DER TIEFSTAPLER
Einmal wird Archy Marshall sauer. Die Plattenfirma übernahm für den Pressetext seines ersten Albums SIX FEET BENEATH THE MOON ein Zitat aus dem „Guardian“. Der 18-Jährige habe sich „still und heimlich zur Stimme einer neuen Generation“ entwickelt. Archy Marshalls Augen funkeln wütend, und er sagt: „Ich wäre schon zufrieden, wenn ich mit mir selbst klarkäme. Danach kann ich gerne anfangen, für irgendwelche Generationen zu sprechen.“
Nun ist es durchaus verständlich, dass sowohl die Inselpresse als auch das eigene Label Archy Marshall alias King Krule mit stolzgeschwellter Brust feiern. Denn es ist der zweite Anlauf. Alle sind also doppelt aufgeregt. Schon vor drei Jahren veröffentlichte Marshall einige Tracks unter dem Pseudonym Zoo Kid und löste damit einen veritablen Hype aus. Als auch der letzte Blog einen seiner Songs geteilt oder auf seine Soundcloud-Seite verlinkt hatte, ließ er Zoo Kid sterben und machte als King Krule weiter. Genauer begründen möchte er das nicht, vielleicht kann er es auch gar nicht. Es habe, so sagt er, eine neue Phase seines Lebens begonnen. Auf jeden Fall erlebt Marshall jetzt seinen zweiten Hype, und der findet einige Stockwerke höher statt als der erste: Plattenvertrag bei XL Recordings, Festivalauftritte auf der ganzen Welt, und eben auch Interviewreisen. Marshall, das merkt man, probiert sich da noch aus. Versucht, sich zu orientieren. Trinkt zum Frühstück ein Bier und wechselt einige Male seinen Duktus. Manchmal sagt er Sätze, die radikal sind, die Meinung transportieren. „Alles, was man über Musik wissen muss, kann man von Ian Dury lernen“, zum Beispiel. Im Vertrauen: Das stimmt nicht, auch wenn King Krule und Ian Dury sich ähneln in ihrem Bestreben, Soul und Pop und Offb eat und jeweils kontemporären Dance und ja, auch Punk zu verbinden.
Meistens ist er aber der 18-Jährige, der ohne das auskommt, was seine Altersgenossen wohl Alltag nennen würden und mit dieser Rolle hadert. Ein Wunderkind. Ein Wunderkinderstar, der mit seinem kaum älteren Manager um die Welt geschickt wird, um das Erwachsenenbusiness Pop zu erleben. Der 18-Jährige fläzt sich also im Konferenzraum eines Berliner Hotels auf ein Ledersofa, das eine ganz ähnliche Farbe hat wie seine Haare. Manchmal gähnt er, manchmal lacht er, und sein Interesse, die Fragen ausführlich zu beantworten, steigt exponentiell dazu, wie weit sie von seinem Werk entfernt sind. Bedeutet: Man kann mit ihm hervorragend über P.M. Dawn parlieren, jene HipHop-Brüder, für die seine Mutter die Outfits schneiderte, die aktuelle Hemdenkollektion der Mutter, für die er auf seiner Seite etwas Werbung macht, oder über den Themenkomplex „Ska – Segen oder Fluch“. Auch über die musikalischen Qualitäten von The Damned (DAMNED DAMNED DAMNED war das erste Album, das er jemals kaufte) oder Herbie Hancock (die letzte Platte, die er kaufte, war einige Tage zuvor MAN-CHILD) spricht er durchaus freudvoll, über die Situation an britischen Clubtüren (strenger denn je, nicht mal mit Fake-Ausweisen kommt man als Underager rein) und über seine Heimat Südlondon, den Schmelztiegel mit afrikanischer, indischer, chinesischer Kultur und Musik, ebenfalls. „Der Vibe ist es. Manchmal gehst du um eine Ecke und alles ist anders. Der Geruch. Der Sound. London ist eine Romanze, Mann.“
Es sind kleine Bestandteile einer Konversation, die zunächst ziellos erscheint. Und doch ergeben sie nach einer Weile ein Ganzes. Man muss sich Archy als einen Jungen vorstellen, in dessen Leben Musik früh die Hauptrolle übernahm. Der erste Lieblingssong: „Gangsta’s Paradise“ von Coolio. Sein Schlaflied als Kleinkind. Er war fünf oder sechs Jahre alt, als er das erste Mal auf ein Konzert der Rocksteady-Band seines Onkels ging. Mit acht Jahren waren Abende mit lauter Live-Musik seine Lieblingsbeschäftigung. Er lernte Gitarre – und Klavier gleich mit. Nachmittags spielte er am Computerprogramm Cubase herum, mit dem seine Mutter seinerzeit ihre eigene Kunst aufnahm – einen Mix aus Dub, Jazz und Spoken Word Poetry. Mit 13 bekam er sein erstes Achtspurgerät -„Easy Easy“, der Opener seines Debüts oder Teile von „Crocodile“ mit seinen komplizierten Akkordwechseln waren damals längst geschrieben. Und so ganz nebenbei jagte er zu jener Zeit seltene Dubstep-Platten, hörte Piratensender. Mit 15 besuchte er die Brit School, die legendäre Pop-Eliteschmiede Londons. „Ich habe nicht besonders gut aufgepasst und irgendwann auch abgebrochen. Aber ich habe eine Menge gelernt, vor allem über Musikgeschichte und -soziologie.“ Nur die Stimme, die war noch nicht so, wie sie sein sollte. „Ich wollte immer klingen wie die Sänger der 50er-Jahre. Sweet Gene Vincent“, sagt er. Und er las. Eine Menge. Zum Beispiel Herman Melvilles „Moby Dick“ oder Charles Dickens‘ „Oliver Twist“:“Ich fing an, zu erkennen, wie wichtig ein einzelner Satz sein kann. Und wie oft in einem guten Buch die Perspektiven wechseln.“
Und heute? Macht ihm der Trubel Angst? Archy windet sich. Und sagt: Ja, es sei manchmal schon belastend mit der ganzen Aufmerksamkeit, und natürlich wisse man nicht genau, wie nachhaltig das alles sein würde. Manchmal sei der Hype und die damit einhergehende Selbstbeschäftigung ein Fluch, richtig zerstörerisch. „Viele Schreiber vergessen, dass Musiker nicht immer die selbstsichersten Typen sind. Man fühlt sich oft sehr unwohl, wenn man etwas über sich liest, dass man gänzlich anders empfindet.“ Manchmal habe er aber auch gelacht, weil er beim King-Krule-Hype exakt die gleichen Interviewanfragen bekommen habe wie seinerzeit als Zoo Kid. „Ich fand ein zweites Mal in den gleichen Spalten statt, innerhalb von ein, zwei Jahren. Die Leute müssen das doch bemerkt haben“!
Aber vor allem ist Archy Marshall stolz. Weil er sein Debüt, so simpel das klingt, mag. Und weil es keiner schaffe, ihn und die Musik seiner ersten Platte in irgendeine Schublade zu stecken, wo sie auch reinpasste. „Wenn man sieht, dass die Leute sich schwertun, die Musik zu kategorisieren, bedeutet das nur Gutes. Es heißt, dass man etwas macht, das originell ist.“ Um ein wenig zu helfen, erfand er selbst einen Genrenamen. „Blue wave glue wave“ nennt er sein Klangbild. Die Erklärung: Wenn er gerade nicht traurig ist, fühle er sich klebrig. Nicht vom Flecke kommend.
Traurig ist er recht häufig. „Ich kann nicht über Gefühle sprechen. Also nähere ich mich meinen Problemen, indem ich Songs schreibe. Und indem ich sie dann vor einem Publikum spiele. Das macht mich stark, das ist mein Katalysator.“ Und das Klebrige? „Ein kleiner Witz“, sagt er und lacht, weil er weiß, dass er sehr wohl vom Fleck kommt und dass der Satz ebenso Tiefstapelei ist wie seine Behauptung, er würde eigentlich kein Instrument richtig beherrschen. Der Typ arrangiert schließlich die Bläser selbst, nachzuhören im messerscharfen „A Lizard State“, vielleicht dem besten Song der Platte.
Albumkritik S. 97