Jahresrückblick 2019

5 Deutschrap-Momente aus dem Jahr 2019, die hängen bleiben dürfen


Internationale Sounds von Stuttgart bis Wien: Ein kurzer Abriss über einige Rap- und Pop-Momente, die im Hinblick auf die Zukunft des Mainstreams hoffnungsvoll stimmen.

2019 wurde der Siegeszug des deutschen HipHop fortgeführt: Eine schier unübersichtliche Masse an erfolgreichen Newcomern poppten auf, Capital Bra und Mero schufen neue Klickrekorde und warfen die Frage nach der Authentizität eben dieser auf. Abseits dieses Sounds gab es aber genug Grund, den Pop aus der Jugendkultur hierzulande zu schätzen: Viele Künstler folgten dem Weg ihrer US-amerikanischen Vorbilder, trotz (oder gerade wegen) ihrer großen Popularität musikalische Eigenwilligkeit zu praktizieren und sich künstlerisch von ehemaligen Hits zu emanzipieren. Ein kurzer Abriss über einige Momente, die im Hinblick auf die Zukunft des Mainstreams hoffnungsvoll stimmen.

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RIN feat. Bilderbuch: „Nimmerland“

Der tropische Autotune-Rap des Biethigheim-Bissingers verdrehte bereits mit dem Debüt EROS den Millenials den Kopf und zeigte bei aller kontemporärer Oberflächlichkeit eine dunkel-verruchte Romantik. Neben den erwartbaren Trap-Hits des neuen Albums NIMMERLAND ist es aber der Neo-Soul-getränkte Titeltrack, der ahnen lässt, zu welchen Sounds es RIN mit der nötigen künstlerischen Entfaltungsraum schaffen könnte. Die Feature-Gäste Bilderbuch grooven mit ihrem unverkennbaren Wiener Future-Pop-Charme den Song zuende und werfen die Frage auf, wieso an diese zu jeder Sekunde organische Kombination der beiden Künstler vorher niemand gedacht hatte. Beide bringen eine gewisse Szene-Zugehörigkeit mit sich (Deutschrap und Indie), waren im Herzen aber schon immer sensibler Popmusik verfallen, getränkt in echte, aber kitschig durchstilisierte Gefühle, getragen von Sexyness und viel Style. RINs Part nimmt sich genug Zeit für die schwüle Atmosphäre und klingt wie ein Fiebertraum aus fernen Welten, während Bilderbuch und ein säuselnder Maurice Ernst mit butterweichem Stilbruch diese surreal-melancholische Trance komplettieren: „Meine Augen flimmern heut wie kaltes Licht/Alle seh’n den Schimmer, wenn dein Herz zerbricht/Ich geh‘ nicht mehr schlafen, wenn ich bei dir bin/Oder, es ist was in den Tabletten drin.“

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MAJAN & Cro: „1975“

Hey Cro, bitte lass das mit dem Pascha-Pop!

Wie es sich mit so viele anderen Trends auch verhält, machen neue musikalische Entwicklungen in Deutschland erst ein bis zwei Jahre nach ihrem US-Erfolg halt. Nach beispiellosem Erfolg vor kreischenden Teens machte Cro mit TRU (2017) dennoch Platz für eine radikale Neuorientierung am zeitgemäßen Sound seiner amerikanischen Kollegen und dem neuen Ansatz, Pop von nun an als Kunst zu begreifen, die Sperrigkeit und Progressivität nicht ausschließt. Seine Zusammenarbeit mit dem 19-jährigen MAJAN mag nicht den durchaus ambitionierten Songstrukturen von TRU zu folgen, besticht aber mit wegweisendem Sound-Design auf den Spuren von Post Malone – ein hierzulande neuer Ansatz, der die Standards von Übersee auf deutscher Sprache direkt in die Clubs des Landes katapultierte. Wohlig-warme Synthies treffen auf die zuckersüße Hook-Melodie, Triplet-Flow auf stilsichere Mumbles, Trap-808s auf die auf den Punkt gebrachte, hinreißende Inhaltsleere der beiden Künstler: „Baby, I know, I got baggage wie Mary J. Blige/Bin immer broke, hab‘ nie Zeit und bin everyday high/Devil inside/Oh baby give me the night, wie 1975.“ Das Prädikat „deutschsprachig“ ist hier mit Vorsicht zu genießen.

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Leoniden und ihr Indie-Siegeszug

Ähnlich wie hier, denn auch 2019 gab es diese unerschütterlichen Optimisten, denen man einfach nicht böse sein konnte. Die Everybody’s Darlings des deutschen Indiepops heißen seit geraumer Zeit, spätestens aber seit ihrem Zweitwerk AGAIN aus dem vergangenen Jahr: Leoniden. Wieso sie in dieser Liste auftauchen? Leoniden spielen keinen Deutschrap. Sie sind aber gerade deshalb ein Beispiel dafür sind, dass rund zehn Jahre nach dem großen Indierock-Hype vielen jungen Menschen dessen angeblicher Niedergang offenbar herzlich egal ist. Auch wenn es manchmal denn Anschein erwecken mag: Millenials hören nicht ausschließlich Deutschrap, und Leoniden sind in Zeiten omnipräsenten HipHops ein willkommener Gegenpol auf der gitarrenlastigen Seite der Medaille – auch, wenn es durch gemeinsame Shows mit Kummer oder Casper mit Sicherheit auch einige Überschneidungen der beiden Lager gibt.

Die dauertourenden Kieler haben vom Szene-Hype über gefundenes Fressen des alternativen Mainstreams mehrere Stufen des kurzweiligen Erfolgs beschritten – nun ist aber felsenfest klar, dass aus dem hohen Norden diese neue Live-Macht angerollt kam, um zu bleiben. Weit über 100 Konzerte im vergangenen Jahr, darunter einige Shows mit AnnenMayKantereit, sprechen eine eindeutige Sprache. Sollte es 2020 so weitergehen, wovon auszugehen ist, könnte das Quintett Kraftklub den Titel als größter (und eskalierendster) Nicht-HipHop-Liveact des Landes streitig machen. Hurricane Headliner 2022? Nevermind.

Leoniden – „Sisters“ (Live in Kiel):

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Max Herre – „Athen“

Max Herre :: Athen

Tuas Handschrift auf dem gepitchten Gesang und Kanye-eske Drum-Hits läuten das leise, aber erwartbare Scheitern der Liebe ein: „5 km/h auf dem Seitenstreifen/Wie bring‘ ich sie dazu, wieder einzusteigen?“ Die wahre Großtat von Grown-Man-Rapper Max Herre ist aber das große, einfühlsame Sound Design des Titelsongs zu seinem gleichnamigen Album. Analoge Synthesizer-Flächen verbinden sich hier mit schwebend-tiefen Gitarren-Akkorden zu Klang gewordener Schwermütigkeit – ein Stilmittel, das sowohl an 70er-Psychedelic erinnert als auch an zeitgenössische Drake-Melancholie. Als erste Single-Auskopplung ein zweieinhalb Minuten langes Pink-Floyd-Instrumental im Zentrum des Songs abzufeuern, könnte man zumindest ambitioniert nennen – die organische Band-Ästhetik samt weinerlich-verzerrter Gitarren bietet aber den idealen Kontrapunkt zum erschöpften Spoken-Word-Rap des Künstlers. Ausgerechnet der Elder Statesman Max Herre beschert deutschem HipHop ein Highlight des Jahres – und das gerade, weil es so selten nach Deutschrap klingt.

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Casper & Marteria verkaufen die Hamburger Trabrennbahn aus

Es ist schon ein Ereignis, wenn die beiden wohl mit am einflussreichsten Pop-Rapper der endenden Dekade gemeinsame Sache machen – das war auf nicht wenigen Tracks so, das war auf einem leider eher durchschnittlichen Album so, das ist aber vor allem bei ihren Live-Shows der Fall. Dass Casper und Marteria schon für sich genommen Stadion-Giganten sind, dürfte niemanden überraschen. Zusammen aber entwickelte sich aus der Kollabo-Platte 1982 eine denkwürdige Tour, die im August mit einem Konzert der Superlative in einer mit 16.000 Zuschauern ausverkauften Trabrennbahn in Hamburg ihren Höhepunkt erreichte. Der Ort, der sonst nur für die Foo Fighters gemacht scheint, steht in diesem Kontext für den langen Atem der beiden Künstler, die vor zehn Jahren bereits gemeinsam mit den Orsons eine weniger als spärlich besuchte Tour spielten – 100 Gäste waren das höchste der Gefühle. „Diese beiden Rap-Vögel“, wie Thees Uhlmann Casper und Marteria in Bezug auf das Stadionkonzert liebevoll nannte, bildeten mit ihren HipHop-Klassikern ZUM GLÜCK IN DIE ZUKUNFT und XOXO die Blaupause für so vieles, was heutzutage im Bereich Pop und Deutschrap Standard ist – allen voran der kommerzielle Erfolg. 16.000 Menschen können ein Lied davon singen.

Casper & Marteria – „Champion Sound“ (Live beim Kosmonaut):

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Was außerdem in diesem Jahr geschah, könnt Ihr in unseren „Jahresrückblick 2019“-Specials, Listen und News nachlesen. Online und im Heft.

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