Der Schein trügt. Wer hinter den Denkern von Semisonic spröde Kopfnaturen vermutet, der irrt gewaltig. In ihren Songs nämlich regiert von jeher das Spiel mit der Erotik.


Dan Wilson ist der Traum aller Schwiegermütter: ein charmanter Frühdreißiger, der seit Mitte der 90er Jahre als Mastermind einer außergewöhnlichen Band fungiert – Semisonic. Das Trio aus Minneapolis verbirgt seinen musikalischen Ansatz schon im Namen – leise und verhalten, aber doch nicht ohne Ecken und Kanten tönt der Dreier. Und damit haben es Dan und seine Mitstreiter lohn Munson (Bass) und Jake Slichter (Drums) weit gebracht, zumindest in den USA. Dort gelten Semisonic seit dem ’98er-Bestseller „Feeling Strangely Fine“ als veritable Größe unter den Popmusikanten. Wohl auch deshalb, weil die Band keinen handelsüblichen Alternative Rock anbietet, sondern das fortsetzt, was in den 80ern von R.E.M. oder den Replacements ausging: Spielwitz und akzeptable Texte.

Kein Wunder, Semisonic sind Kinder des College-Rock. Ihre Heimatstadt Minneapolis gilt neben Boston als Hochburg der einschlägigen Szene „Nicht erstaunlich“, lacht Dan, „hier ist es sechs Monate im Jahr so kalt, dass du kaum nach draußen kannst. Also stürzt du dich auf handwerkliche Arbeiten, oder du schreibst Songs. Und was die 80er angeht, das war eine wirklich aufregende Zeit.“ Wilson muss es wissen, denn damals, noch an der Highschool, gründete er die Band Trip Shakespeare, veröffentlichte mit ihr zwei Alben und durfte sogar mal in Princens legendären Paisley Park Studios aufnehmen: „Wir waren fast drei Monate dort, aber in all der Zeit hat Prince nicht ein Wort mit uns gewechselt. Wir haben ihn immer wieder auf dem Gang getroffen. Aber er hat uns völlig ignoriert.“

Genau wie der gemeine Musikkonsument. Denn auch nach der Umbenennung von Trip Shakespeare in Semisonic blieb der gewünschte Erfolg aus. Im ersten Anlauf jedenfalls. Das Debüt-Album („Great Divide“/1996) lag wie Blei in den Regalen. Was im Nachhinein nicht weiter verwundert: Denn statt wie Green Day, Offspring, Foo Fighters oder Smashing Pumpkins flotte, freche Songs mit großem Radio-Appeal zu schreiben, schufen Semisonic lieber verquere kleinen Popjuwelen, die zwar handwerklich solide waren, aber nicht wirklich kommerziellen Appeal besaßen. Dabei ließ die Plattenfirma nichts unversucht, um das Trio zu pushen. Mit Auftritten bei Festivals etwa und langen Promotionreisen. Zunächst jedoch vergebens. „Ich hatte wirklich gedacht, das Album sei voller Hits“, erzählt Dan Wilson rückblickend, „aber irgendwie war ich wohl der Einzige, der das so empfunden hat. Wahrscheinlich waren wir einfach zu simpel und zu nett.“ Das nahm der Songwriter sich zu Herzen. Und zwar so sehr, dass er fürs nächste Werk gleich einen Ohrwurm nach dem anderen verfasste: „Closing Time“, „Never You Mind“, „Secret Smile“, „She Spreads Her Wings“. Opulente Popsongs allesamt, die von gefühlvollen Melodien, cleveren Arrangements, ergreifenden Refrains und last but not least auch von spannenden Inhalten leben. Denn bei allem Wohlklang: Unter der schönen Oberfläche brodelt es gewaltig. Wilson singt von sexuellen Fanta- sien und genüsslich begangenen Sünden. Zurück-haltend und dezent zwar, aber trotzdem frivol.

Das Spiel mit der Erotik ist längst zum Markenzeichen von Semisonic geworden. Auch ihr neues, drittes Album („All About Chemistry“/s. Seite 73) ist voll davon. Die Erklärung dafür ist vergleichsweise simpel. „In den letzten lahren“, so Wilson, „war unser Leben eine einzige große Party. Und dabei ist eben auch immer eine gewisse Portion Lust im Spiel gewesen.“ Hausgemachte, möchte man meinen, denn Wilson ist seit fünf Jahren verheiratet und Vater einer kleinen Tochter. Sein jüngstes musikalisches Kind, „All About Chemistry“ eben, wartet derweil mit ein paar wichtigen Neuerungen auf: von Samples und Loops bis hin zum Einsatz von Streichern, Klarinetten und Klavieren.

Die Mischung macht’s. Und was dem weiteren Erfolg von Semisonic sicher auch nicht abträglich sein dürfte, ist die Tatsache, dass die US-Ikone Carole King auf dem neuen Album ein Gastspiel gibt. Unterm Strich ist denn auch Dan Wilson zufrieden: „Früher hatten unsere Songs etwas von einem kunstvollen 16-Millimeter-Film in Schwarz-weiß. Diesmal dagegen erinnern sie eher an einen großzügigen Farbfilm mit viel Dynamik. Es sind eben Lieder, die frisch und spannend klingen und nichts mit diesem langweiligen Modem-Rock-Ding zu tun haben.“ Aus gutem Grund, denn gegen Kategorien und Schubladen wehren Semisonic sich schon seit Jahren. Mehr noch: Mit ihrer offenkundigen Vorliebe für Velvet Underground, Beatles und Beach Boys bilden sie fast schon so etwas wie eine musikalische Opposition.

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