quartett ein Konzert in London – das war heftig und sehr stürmisch. Gestern gab es nur die akustische Gitarre und ein elektrisches Piano, und die pure emotionale Wucht solcher Auftritte ist manchmal viel mitreißenderfür mich. Wenn wir aber zu viert auf der Bühne stehen, können wir den Sound viel mehr erweitern und schichten, das ist eine völlig andere Welt“. Eine noch mal andere Welt sei es, sagt Proper-Sheppard, wenn zur Rockband ein Streichquartett stoße: „Das verändert die Dynamik extrem.Es klingt wundervoll, wenn es klappt. Aber es ist sehr schwierig.“

Und das Schöne an Sophia ist, dass das Songwriting bei all seiner mollsatten Fragilität doch solide genug ist, um alle Metamorphosen zu überstehen, mehr noch, um immer neue Facetten zu zeigen. Es wäre einfach ein Jammer, wenn solche Musik nur einer eingeweihten Minderheit vorbehalten bliebe.

„Ich wollte sehr lange meine Unabhängigkeit nicht aus der Hand geben , sagt Robin, „weil ich endlich hatte, was ich immer wollte. Warum sollte ich

wieder einen Vertrag unterschreiben? Aber Christoph von City Slang hörte nicht auf, überein gemeinsames Projekt zu sprechen. Undich vertraute diesemTypen. Ich schickte ihm ein Demo von peopleare like seasons, und er wollte mich sofort unterVertrag nehmen. Ich war mir wochenlang nicht sicher, bis er mich morgens vom Flughafen aus anrief: ,Wir müssen diese Platte machen!‘ und ich sagte spontan okay. Nach den schlechten Erfahrungen mit Polygramßel es natürlich nicht leicht, einen neuen Vertag zu unterschreiben. Aber wenn ich mit Sophia auf einen höheren Level will, muss ich mich darauf einlassen. City Slang machen es mir auch wirklich leicht. Ich meine: Wer auf Calexico oder Lambchop steht, könnte unsere Sachen auch mögen. Da ist Sophia in guter Gesellschaft.“

Robin Proper-Sheppard spricht so ausgiebig über dieses Thema, dass bald klar wird: Er grübelt immer noch, ob das nicht doch ein Fehler gewesen sein könnte. Und zieht nur sehr vorsichtig in Erwägung, dass ihm etwas Besseres wohl kaum hätte passieren können. Proper-Sheppard glaubt nicht an Tinte unter Verträgen. Er glaubt an Typen wie jenen gepiercten Skinhead, mit dem er kürzlich in einer Bar in Brüssel ins Gespräch gekommen ist. „Ersah wirklich ziemlich brutal aus. Wir redeten über dies und das und irgendwann auch darüber, dass ich Musiker bin. IcherwähnteThe God Machine-und er explodierte förmlich! Er zeigte mir seinen nackten Rücken, auf den eine Textzeile tätowiert war: „Why do all the things have to changej’ust when they meant so much?'“ Der Satz stammt aus dem Song „It’s All Over“, den Robin nach dem Tod von Jimmy Fernandez geschrieben hat. So transzendierten die unsichtbaren Narben auf der Seele des einen zu lesbaren Narben auf der Haut eines anderen. Wenn Sophia eine Botschaft haben, dann diese: Wunden können etwas Wundervolles sein.