DIE 20 BESTEN SYNTHIE POP ALBEN
PHASE I
1979 – 1983
Das siebte Album der Band Kraftwerk heißt DIE MENSCH-MASCHINE. Es erscheint im Jahr 1978 und begründet ein neues Genre: den Synthie-Pop. Die britischen Jünger der Düsseldorfer legen sofort los, bauen das Genre weiter aus und um. Die Gegenwart des Pop klingt in diesen Jahren so futuristisch wie nie zuvor. Dies sind die wichtigsten zehn Alben aus dieser Zeit – der „Phase I“ des Synthie-Pop von 1979 bis 1983.
1 GARY NUMAN
THE PLEASURE PRINCIPLE
Noch im Frühjahr 1979 hatte Gary Numans Tubeway Army auf dem Album RE-PLICAS gefragt: „Are Friends Electric?“ Numan trennte sich von seiner Band, entsorgte die Gitarren und brachte bereits im Herbst THE PLEASURE PRINCI-PLE heraus. Zum Minimoog gesellte sich der mehrstimmige Polymoog mit seinen geisterhaften Vox-Humana-Sounds. Die Beats wurden synthetisiert. Im Zukunftsrausch vergaß aber auch Numan nicht, wem er zu danken hatte: „Cars“, die erste Single, wollte er als traditionsbewusste Synthie-Pop-Variation von Kraftwerks „Autobahn“ verstanden wissen, damals schon ein Klassiker der Mensch-Maschinen-Musik. Die Klangkonsolen wurden Numans Freunde. THE PLEASURE PRIN-CIPLE beherrschte 1979 im Advent die Albumhitparade Großbritanniens. Ultravox und Human League, Visage und OMD begannen, Gary Numan nachzueifern, und die Synthie-Industrie erlebte einen steilen Aufschwung. Michael Pilz
2 JAPAN
QUIET LIFE
Hatten wir es hier mit einer Wiedergeburt von Roxy Music unter dem Stern des Synthie-Pop zu tun? Mindestens die ersten beiden Tracks des dritten Japan-Albums verrieten jene Liebesbeziehung, die David Sylvian mit Bryan Ferry in einem anderen Leben gehabt haben muss. Die Band Japan existierte 1979 bereits fünf Jahre und hatte den Anschluss an Punk und New Wave eigentlich schon verpasst. Im Studio mit Roxy-Music-Produzent John Punter gelang Sylvian, Mick Karn (Bass, Saxofon), Steve Jansen (Drums) und Richard Barbieri (Synthesizer) aber ein Kunstgriff, sie verabschiedeten den geliebten Glam-Rock auf elektronischen Soundwellen und begrüßten das neue Jahrzehnt mit einer frisch gestylten Sehnsuchtsmusik. QUIET LIFE bezog einen esoterischen Außenposten im noch jungen Synthwave, und ein blondierter, bleichgesichtiger Brite mit spitzer Krawatte wehklagte Lou Reeds „All Tomorrows Parties“ in eine neue Dimension. Frank Sawatzki
3 JOHN FOXX
METAMATIC
John Foxx betrachtete sich nie als Musiker, sondern als bildender Künstler. Seine Soloalben neben seiner Mitarbeit bei Ultravox veröffentlichte er als Soundskulpturen. METAMATIC war benannt nach einer Malmaschine des Künstlers Jean Tinguely. Foxx selbst benutzte zur Synthese seiner Stücke eine String Machine von Elka aus Italien, einen ARP Odyssey wie Manfred Mann und für die Rhythmen einen Roland CR-78. Als Klavieranfänger überließ er anspruchsvollere Passagen seinem Lehrer und die Produktion dem späteren Mute-Tonmeister Gareth Jones. Es ging Foxx mehr ums Programmatische, um klingende Science Fiction. In Songs wie „A New Kind Of Man“ und „Metal Beat“. John Foxx erklärte seinerzeit, die Popmusik könne die 70er-Jahre nur im konsequenten Futurismus überwinden. Um sein künstlerisches Ansinnen zu unterstreichen, verlieh er sich selbst den Ehrentitel „Marcel Duchamp des Electropop“. Michael Pilz
4 ORCHESTRAL MANOEUVRES IN THE DARK
ORGANISATION
Auch Orchestral Manoeuvres In The Dark gingen den Weg von The Human League von der experimentell motivierten elektronischen Musik über den Synth-Pop hin zu einer ärgerlichen Kitschmusik. Aber 1980, als ORGANISATION, das zweite Album der britischen Band, veröffentlicht wurde, hing der Himmel noch voller Synthesizer. Der Titel des Albums bezieht sich auf den Namen der Vorgängerband von Kraftwerk, als diese noch weit davon entfernt war, den Elektro-Pop zu erfinden. ORGANISATION ist eine Sammlung von neun minimalistischen bis flächigen Popsongs, die geschickt die Balance halten zwischen zeitgeistiger New-Wave-Unterkühltheit und einer anheimelnden Wärme. Einmal aber gefriert das Blut: Wenn OMD fröhlich „Enola Gay“ besingen, den Bomber, der im August 1945 die Atombombe auf Hiroshima abwarf. Albert Koch
5 VISAGE
VISAGE
Der Angriff der Weißclowns! Wen es beruhigt: Die neuromantische, geheimnistuerische Art von Steve StrangeS Truppe mitsamt dem ganzen Performance-Zirkus drumherum konnten unbeschwipste Menschen schon damals nicht so richtig ernst nehmen. Aber an dem Genre-Überhit „Fade To Grey“ kam trotzdem keiner vorbei. Auf dem zugehörigen Albumdebüt wird zwar auch darüber hinaus viel geraunt, alle Synthesizerflächen schweben hoch!, es gibt Glockenspiel („Mind Of A Toy“) und David-Hamilton-verdächtige Sound-Weichzeichnerei. Tatsächlich sind Songs wie das bohrende „Tar“ oder der gehetzte „Malpaso Man“ aber schärfer umrissen, als man vermuten könnte. Der Einfluss der beteiligten Ultravox-und Magazine-Musiker ist kaum zu überhören. Eine wegweisende Platte, nicht nur für die Elektroclash-Band/Performance-Truppe Fischerspooner, die dann aus ganz ähnlichen Gründen wie Visage nie richtig ernst genommen wurde. Oliver Götz
6 HEAVEN 17
PENTHOUSE AND PAVEMENT
Wie politisch sind Musikmaschinen? Heaven 17 erklärten 1981: „(We Don’t Need This) Fascist Groove Thang“. Damit protestierten sie gegen den Thatcherismus, aber auch gegen die Diktatur der Rockmusik. Im Jahr zuvor hatte sich Martyn Ware von Human League getrennt und die British Electric Foundation gegründet. Eine Produktionsfirma für zukunftsweisende Musik, die Platten aufnahm wie MUSIC OF QUALITY & DISTINCTION VOLUME ONE. Besonders angetan hatte es Ware der Linn LM-1. Der erste Drumcomputer, erfunden vom kalifornischen Rockgitarristen Robert Linn, war das Fundament für PENTHOUSE AND PAVEMENT. Großzügig erweiterte das Debüt von Heaven 17 bereits den engeren Synthie-Pop-Begriff. Es gab künstliche Bläsersätze, aber auch ein echtes Solosaxofon. Leibhaftige Musiker spielten Klavier und Schlagwerk, Bässe und sogar Gitarren. Martyn Ware war schließlich kein Musikfaschist. Michael Pilz
7 THE HUMAN LEAGUE
DARE
Es gibt ein Missverständnis im Zusammenhang mit dem dritten Album von The Human League: DARE, so wird kolportiert, stelle nach dem Weggang der Songwriter Martyn Ware und Ian Marsh (die anschließend Heaven 17 gründeten) die experimentelle Elektro-Pop-Ausrichtung der beiden ersten Alben REPRODUCTION (1979) und TRAVELOGUE (1980) total auf den Kopf. In der Tat war das, was Phil Oakey und Philip Adrian Wright mit den Sängerinnen Joanne Catherall und Susan Ann Sulley hier zeigten, eine Spur poppiger; Hauptgrund für die Kolportage aber war, dass die Hitsingle „Don’t You Want Me“, die heute noch perfekt als Stimmungskanone auf Betriebsweihnachtsfeiern funktioniert, in ihrer unverschämten Poppigkeit das Album überstrahlte. Die neun anderen Songs führten in ihrer kühlen Soundästhetik das fort, was Kraftwerk drei Jahre vorher mit DIE MENSCH-MASCHINE in die Popwelt eingeführt hatten. Albert Koch
8 SOFT CELL
NON-STOP EROTIC CABARET
Gab es eine Party in den 80er-Jahren, auf der der alte Ed-Cobb-Soul-Klassiker „Tainted Love“ in der Trash-Synth-Version von Marc Almond und Dave Ball nicht gelaufen ist? Soft Cell hatten dem Northern Soul einen Elektromotor verliehen, dafür sind wir ihnen ewig dankbar, sie öffneten dunkle Räume weit hinter der keimfreien Disco-Kultur der Zeit. Auf dem Album tauchten wir in die schäbige Welt der „Seedy Films“, lauschten Almonds „Sex Dwarf“-Litaneien, stießen diesen Schrei im Namen des Punk noch einmal aus, nur viel gnadenloser: „Fru-Fru-Fru-Fru-Frustratioooon!“ Danach durfte niemand mehr ungestraft behaupten, dass Synthie-Pop kalt sei. NON-STOP EROTIC CABARET ist das Dramolett unter den synthetischen Pop-Platten der frühen Achtziger – nostalgisch und futuristisch, romantisch, glamourös, aufreizend catchy. Und: Hätten wir Soft Cell nicht gehabt, wäre uns Scott Walker nie in den Sinn gekommen. Frank Sawatzki
9 YAZOO
UPSTAIRS AT ERIC’S
„Looking from the window above, it’s like a story of love, can you hear me?“ Mit diesen Zeilen brachen Yazoo in den Frühling 1982 ein. Die Single „Only You“ bescherte der Synthie-Pop-Jugend ihre erste echte Schnulze. Die Sängerin hörte sich an, als wäre sie direkt aus einer Motown-Revue auf den Plattenteller gefallen. Alison Moyet hatte im britischen „Melody Maker“ per Annonce eine „rootsy blues band“ gesucht und das Interesse des Elektronik-Tüftlers Vince Clarke geweckt, der gerade bei Depeche Mode ausgestiegen war. Auf ihrem Debüt trifft die Erzählstruktur des Blues auf den Maschinensturm der ersten britischen Synthesizer-Generation, das Spektrum reichte von gepfefferten Hits („Don’t Go“) bis zu akademischen Collagen aus Laborsounds und Sprachfetzen („I Before E Except After C“). Yazoo avancierten zur Sensation eines Sommers, auf dem Folgealbum war der Zauber der Chemie schon fast wieder verflogen. Frank Sawatzki
10 EURYTHMICS
TOUCH
Schon „Sweet Dreams (Are Made Of This)“ im Januar 1983 war die überzeugende Reduktion des Synthie-Pop aufs Wesentliche. Dave Stewart nahm ein Bassmotiv, gespielt auf einem Roland SH-2, rückwärts laufend auf. Ein Roland Juno 60 sorgte für die Streicher. Auf das Album SWEET DREAMS (ARE MADE OF THIS) folgte bereits im November 1983 TOUCH. Es erreichte den ersten Platz der Albumcharts in Großbritannien. Synthie-Pop gehörte damit endgültig zum kulturellen Allgemeingut. Annie Lennox und Dave Stewart popularisierten damit auch die Rollenbilder des verschwiegenen Tüftlers und seines geschlechtslosen Gesangswesens. „Here Comes The Rain Again“ und „Who’s That Girl?“ trugen die Botschaften des Genres in die Welt. Dass sich die Eurythmics nach dem Soundtrack-Album 1984 (FOR THE LOVE OF BIG BROTHER) der monströsen Stadionunterhaltung zuwandten, ist eine andere Geschichte, eine fast schon tragische. Michael Pilz
PHASE II
2001 – 2012
Der Sound der lange geächteten Pop-Achtziger wird erst wieder unter den Kindern dieses Jahrzehnts salonfähig. Die ersten jungen Retromanen kopieren ab Beginn des neuen Jahrtausends auch den Synthie-Pop. Manche absolut originalgetreu, andere respektloser und verspielter. Dies sind zehn wichtige Platten des bis heute anhaltenden Revivals -nennen wir es: „Phase II“.
11 LADYTRON
604
Heute darf man Retro dazu sagen. Ladytron debütierten 2001 als eine Boygirlgroup der etwas anderen Art: die Band als Zitatapparat, der Sounds und Bilder aus jener Zeit ausspuckte, als die aktuelle Popmusik sich so schön futuristisch anhörte. Das hatte zwar auch ein bisschen mit dem Krautrock der Siebziger und Easy Listening zu tun, mehrheitlich huldigte die Liverpooler Band aber dem naiven Synthiesound der frühen analogen Jahre. Ihr erstes Album 604 hat auch ein Jahrzehnt später nichts von seiner Aufb ruchsstimmung verloren. Ladytron setzten mit ihren elegant geschwungenen Vintage-Electronic-Tracks die Wiederentdeckungsmaschine unwiderstehlich in Gang: vom durchtriebenen Synthie-Disco-Heuler „Playgirl“, der von der Entfremdung im Pop-Betrieb erzählte, bis zur hochromantischen Ode an denselben Pop-Betrieb, „He Took Her To A Movie“, halb Kraftwerk-Klau, halb Girl-Group-Fantasie. Frank Sawatzki
12 ZOOT WOMAN
LIVING IN A MAGAZINE
Stuart Price ist ein Kind der Achtziger und in seinen Sound-und Style-Vorlieben unverbesserlich. Seine Produktionen für Stars wie Madonna und The Killers machten ihn dann auch zu einem wichtigen Antreiber des 80er-Revivals der letzten Jahre. Das Debüt seiner Band Zoot Woman, das als wesentlicher Impulsgeber für den allerdings rougheren Retrotrend Electroclash gilt, beschränkt sich nicht auf den Synthie-Pop als Einfluss – oder besser: Es interpretiert Synthie-Pop so breit, dass er bei „Video Killed The Radio Star“ von Trevor Horns The Buggles anfängt und bei den Pet Shop Boys noch lange nicht aufh ört. Das Songwriting orientiert sich eher an gewachsenen Kräften wie Hall & Oates oder Roxy Music (gecovert wird dennoch Kraftwerks „The Model“). Der Groove der meisten Stücke ist für das Genre geradezu ungehörig. Und man würde sich wünschen, die Originale der Achtziger hätten so prächtig geklungen wie das hier. Oliver Götz
13 THE KNIFE
DEEP CUTS
Weltweit bekannt wurde dieses Geschwisterduo mit seinem dritten Album SILENT SHOUT. Erst danach erfuhr man, dass sich zuvor schon etwas getan hatte. Karin Dreijer Andersson erzählt von ihrer Lust auf eine „Girls‘ Night Out“ und Bruder Olof Dreijer teilt in einem kurzen Funk-Track mit, wo sich gerade sein Geschlechtsteil befindet. Das ist nicht gerade das, was man gemeinhin mit dem Wort deep verbindet. Dennoch muss man das Album unbedingt ernst nehmen. „Heartbeats“ oder „You Take My Breath Away“ gehören zum Standardrepertoire von The Knife. Es sind Songs, die einerseits unverschämt eingängig sind, aber auch über genügend Persönlichkeit verfügen. Die Welt des Duos wird von Karins mädchenhafter und zugleich exzentrischer Stimme und Olofs ausgetüftelten, leicht fernöstlich anmutenden Sounds dominiert. Unter normalen Umständen hätte das viel mehr abgefeiert werden müssen. Aber der Erfolg kam dann ja. Thomas Weiland
14 EMPIRE OF THE SUN
WALKING ON A DREAM
Das Cover könnte glatt einem Kitschkalender entnommen sein. Die Musik ist erst recht skurril, wenn man bedenkt, womit die beteiligten Musiker vorher beschäftigt waren. Luke Steele (The Sleepy Jackson) und Nick Littlemore (Pnau) waren bis dato jedenfalls nicht als Synthie-Popper aufgefallen, aber hier verfallen sie diesem Sound wie bei einem heißen Liebesabenteuer. Der Rhythmus geht schnurstracks geradeaus, Synthesizer erzeugen sphärische Gebilde und dazu kommt eine Stimme, die zwischen Fistel und Falsett liegt. In „Breakdown“ wird es etwas lebendiger, klingt es nach Prince und Funk. Aber sonst schweben Steele und Littlemore konsequent durch ihre Traumkulissen. Zusammen mit Cut Copy und Midnight Juggernauts steht dieses Duo nicht nur für einen besonderen Umgang mit dem Synthie-Pop-Genre. Es steht auch repräsentativ für Fortschritte, die Australier auf dem Gebiet der elektronischen Musik gemacht haben. Thomas Weiland
15 LA ROUX
LA ROUX
Von Anbeginn an hatte die 21-jährige Londonerin ihre Karriere mit Haarspray fixiert. Elly Jackson stand auf große Frisuren, und hinter dem frankophilen Logo spürte die vornehm blasse Schauspielertochter den romantischen Auswüchsen des Synthie-Pop nach. House-Produzent Ben Langmaid war der Mann im Hintergrund (und doch offizielles zweites Mitglied von La Roux), der Ellys hochgepitchte Chansonstimme fest auf die Synthies klebte. LA ROUX, so auch der Titel des Debütalbums von 2009, warf einen Jukebox-Hit nach dem anderen aus, alle munter-melancholisch: „In For The Kill“,“Tigerlily“,“Quicksand“,“Bulletproof“. Zeitgeisty nannten die Engländer das Spiel mit dem Fetisch Synthie-Pop, La Roux entführten ihn mit coolem Falsett, unkomplizierten Beats und in Gedanken an Bands wie Blancmange wieder auf den Dancefloor. Für Elly war das Traumatherapie, sie war gerade vor Liebeskummer zusammengebrochen. Frank Sawatzki
16 JOHN MAUS
WE MUST BECOME THE PITILESS CENSORS OF OURSELVES
Würde man es wagen, John Maus zu fragen, ob er seine Musik als Synthie-Pop eingeordnet wissen will, wäre wahrscheinlich heftiger Protest die Reaktion des Künstlers. Schon verständlich, aber auch nur die halbe Wahrheit. John Maus, 32-jähriger Avantgarde-Musiker aus Minnesota und zeitweise Mitglied von Ariel Pink’s Haunted Graffiti, paraphrasiert auf seinen Alben die Barock-und Mittelaltermusik mit den Mitteln der 80er-Jahre. Polyphone Synthesizer erschallen in hymnisch perlender Feierlichkeit, die Drummachine geht stoisch voraus und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Dazu singt John Maus mit seinem tiefen Bariton, der an die Stimme von Ian Curtis erinnert. Die Maus-Lieder könnten leicht als Neo-Goth missverstanden werden, sind aber Bestandteil einer Meta-Musik, (die trotz mysteriöser Songtitel wie „The Crucifix“ oder „Cop Killer“) nur sich selbst als Thema hat. Albert Koch
17 AUSTRA
FEEL IT BREAK
Der Grat ist schmal, der den Synthie-Pop von jener Art konsensfähiger Goth-Musik unterscheidet, die vorzugsweise auf Festivals in Ostdeutschland gefeiert wird. Austra, das Trio aus Toronto, Kanada, unter der Führung von Sängerin und Keyboarderin Katie Stelmanis bewegt sich auf diesem Grat – aber mit einer derartigen Sicherheit, dass ein Abrutschen auf die Seite der Zuhörer mit den lila Strähnen im schwarz gefärbten Haar und den süßen, kleinen Fußgelenktattoos zu keiner Zeit droht. Der elektronische Pop auf dem Debütalbum FEEL IT BREAK wird von Austra mit genau dem richtigen Maß an Dramatik vorgetragen; die vollelektronischen Backings der Songs erzeugen eine unterkühlte Stimmung. Die allerdings wird durch wunderbare Melodien (nicht nur in den beiden Hits „Lose It“ und dem sehr morodernden „Beat And The Pulse“) und von Katie Stelmanis‘ ausgebildeter Gesangsstimme abgemildert. Und das nennen wir ja dann Pop. Albert Koch
18 FORD & LOPATIN
CHANNEL PRESSURE
Hier findet beileibe kein artenreiner, allzu respektvoller Umgang mit dem synthetischen Pop der Achtziger statt, aber das ist ja, was man sich wünscht als Konsument, der nicht aufgibt, an irgendeine Form von „Fortschritt“ in der Popmusik zu glauben. Und vor allem finden sich auf diesem Album Einflüsse unter anderem aus Italopop, Funk und sogar House, die wir den hier aus der „Phase I“ vorgestellten Platten niemals durchgehen lassen würden. Die Story dieses Konzeptalbums über einen Teenager, der im Jahr 2082 gegen Supercomputer aufb egehrt, enttarnt CHANNEL PRESSURE zudem als astreinen Retrofuturismus. Ein schwieriges Feld, weil die Form dabei oft den Inhalt überholt. Doch was Daniel Lopatin (Oneohtrix Point Never) und Joel Ford (Tigercity) hier unter Mithilfe des Produzenten Scott Herren (Prefuse 73) – zuweilen am Rande der Reizüberflutung – zusammenbasteln, funktioniert als Platte über die Achtziger ganz wunderbar. Oliver Götz
19 KARIN PARK
HIGHWIRE POETRY
Wenn einst das große Buch der Popmusiker, die sich neu erfunden haben, geschrieben werden sollte, muss unbedingt ein Kapitel Karin Park gewidmet werden. Vor HIGHWIRE POETRY hatte die 34-jährige Schwedin schon drei Alben veröffentlicht. Die waren mal mehr (SUPER-WORLDUNKNOWN), mal weniger (ASHES TO GOLD) erheblich. Ihr harmloser, altbackener Pop-Rock aber hatte die Sängerin zumindest big in Norway gemacht. Mit HIGHWIRE POETRY kam dann im August 2012 die unerwartete künstlerische Neupositionierung unter der Regie von Produzent Christoffer Berg (The Knife, Fever Ray, Massive Attack). Das Album enthält zehn semidüstere Moritaten, Beats aus Nullen und Einsen, leichte Einflüsse aus der aktuellen britischen Bassmusik, die Hauptrolle aber spielt der Synthesizer. „Irgendwo zwischen Fever Ray und Björk“, schrieb der Musikexpress damals über die Stimme Karin Parks und hat damit immer noch recht. Albert Koch
20 TRUST
TRST
Die, die dem Synthie-Pop auch noch ab dem Zeitpunkt, als er technisch überholt war, weiter etwas abgewinnen konnten, wollten einfach nicht genug kriegen von der kalten Ausstrahlung seiner frühesten Ausprägung. Sich in einer solchen Umgebung langfristig wohlzufühlen, deutet auf eine morbide Ader hin: Synthie-Pop mutierte zur amtlichen Goth-Musik. In dieser Tradition steht auch der Kanadier Robert Alfons, der mit seinem Debüt allerdings vor allem in Kreisen Aufmerksamkeit zieht, die sich über den ausgeleierten Begriff Indie definieren. Kein Wunder, Witchhouseler wie Salem oder die Noise-Elektroniker von Crystal Castles haben hier ganze Vorarbeit geleistet. Dass man sich eine solch astreine, dunkel funkelnde Synthie-Pop-Platte wie TRST am Ende mit Wave-Gotik-Treffen-Besuchern teilen muss, dürfte für die ein viel größeres Problem darstellen. Galt ihre Szene doch als eine der wenigen Subkultur-Nischen noch als einigermaßen autonom. Oliver Götz