Die Neue Mitte
Keine Exzesse, keine Gitarren - stattdessen: gute Ma- nieren und überlebensgroße Melodien. Keane suchen den Pop-Erfolg ohne Prolo-Bonus.TEXTMicHAELTscHERN E K
Manchmal sind es eben doch eher Nebensächlichkeiten, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Nach einem gelungenen Konzert im Kölner Gebäude 9 kommt Tim Rice-Oxley, der Keyboarder und Songschreiber von Keane, auf den Mann vom ME zu, begrüßt ihn beim Namen und plaudert drauf los, so als ob man bereits zahlreiche Nächte gemeinsam durchzecht hätte. Dabei hatten wir uns zwei, drei Wochen zuvor nur einmal beim interview in London getroffen. In der Zwischenzeit hat die Band noch zahlreiche Interviews und Konzerte gegeben, um ihrem Stern, der gerade gewaltig im Aufstieg begriffen ist, noch weiteren Auftrieb zu verleihen. Sie sind gefragt und vielbeschäftigt. Aber die Jungs sind eben einfach aufmerksam, ausgesprochen höflich, wohlerzogen. Von der Rotzigkeit der Gallagher-Brüder trennen sie Welten. Was sollte man auch anderes erwarten von den Absolventen einer elitären Internatsschule in Kent. Wenn diese Jungs überhaupt mal irgendwo hinspucken, dann höchstens dem Rock’n‘ Roll in die Suppe. Ein Doppelname wie Rice-Oxley fließt einfach zu aristokratisch über die Zunge, um wirklich Rock-kompatibel zu sein. Und die einschlägigen Rock’n‘ Roll-Klischees von Sex, Drugs und fröhlichem Zerlegen von Hotelzimmern sind dem 27-jährigen Rice-Oxley ebenso fremd wie dem Keane-Sänger Tom Chaplin, 25, und dem Schlagzeuger Richard Hughes, 28. RICHARD hughes: Wir sind kürzlich an eincmfreien Abend auf unserer Tour ausgegangen und haben uns mal so richtig die Kante gegeben. Das ist doch ziemlich Rock’n‘ Roll, oder? (lacht) Die Gruppe Busted soll neulich ein TV-Gerät aus einem Hotelzimmer geworfen haben. Sollen die deshalb etwa mehr Rock’n ‚Roll als wir sein? TOM Chaplin: Mir fällt so etwas schwer. Ich würde ein fürchterlich schlechtes Gewissen bekommen. Ich glaube, dass wir uns selbst gegenüber und auch gegenüber unseren Familien und Freunden ein hohes Verantwortungsgefühl haben. Und deshalb wollen wir nicht durch schlechtes Benehmen auffallen. Die Dinge, die Rock’n‘ Roller angeblich so tun, sind einfach nicht unsere Sache. Wir, ähetn, vögeln nicht herum (lacht)… TIM RICE-OXLEY: Dafürhaben wir einfach zuviel Respekt vor anderen Menschen. Bei all diesen Dingen, die die Leute damals in den siebziger Jahren oder auch spätergemacht haben, lief es doch immer nur darauf hinaus, andere Leute vor den Kopf zu stoßen. Die haben sich viel zu wichtig genommen. Und Leute, die keine Rockstars waren, wurden als eine niedere Klasse betrachtet, die man einfach nicht beachten muss. Es ist abwertend, wenn man die Leute so behandelt. Wenn du ein TV-Gerät aus dem Fenster deines Hotelzimmers schmeißt, dann muss das irgendjemand für dich wegräumen. RICHARD HUGHES: Unser Tourmanager würde uns umbringen, wenn wir so etwas machen. Denn er müsste die Sache ausbaden. Und er tut schon wirklich genug für uns, da muss er nicht auch noch hinter uns aufräumen. Das wäre unfair. TIM rice-oxley: Außerdem sehen wir selbst gern fern. TOM CHAPLIN: Ich denke, dass es auch unprofessionell ist, so etwas zu machen. Es ist unsere Aufgabe, bei den Konzerten aufzukreuzen und den Leuten eine gute Show zu liefern. Und das kannst du nicht vernünftig erfüllen, wenn du in der Nacht zuvor einen Haufen Koks genommen hast.
Und dann wagen sie es auch noch, ohne Gitarre anzutreten. Nichtaus Kalkül, wie Rice-Oxley beteuert, sondern vielmehr aus der Not. In ihren Anfangstagen hatten sie sogar einen Gitarristen, der die Band allerdings nach den anfänglich erfolglosen Bemühungen um einen Plattenvertrag verlassen hat. Danach wurde der Beschluss gefasst, als Trio weiterzumachen. Und wenn es erforderlich ist spielt Rice-Oxley neben den Keyboards auch gelegentlich Bass. Und selbst auf ihren Konzerten verzichten sie auf Verstärkung. „Wenn du in einer Band spielst, dann fühlst du dich wie ein Mitglied in einer Gang“ erläutert Rice-Oxley. „Wir kennen uns bereits unser Leben lang. Du bildest eine geschlossene Gruppe, und der Gedanke, dass da jemand dazukommen könnte, hat etwas Abschreckendes. Bei unseren Konzerten sitze ich am Klavier und habe direkt neben mir ein Laptop, mit dem ich die Bass-Parts abspielen kann, die ich für das Album aufgenommen habe. Wir versuchen jedoch, das Ganze so live wie möglich zu halten. Manchmal geben wir auch reine Akustik-Gigs, auf denen wir vollständig auf den Computer verzichten.“