Die Charts beweisen: Mächtige Männer können nicht aufgehalten werden
Die deutschen Charts gefallen sich als letzte Bastion gegen eine angebliche Cancel-Culture.
Der große Witz an dieser kleinen, stets heiteren Kolumne ist bekanntlich, dass sie der Realität sacht entrückte Popkasper (wie mich) und ihre Leser:innen (wie Sie) mit den harten Tatsachen in den Charts konfrontieren soll. Während sich die Kritikerkolleg:innen dusselig diskutieren über queeren Punk, Avantgardekrams und Popköniginnen wie Beyoncé, versammeln sich auf den oberen Plätzen der deutschen Charts regelmäßig Acts, die das sogenannte Feuilleton nicht mal mit der Kneifzange anfassen würde.
Zum Jahreswechsel allerdings passt kaum ein Bild besser zum aktuellen Debattenstand als die deutschen Albencharts, aktuell eine recht illustre Herrenrunde. Neben Mick Jagger und den Rolling Stones trifft man da etwa Marius Müller Westernhagen (den deutschen Mick Jagger) und leibhaftige Piraten (Santiano), aber eben auch Philipp Burger, Sänger der national tönenden Band Frei.Wild, die sich zwar immer wieder artig von Extremismus zu distanzieren versucht – auf eine Rechtsrock-Vergangenheit bei der Skinheadband Kaiserjäger kann Burger trotzdem zurückschauen.
(Angebliche) Hexenjagden und Schauprozesse
Auch dem Erfolg von Till Lindemann, wie Burger in den Charts mit einem Soloalbum, konnte ein Sommer der Enthüllungsgeschichten ganz offensichtlich wenig anhaben. Ähnliches gilt für Michael Bublé, der vor wenigen Jahren wegen aggressiven Verhaltens seiner Frau gegenüber in die Kritik geriet: Auch dessen Weihnachtsalbum wird fleißig gekauft.
Bevor den Fans der Genannten der Hut hochgeht – es soll an dieser Stelle niemand schuldig gesprochen werden, der nicht rechtskräftig verurteilt ist. Interessant ist es aber schon: Da liest man ständig von angeblichen Hexenjagden und Schauprozessen woker Furien, und am Ende läuft und tourt und tönt doch alles weiter wie immer. Die gewaltige Maschine namens Musikindustrie können Skandale um mächtige Männer kurz ins Stottern bringen, nicht aber aufhalten. Ob man das gut findet oder nicht: Immerhin kann man 2024 kardinalsblöde „Was darf man eigentlich noch?“-Debatten mit Verweis auf die Charts abkürzen.
Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 2/2024.